Mein erster Marathon des Jahres 2006 führt mich nach Kevelaer, eine 30.000 Einwohnerstadt am Niederrhein, unweit der holländischen Grenze. Obwohl der Honigkuchenmann Marathon erst zum vierten Mal stattfindet, ist er schon zum Fixpunkt für viele Läuferinnen und Läufern aus ganz Deutschland und dem benachbarten Ausland geworden.
Der veranstaltende Verein, die LLG Kevelaer ist noch jung (1995 gegründet) und die Mitgliederzahl noch nicht allzu groß. Um dennoch einen Marathon stemmen zu können, hat man sich für einen 6 km-Rundkurs entschieden, der sieben Mal durchlaufen wird. Normalerweise zumindest für mich keine so prickelnde Idee. Nach meinem ersten Marsch auf solch einem Kurs in den 80er Jahren in Polleur (immerhin 10 km-Runden) habe ich mir geschworen, um solche Veranstaltungen künftig einen großen Bogen zu machen. Bis Sonntag habe ich meinen Schwur gehalten. Dann habe ich dem Drängen und Zureden einiger Lauffreunde und der eigenen Neugier nachgegeben.
Das Start- und Zielgelände ist außerhalb von Kevelaer an und in der Jugendherberge am Michelsweg. Damit liegen die Veranstalter schon mal richtig. Die moderne Jugendherberge bietet nämlich eine perfekte Infrastruktur für eine Veranstaltung in dieser Größenordnung. Angefangen von den Parkplätzen, Duschen, Toiletten und Umkleiden ist bis zu Übernachtungsmöglichkeiten und Gastronomie alles vorhanden. Die rührige Herbergsmutter Sigrid Schloms hat mit ihrer Familie und den Helferinnen alles im Griff und sorgt für einen perfekten Service.
Ich bin zum ersten Mal in einer Jugendherberge. Nach dem „Einchecken“ nehme ich die Bettwäsche in Empfang und bekomme den Waschraum, die Toiletten und das Zimmer gezeigt. Erinnerungen an meine Bundeswehrzeit werden wach. Wie man das Bett bezieht, fällt mir aber erst nach einigen Fehlversuchen wieder ein. Und auch dann sieht mein Bettenbau noch so aus, dass mir der Spieß das Wochenende gestrichen hätte.
In einem separaten Raum ist für das Nachtessen sehr schön und liebevoll eingedeckt und im Flur ein Buffet aufgebaut. Es gibt zweierlei Nudeln mit verschiedenen Soßen und Salate, alles für 5 Euro und so viel jeder will. Die von weither angereisten sind komplett versammelt, unter ihnen viele Freunde und Bekannte und auch Stefan Schlett, einer der extremsten Extremsportler. Er unterhält uns den ganzen Abend mit seinen unglaublichen Geschichten und Abenteuern. Seine Schilderungen sind frei von jeder Prahlerei, dafür fundiert und detailliert.
Beim Frühstück, es gibt Kaffee oder Tee, frische Brötchen, Wurst und Marmelade, geht es gleich weiter. Stefan wird gelöchert und muss erzählen. Ich glaube, er ist froh, als es nach draußen geht um das tun, weshalb wir hier sind: laufen.
Auch kurz vor dem Start finden die Anreisenden noch einen Parkplatz unmittelbar vor der Jugendherberge. Es ist nicht ganz so kalt, wie die Tage zuvor. 3 bis 4 Grad im Plus werden es wohl sein. Hochnebel verdeckt die Sonne, Wind geht kaum. Ideal zum Laufen. Den Gesprächen ist zu entnehmen, dass die meisten ihren Spaß wollen und bestenfalls einen langen Trainingslauf absolvieren wollen. Genau so sehe ich das auch. Allerdings bin ich bis zu diesem Zeitpunkt noch mit dem Vorurteil behaftet, dass so ein Rundenrennen eher was für Hunde ist.
Wir gehen ein paar Schritte zum Start. Laurenz Thissen sorgt als sachkundiger Moderator und Motivator für gute Laune und pünktlich um 10.00 Uhr geht es los. Nach wenigen Minuten, die Teerstraße wird für ein paar 100 Meter zum Naturweg, kommen wir zum Stützpunkt des KSV LWT Kevelaer. Laute Musik dröhnt aus den Lautsprechern, unterbrochen von den launigen Kommentaren der Sprecherin. Dann kommt auch schon eine erste Verpflegungsstelle und es geht rechts herum, vorbei an Felder und Wiesen zum Ortsteil Winnekendonk. An der scharfen Linkskurve stehen jede Menge Zuschauer und feuern uns an. Viktoria Winnekendonk hat die Verpflegung und das Unterhaltungsprogramm übernommen und das machen sie großartig.
Jetzt geht es eine lange Gerade zunächst noch über Felder und Wiesen, später am Waldrand entlang bis zur nächsten Verpflegungsstelle, die genau gegenüber der ersten platziert ist. Wir laufen jetzt das erste Stück des Rundkurses in Gegenrichtung zurück zum Start, wo der Wendepunkt ist. Obwohl uns jetzt jede Menge Läuferinnen und Läufer entgegen kommen, wird es nie zu eng.
