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Laufberichte

Allegra im Engadin!

 

Wer ihn kennt, den Herrn Chefredakteur, schätzt seine Prinzipientreue. Doch auch scheinbar eherne Grundsätze werden schon mal über Bord geworfen, wenn Außergewöhnliches geboten wird. So sind auf der M4Y-Seite exakt drei sog. Unterdistanzläufe verzeichnet, also mit Streckenlängen unterhalb der magischen 42,195 km. Dazu gehört der Engadiner Sommerlauf, der, seitdem ich erstmals davon mitbekam, in meinem Kopf herumspukt.

Halbwegs nah zu unserer diesjährigen Sommerurlaubsdestination Allgäu gelegen, machen wir auf der Heimreise einen Abstecher ins Schweizerische und wollen vor Ort erkunden, was denn so Besonderes veranstaltet wird. Allegra (Willkommen!) heißt es hier auf bündnerromanisch, der Hauptsprache im Engadin. Eine Chance, sich nicht direkt pudelwohl zu fühlen, besteht eigentlich nicht.

Daß das Laufen bei den Eidgenossen besonderen Spaß macht, habe ich bei meinen bisherigen Teilnahmen in Biel, Davos, Zermatt und Interlaken bereits zur Genüge kennenlernen dürfen. Auch ist uns das rätoromanische Engadin, ein 80 km langes Hochtal (1.600 – 1.800 HM) im Kanton Graubünden nicht völlig unbekannt, denn hierher haben wir bereits vor Jahren mal einen Tagesausflug von Davos aus über den Flüelapaß gemacht. Insbesondere die vom Inn durchflossene Oberengadiner Seenplatte, die im Zentrum der heutigen Aktivitäten steht, hatte es uns dabei angetan.

25,2 km sieht der Hauptlauf vor, die sich von Sils entlang des  Silser-, Silvaplaner-, Champfèrer und St. Moritzersee nach Samedan (sprich: Samaden, Betonung auf der zweiten Silbe) erstreckt. Selbst wenn Du noch nie von Sils oder Samedan gehört hast, St. Moritz als mondänen Ferienort der Schönen, Reichen und ganz schön Reichen ist den meisten und auch sicher Dir bekannt.

 

 

Von unserem schönen Hotel chesa surlej in Surlej, gegenüber dem Ort Silvaplana gelegen, erkunden wir per Pedes und Seilbahn die unmittelbare Umgebung. Dies gestaltet sich auch gerade per Seilbahn ausgesprochen preisfreundlich, da deren Nutzung ab einer zweiten Übernachtung im Herbergspreis inkludiert ist. Das haben wir in den vergangenen beiden Wochen durchaus anders erlebt. Ein zusätzliches Erlebnis besonderer Güte bescherte uns der Veranstalter in Form des Vertical Sommerlaufs, den ich am Vortag über 5,5 km und stolze 980 Höhenmeter unter die Füße genommen und über den ich auf trailrunning.de berichtet habe.

Der heutige Lauftag beginnt mit einer für uns schönen Überraschung, denn der nette Hotelmanager des chesa surlej, Kay Hempel, hat seine Angestellten eine Stunde früher aus dem Bett geklingelt und bietet das komplette Frühstücksprogramm bereits ab 6 Uhr an. Vorbildlich, denn so geraten wir nicht im Ansatz in Hektik. Wie organisieren wir die Anfahrt zu zwei unterschiedlichen Startorten und wieder zurück vom gemeinsamen Ziel? Schön ist die Möglichkeit, am Lauftag Bahn und Busse mit der Startnummer kostenlos nutzen zu können. Jochen Seybold und ich, beide mit laufenden Gattinnen, sind vermutlich nicht die einzigen, die folgenden Weg wählen: Die für den 25,2 km-Hauptlauf gemeldeten Männer (Startzeit 10 Uhr) fahren zunächst die Damen mit dem Auto an den Startort des 11,7 km langen Muragl-Laufs nach Pontresina (Start um 9:15 Uhr), von dort weiter zum Ziel in Samedan und parken das Auto ebenda. Vom Ziel geht es dann völlig problemlos und zügig per Bahn nach St. Moritz und mit dem Bus weiter nach Sils zum Start. Zur Nachahmung empfohlen!

