Stell dir vor, jemand schlägt dir einen Marathon vor, bei dem du im garstigen November schon Stunden vor dem Start, Wind und Wetter ausgesetzt, auf dem Startgelände ausharren musst. Bei dem du sodann auf endlosen Geraden durch eine endlos gleichförmige Stadtlandschaft läufst. Und für den du dann auch noch, je nachdem, wo und wann du dich anmeldest, mindestens 240 € Startgeld zahlen darfst.
Dann wirst du in der Sprache unserer Zeit vielleicht sagen: „Ich bin doch nicht blöd!“ und dein Gegenüber mit einem verständnislosen Blick strafen.
Wenn du dann erfährst, dass sich für eben diesen Lauf alljährlich um die 100.000 Menschen bewerben, wirst du wahrscheinlich nur ungläubig den Kopf schütteln.
Aber wenn man dir dann noch sagt: das ist New York! Dann wird wahrscheinlich ein Lächeln über dein Gesicht huschen, sich dein Blick verklären und du wirst sagen: Ach so – das ist natürlich etwas anderes! Marathonlaufen in New York, das ist mein Traum.
Eine typische erste Frage, wenn jemand erfährt, dass du Marathon läufst, ist: Und warst du schon in New York? Dieser Marathon hat etwas geschafft, was kein anderer Marathon geschafft hat: Er ist zum Mythos, zum Inbegriff des Marathons geworden. Da kann Boston noch so viel Tradition, Berlin eine noch so schnelle Strecke aufweisen – an New York kommt man irgendwie nicht vorbei. Auch ich nicht, auch wenn es immerhin 30 Marathons gedauert hat, bis ich mich der Anziehungskraft dieses Kults ergebe.
Dass der New York Marathon (NYM) eine derartige Entwicklung nehmen würde, hat sich Fred Lebow wohl nicht träumen lassen, als er 1970 den ersten Marathon, damals ausschließlich durch den Central Park führend, initiierte. Von 127 Startern, die einen Dollar Startgeld zahlten, kamen gerade einmal 55 ins Ziel. Der Durchbruch gelang ihm und dem Lauf 1976. Mit der Verlegung der Strecke auf den auch heute noch zu laufenden Punkt-zu-Punkt-Kurs über fünf Brücken und durch die fünf Stadtbezirke (boroughs) New Yorks legte er den Grundstein für die Weiterentwicklung zum Megaevent. Ab da entwickelten sich die Teilnehmerzahlen rasant: 1976 waren es schon über 2000, 1979 über 14.000, 1994 wurde erstmals die 30.000er-Marke genommen. Die 43.660 Finisher zum 40jährigen Jubiläum 2009 stellten Weltrekord dar. Und der die Amis ein bisschen kennt, der weiß: Sie lieben Rekorde, vor allem die eigenen.
Auch läuferisch wurde hier schon einmal Weltrekord erzielt, aber das ist schon etwas länger her. Dafür ist die Strecke einfach zu profiliert. 1978 gelang das der Lauflegende Grete Waitz und zudem das einmalige Kunststück, bis 1988 neun Mal die Frauenkonkurrenz für sich zu entscheiden. Aber auch ohne Weltrekorde ist ein Sieg in New York in der allgemeinen Wertschätzung mehr wert als jeder andere Marathonsieg. Und das weiß auch der aktuelle Weltrekordhalter Haile Gebrselassie, bislang treuer Starter in Berlin, 2010 aber gleichfalls dem Kult (und vielleicht auch ein bisschen dem Mammon) erlegen. Jedenfalls hat er sich damit zum Zugpferd des 41. NYM aufgeschwungen.