Gut, dass die Veranstalter nicht dem Lockruf des Geldes erliegen und es bei der Limitierung auf 333 Teilnehmer belassen. Bei dem Andrang ließen sich bestimmt 100 Startplätze mehr verkaufen. Ob dann aber immer noch alle Läuferinnen und Läufer so zufrieden dreinschauen wie jetzt?
Ich mache meine Wende nach knapp 40 Minuten und schließe mich Bernhard an, um ein „Schwätzerle“ zu machen. Dabei verlieren wir nicht die Entgegenkommenden aus den Augen, um keinen Bekannten zu übersehen. Wieder kriegen wir durch fetzige Rockmusik neuen Schwung, stärken uns an der Verpflegungsstelle und verlassen die Pendelstrecke rechts Richtung Winnekendonk. Die zweite Wende machen wir wieder nach knapp 40 Minuten. Ich will Bernhard testen und sage: „Auf geht’s zur vierten Runde.“ „Kannst Du nicht zählen, oder willst Du bescheißen?“ antwortet er mir augenzwinkernd. Für alle Fälle ist kurz vor der Wende eine Videokamera aufgebaut, die unbestechlich alles aufzeichnet. Wer trotzdem schummeln will, findet einen Weg, wie überall.
Mit Sicherheit würde ich bei einer großen Schleife nach 10 – 15 Kilometern kaum eine Läuferin oder Läufer mehr sehen und ein einsames Rennen laufen. Hier ist dauernd was los. Übersehe ich einen Bekannten, werde ich durch Zuruf aufmerksam. Weil ich Angst habe, die Langeweile würde mich umbringen, habe ich mein Weihnachtsgeschenk eingesteckt: Handy mit Radio, den WDR 2 habe ich gestern schon gespeichert. Es steckt auch noch in meiner Tasche, als ich nach weiteren 39 Minuten auf die vierte Runde gehe.
Ein Einheimischer erzählt mir etwas über Kevelaer und seine Bedeutung als Wallfahrtsort. Gegen Weihnachten 1641 hörte ein einfacher Kaufmann namens Hendrick Busman während eines Gebets dreimal die Aufforderung: „An dieser Stelle sollst du mir eine Kapelle bauen!“ Hendrick Busman war arm, dennoch führte er diesen Auftrag aus. Noch 1647 erkannte die Kirche Kevelaer als Wallfahrtsort an. 800.000 pilgern jedes Jahr zur Gnadenkapelle, wo viele Wunderheilungen passiert sein sollen.
Zwischenzeitlich habe ich mehrfach das Rennen an der Spitze verfolgen können. Besonders spannend ist es bei den Männern, wo Oliver Kenter und Tobias Junker lange zusammen laufen. Dann muss Tobias wohl mal in die Büsche, fällt zurück und wird dennoch Zweiter. Die Siegerin bei den Frauen, Kirsten van der Zwaag, sehe ich immer alleine laufen.
Ich sehe aber auch mehrmals Michael, der die ganze Strecke mit einem Ball am Fuß läuft. Ist das seine Strafe für einen verschossenen Elfmeter?
Die fünfte und sechste Runde habe ich dann das Tempo etwas forciert. Nur so, aus Spass. 36 Minuten jeweils - na also, geht doch. Die letzte Runde lasse ich es dann gemütlich ausklingen. Als ich den ersten Musikwagen passiere, steigt mir eine dicke Glühweinwolke in die Nase. Die Zuschauer haben mittlerweile eine richtig gesunde Gesichtsfarbe und die Stimmung ist noch besser geworden. Ich sehe da einen direkten Zusammenhang.
Auch in Winnekendonk stehen noch immer viele Leute an der Straße. Mittlerweile wird Karnevalsmusik gespielt. „Deine letzte? Klasse, gratuliere“, wird mir zugerufen. Längst habe ich mein Vorurteil weg geräumt und ich bin mit meiner Entscheidung, hier zu laufen, sehr zufrieden. Was die vergleichsweise wenigen Leute hier auf die Beine stellen, ist schon erste Sahne. Ich verstehe jetzt das Gerangel um die 333 Startplätze.
Schade finde ich, dass es im Ziel statt des Honigkuchenmannes einen Honigkuchen gibt. Der ist zwar genau so gut (und sogar größer), aber weniger originell.
6 km-Rundkurs, flach und bis auf ein kleines Stück asphaltiert.
Parkplätze unmittelbar beim Start und Ziel. Pasta-Party am Samstag in der Jugendherberge. Dort sind auch Duschen, Toiletten usw.
Drei Verpflegungsstellen auf dem Rundkurs. Es gibt Tee, Wasser, Cola, Bananen und Honigkuchen
manuell
Honigkuchen, Urkunde, T-Shirt für Frühanmelder