Knackig kalt ist es morgens noch, bei erfrischenden vier Grad machen wir uns in Surlej auf die Socken und in Sils ist es im Schatten kaum wärmer. Jedoch strahlt die Sonne bereits vom Firmament und heizt so ausreichend ein, daß die Anzugsordnung nur „Kurz“ lauten kann. Zudem bringt Kathrin als Animateurin von der Bühne aus alle Bewegungswilligen auf Betriebstemperatur und so die noch etwas müden Glieder in Schwung. Die Wechselkleidung geben wir vor dem Start an einem Lkw ab und bewundern noch kurz die sich einlaufenden schwarzen Gazellen. Auch Simon Stützel ist dabei, mit dem ich mehrere Jahre im gleichen Verein war und der mit einer Marathon-PB von 2:17 Std. kurzfristig nachgemeldet hat. Mit zehn Minuten Rückstand wird er einen soliden 13. Platz belegen. Die unverwüstliche Renate Werz verlegt sich in höherem Alter zunehmend auf kürzere Strecken und strahlt mit der Sonne um die Wette.

 

 

Auf Los geht’s los und nach ein paar Startfotos reihe auch ich mich ein, aber nicht ohne die Startmatte wegen der Netto-Zeiterfassung zu versäumen. Durch eine Straße mit hübschen Häusern führt der Weg schnell am Flüsschen Fedacla an den Silvaplanerseee, den wir unmittelbar am Wasser auf einem gut zu belaufenden Kiesweg begleiten. Toll, genauso habe ich mir das heute vorgestellt. Schnell zieht sich das Feld auseinander und in meinem Abschnitt kann jeder unbedrängt seinem Vorwärtsdrang nachgeben. Beruhigt stelle ich fest, daß mir der gestrige Vertical Sommerlauf (Bericht auf trailrunning.de) in keiner Weise nachhängt und die Haxen brav, ohne zu maulen, ihren Dienst verrichten. Herrlich ist auch immer wieder der Blick zurück: Läufer am Wasser vor blauem Himmel und hohen Bergen.  Das Leben ist schön.

Die zumindest für mich große Überraschung läßt nicht lange auf sich warten: Eine kurze, durchaus knackige Steigung führt uns in den Wald parallel des Sees. Offensichtlich habe ich mich im Vorfeld nicht genau genug mit der Strecke auseinandergesetzt und staune Bauklötze, die ersten Mitstreiter verfallen bereits in den Wanderschritt. Wieder bergab befinden wir uns bald erneut direkt am See und können, je nach individuellem Anstrengungsgrad, das tolle Panorama genießen. Wer wie ich mit Fotoapparat unterwegs ist, scannt sowieso ständig die Umgebung nach dem nächsten, netten Motiv ab. Schon sind die ersten fünf Kilometer abgehakt und Bekanntes rückt näher.

 

 

Eine kleine Brücke, zurzeit Baustelle, verbindet Silvaplana und Surlej (wo wir derzeit wohnen) und trennt den Silvaplaner- vom Champférsee. Kurz vor der Brücke grüßt majestätisch das aus der Burgenromantik stammende Castello Crap da Sass. Es wurde in den Jahren 1904 bis 1906 für den deutschen General Graf von der Lippe errichtet und ist mit einem reichen Jugendstil-Interieur ausgestattet. Das Kleinod gilt als eines der bedeutendsten Beispiele späthistoristischer Architektur in Graubünden, leider ist es privat und kann nicht besichtigt werden. Allerdings wäre der jetzige Zeitpunkt dafür ohnehin eher wenig geeignet. Hier gab es übrigens beim „Skiservice Corvatsch-Sprint“ für die schnellste Läuferin oder den schnellsten Läufer eine komplette Running-Ausrüstung von ASICS im Wert von CHF 430 zu gewinnen. Der siegreiche Äthiopier, Daba Temesgen, hat sich darüber (falls er schon hier vorne lag) neben dem Preisgeld von CHF 400 bestimmt sehr gefreut. Den Streckenrekord seines Landsmannes Faisa Dame Tasama von 1:18:10 Std. konnte er aber nicht gefährden. Auch bei den Damen ist er nicht gefallen.