Bei diesem Kultstatus wundert es nicht, dass auch der Andrang ausländischer Läufer in New York besonders hoch ist. So etwa wäre der New York Marathon, wenn man allein den Anteil deutscher Finisher betrachtet, größenmäßig einer der Top 10-Marathons in Deutschland. Allerdings belegen die 2.147 Deutschen in der Ausländerstatistik für 2010 nur Rang 4: Noch mehr Zieleinläufer kommen aus Italien (3.559), Frankreich (3.260) und Großbritannien (2.218) an. Dort läge der Lauf so gesehen im Landesranking noch sehr viel weiter vorn. Rekord ist auch die die Zahl der vertretenen Nationen: 107 waren es 2009, von Bhutan bis Swaziland. Statistik-Fetischisten sei im Übrigen die Homepage des NYM nahegelegt, die auch in dieser Hinsicht einen reichen Fundus bietet.
Die Teilnahme am New York Marathon ist nicht nur (deutlich) teurer als üblich, sondern der Weg auch ein bisschen steiniger. Garantiert erhält man einen Startplatz nur, wenn man besonders fix zu Fuße ist (z.B. als 45jähriger Mann eine Zeit unter 3:10 nachweisen kann), langjähriger Stammgast war oder sich durch großzügige Spenden bzw. Spendensammlung qualifiziert. Letzteres klingt anrüchiger als es ist, wenn man bedenkt, dass das soziale Netz der USA sehr viel dünner als bei uns geknüpft ist, dafür der „Charity“-Gedanke in der Veranstaltungswelt einen ganz anderen Stellenwert hat. Als ausländischer Läufer ist ein Startplatz auch dann sicher, wenn man ein Reisepaket bei einem der zugelassenen Veranstalter bucht. In Deutschland sind das nur fünf. Wie viele wähle auch ich diesen letztlich bequemsten Weg und vertraue mich Ali Schneider an, im Dunstkreis von München eine bekannte Adresse für Marathonreisen. Alle Übrigen müssen sich erst einmal für 11 US$ bewerben und dann hoffen, im Rahmen einer Lotterie zu den Auserwählten zu gehören.
„Think big“ gilt in New York nicht nur für den Marathon, sondern auch für das ganze Drumherum.
Das fängt schon mit der Marathonmesse im Jacob Javits Convention Center an. Mehr breit als hoch erstreckt sich der aus Stahl und dunkel getöntem Glas gestaltete Komplex etwas abseits des Rummels in Midtown Manhattan am Hudson River. Das größte US-amerikanischen Ausstellungs- und Kongresszentrum ist gerade die rechte „location“ für eine Großveranstaltung wie den NYM. Drei Tage lang, von Donnerstag bis Samstag, hat die Messe in der riesigen Halle 3E ihre Pforten geöffnet.
Für die Läufer gehört der Besuch zum marathonischen Pflichtprogramm, häufig verbunden mit einer ersten Ausdauerprüfung. Denn wer nicht als “early bird” zur Messe kommt, darf gleich eine weitere Vorliebe der Amerikaner kennen lernen: Das kultivierte Schlange stehen. Wie wohl kein anderes Volk haben sie dabei eine wahre Kunst darin entwickelt, dem Wartenden in einer Menschenschlange das Gefühl zu vermitteln, dem Ziel nicht mehr fern zu sein, auch wenn das Gegenteil der Fall ist. Dies gelingt ihnen unter anderem dadurch, indem sie aus mobilen Pfosten und Bändern kreative Labyrinthe anlegen und diese im Bedarfsfall auch noch um bzw. durch diverse Ecken und Räume führen, sodass man nie die gesamte wartende Menschenmenge sieht. In diesem Parcours wird man ständig in Bewegung zu halten, auch wenn der Weg zum Ziel gefühlsmäßig letztlich meilenlang ist. Perfektioniert habe ich das in Disneyland erlebt, aber auch bei der Ausgabe der Startnummern ist diese Begabung durchaus zu spüren. Der Vorteil: Niemand drängelt, niemand meckert, ganz im Gegenteil: Die Wartezeit wird kommunikativ überbrückt. Die gefühlten „Meilen“ hake ich als vormarathonisches Grundlagentraining ab.