Weiter geht es am Champférsee entlang, wo man uns nach etwa sieben km zum ersten Mal verpflegt (Schwämme, Wasser, Iso). Wunderbar ist wieder der Blick zurück, zum jetzigen Zeitpunkt könnte das ewig so weitergehen. Dann komme ich sogar noch zu einem persönlichen Fan, denn überraschend steht Wolfgang Kindle, der gemeinsam mit uns im chesa surlej Hotel übernachtet und sich mit mir gestern zum Freien Fall hochgequält hat, an der Strecke. Den Champférsee haben wir dann bald hinter uns und laufen am Inn weiter. Richtig gelesen, am Inn! Ja, DEM Inn, denn der entspringt beim Malojapass in 2.484 m Höhe nahe dem Lunghinsee. Im Oberengadin wird er bis zum Zusammenfluss mit dem größeren Flaz auch Sela genannt und durchfließt zunächst den Silser-, den Silvaplaner-, den Champfèrer- und den St. Moritzersee.

Auf der anderen Innseite beglückt uns die nächste Steigung, die viele zum Marschieren nötigt. Ich habe mich auf ein flaches Rennen ohne Gehen eingestellt, daher ist das für mich keine Option. Frl. Suunto spricht hinterher von insgesamt rund 150 Bergauf- und 250 Bergabmetern. Wir nähern uns dem mondänen St. Moritz und kommen an einem Riesenspektakel vorbei, nämlich dem CSI St. Moritz, wo sich gerade die weltbesten Springreiter messen. Es ist das höchstgelegene Fünf-Sterne-Reitturnier Europas und bietet spannenden Pferdesport mit attraktiven Springprüfungen und begeisternden Shows in der einzigartigen Umgebung der Engadiner Bergwelt. Vor dem mondänen Kempinski Grand Hotel des Bains gibt es zum zweiten Mal Atzung.

 

 

Der nächste Abschnitt ist optisch nicht ganz so prall, sobald wir aber, immer am Inn entlang, den St. Moritzersee erreichen, wird es wieder gewohnt attraktiv. Aus der Ferne übers Wasser und in der Sonne gesehen wirkt die Metropole der Schönen, Reichen und ganz schön Reichen netter als in der Realität. Bald schon ist auch der St. Moritzersee für mich Geschichte und die nächste ordentliche Steigung in Sicht, die so manchem schon erkennbar den zumindest vorletzten Zahn zieht. Frisch gestärkt geht es wieder in den Wald. Mein grünes Herz rebelliert beim Anblick der Abfallbehälter: Kunterbunt liegen dort Plastik- (PowerBar) und Pappbecher (Wasser, COOP) durcheinander, die vermutlich nicht sortiert und daher gemeinsam im Restmüll landen werden. Klar, man nimmt natürlich, was die Sponsoren bieten, aber ein einheitliches Bechermaterial wäre aus ökologischer Sicht sicherlich sinnvoll. Die gebrauchten Schwämme machen das Ganze nicht besser.

 

 

6 Seen, 6 Gemeinden, 6 Jahre bis zum Jubiläum: Seit 2013 übernimmt jede der sechs Gemeinden an der Strecke das Patronat über die Veranstaltung. Dieses Jahr ist es Celerina, auf das wir langsam zusteuern. Und nicht nur das, es findet nämlich auch auf der Strecke ein Wettbewerb statt: Gewonnen hat die Gemeinde, die, gemessen an ihrer Einwohnerzahl, die meisten Läufer aktiviert. Als Preis winkt ihnen ein gemeinsamer Badetag OVAVERVA Hallenbad, Spa und Sportzentrum in St. Moritz.

Es folgt ein wunderbarer, längerer Abschnitt auf gewundenem Pfad durch den Stazer Wald und, unter den Gleisen der Räthischen Bahn hindurch, der Abstieg in Richtung Pontresina, von wo die Muragl-Läufer gestartet sind. Namengebend für den kleineren Bruder unseres Laufs ist der Muottas Muragl, ein beliebter Ausflugsberg. Vorher jedoch können wir am kleinen Stazersee nochmals auftanken. Sehr schöne Wald- und Wanderwege bringen uns zur Ortschaft Celerina/Schlarigna, wo wir, schon in Reichweite des Ziels, nach gut 20 km wieder mit Flüssigem und Eßbarem versorgt werden.

 

 

Schon von weitem sehen wir einen Turm ohne Dach, der zur Kirche San Gian (Johannes) gehört. Ein Blitzschlag hatte den größeren der beiden Türme 1682 schwer beschädigt, er wurde nie mehr vollständig erneuert, sondern zuerst aus finanziellen, dann aus grundsätzlichen Gründen in diesem denkmalartigen dachlosen Zustand belassen.

Vollständig flach geht es durch eine weite Wiesenlandschaft weiter. Das Geräusch eines laufenden Aggregats am Werbebogen des Mineralbads und Spas Samedan irritiert mich, doch bevor ich es geistig durchdringen kann, bin ich durch die eingebaute Dusche schon vom Wasser durchdrungen. Eine nette Idee! Wieder am Inn, lasse ich den finalen VP aus. Entlang des Flusses schleppen sich die letzten (Nordic) Walker des Muragl-Laufs dahin, die zu diesem Zeitpunkt die ihnen maximal zugestandene Zeit von zwei Stunden schon weit überschritten haben, aber dennoch tapfer die letzten Meter unter die Füße nehmen. Ich bewundere den Schlussradler, der alle Mühe hat, nicht vom Rad zu fallen. Die Zuschauerdichte nimmt deutlich zu und dann ist schon die Moderation aus der nahen Promulins Arena zu vernehmen, einem Sportzentrum, in dem auch die Startnummernausgabe nebst einer Sportmesse stattfand.

 

 

Eingangs des Sportplatzes mit Kunstrasen steht eine mir bekannte, mobile, aus einer Person bestehende Fangruppe, die zum Amusement der Umstehenden von mir natürlich gebührend begrüßt wird. So viel Zeit muß schließlich sein. Eine halbe Ehrenrunde später ist der 38. Engadiner Sommerlauf leider – wirklich! – für mich nach 2:23 Std. Geschichte. Es gibt zwar eine gute Zielverpflegung, nicht jedoch das versprochene T-Shirt. Warum nicht? Schon bei der Anmeldung teilte man uns mit, daß die komplette Lieferung gestohlen worden sei, aber man wird uns aufgrund einer Neuanfertigung im November ein schönes Adventsgeschenk bereiten. In jeder Hinsicht ist das für die Organisatoren höchst ärgerlich und kostenintensiv.

Fein war’s! „Laufen, wo Spitzenathleten trainieren.“ Mit diesem Motto werben die Veranstalter für diesen Lauf, und in der Tat bietet das Höhentraining ideale Bedingungen für die Vorbereitung auf einen Herbstmarathon. In Verbindung mit ein paar Tagen Urlaub ist gerade die Kombination des neuen Vertical Sommerlaufs mit dem Hauptlauf eine runde Sache, die in dieser phantastischen Landschaft sehr viel Freude bereitet. Die Erfolgsgeschichte wird weitergehen. Nicht nur ich bin gespannt, was man sich für das vierzigjährige Jubiläum im übernächsten Jahr Besonderes wird einfallen lassen. „Grazcha fich per Vossa visita!“ ruft man uns zum Abschied zu. Nicht umsonst, denn hierher kehrt man gerne zurück.

Strecken:
25,2 km mit rund +150/-250 Höhenmetern beim Engadiner Sommerlauf, Zeitlimit 4 Stunden. 11,7 km beim Muragl-Lauf.

Startgebühr:
Je nach Anmeldezeitpunkt CHF 50 / € 46 bis CHF 70 / € 66 (Engadiner Sommerlauf) bzw. CHF 35 / € 31 bis CHF 55 / € 51 (Muragl-Lauf).

Auszeichnung/Leistungen:
Im Startgeld inbegriffen sind für alle Startnummer mit Einweg-Chip und Name, kostenloser Bustransfer, Shirt, Verpflegung an den offiziellen Verpflegungsposten, Sanitätsdienst, Effektentransport vom Start zum Ziel, SMS-Resultatservice, ein ERDINGER Alkoholfrei für alle klassierten Teilnehmenden im Ziel, Massage.

Zuschauer:
Zahlreiche, macht Spaß.

 

Informationen: St. Moritz Running Festival
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