marathon4you.de

 

Laufberichte

Orschl im Ausnahmezustand

13.06.11
Autor: Joe Kelbel

Bis zum Horizont reichen die Parkplätz auf den brachliegenden Feldern. Vereinzelte, vergessene Fahrzeuge künden nicht von der Vernunft der Fahrzeugführer, sondern vom Ausnahmezustand in Orschl, wie Oberursel liebevoll genannt wird.

Links und Rechts der Bahnstrecke geben die meterhohen Absperrungen selten einen Blick frei auf das Schlachtfeld der letzten Nacht. Es ist schon hell, aber unter den vielen gleißenden Scheinwerfern wirken die Aufräumarbeiten wie eine Schwerstoperation nach einem Napalmangriff.

Dann öffnet sich das Spalier der Zäune, eine Haltestelle, die ersten Läufer steigen aus. Nur notdürftig abgedeckt sind die Buden, die die Strassen säumen. Polizei, Feuerwehr und andere Hilfskräfte wuseln dazwischen rum, als wären noch menschliche Reste unter den Planen versteckt. Die Türen schließen sich und die Bahn taucht wieder ein in den Tunnel aus Absperrungen und bunten Planen, die von Konzerten, unendlichen Parties und Sponsoren künden. Die nächste Haltestelle. Wieder steigen Läufer aus, und wieder die  Bilder, die meine Eltern damals nach meinen Parties im Keller vorfanden.

Ich fahre weiter. Oberursel  ist verbarrikadiert, als käme gleich der Hurrican Kathrina, dabei ist hier nur seit Freitag der Hessentag, aber was für einer! An der nächsten Haltestelle reisse ich auf Suche nach Nahrung die Bretterverkleidung von den Schaufenstern der Bäckerei... so oder so ähnlich muss es wohl gewesen sein. Auf jeden Fall gibt es für mich wieder eine grandiose nächste Nacht, aber erstmal wird gelaufen.

„Anspruchsvolle Strecke“. Sehr niedliche Bezeichnung für eine Marathonstrecke, die mit 490 HM  mal richtig „orschelt“.  „Du kannst die Steigungen auch gehen“ sagte Joey Kelly bei unserem Triningslauf letzen Monat. Doch ist das wirklich eine Option, wenn die Strecke von bekannten Gesichtern gesäumt wird? Wie wird es den 340 Marathonläufern und 1300 HM-Läufern ergehen, die nicht mit einer so harten Strecke rechnen? Deren Freunde und Verwandte an der Strecke stehen und das Äußerste verlangen?

Vom historischen Marktplatz aus geht es leicht abwärts durch die Altstadt. Im Dreißigjährigen Krieg wurde  die Stadt zweimal (1622, 1645) zerstört,  fast alle Häuser brannten ab, lediglich drei (das alte Rathaus, eine Bäckerstube sowie ein Wohnhaus nahe des Marktplatzes) wurden von den Flammen verschont. Dies ist die Ursache dafür, dass heute die ältesten Häuser in der Oberurseler Altstadt aus dem 17. Jahrhundert stammen. Aber sieht geil aus.

Wir biegen in die Oberhöchststädter Straß ein. Hier wurde 1977 der Vorstandsvorsitzende der Dresdner Bank, Jürgen Ponto in seinem eigenen Haus von der RAF ermordet. Hier dreht dann auch die Strecke und das Blatt. Durch die verkaterten Frittenbuden geht es steil hinauf. Für 8 Uhr morgens schon sehr happig.

Der Massgrund ist eine exzellente Wohngegend mit bestem Blick auf Oberursel. Im Massgrund begann die keltische Handelstrasse (Lindenstrasse, deren Restbezeichnungen noch in Oberursel zu finden sind).

Steil, sehr steil geht es hinauf. Bei km 4 etwa kommen wir an den drei Geschützstellungen Custine-Schanzen vorbei. Während der Koalitionskriege im November 1792, als die französischen Revolutionstruppen den Taunus besetzt hatten, wurden die Schanzen gegen die anrückenden Preußen und Hessen angelegt. Die von 4.000 Mann der französischen Armee errichteten Stellungen verfügten über freies Schußfeld über den Urselbach hinweg, an dem wir nun entlang laufen, nach Oberursel. (Das war vor dem Hinweisschild zum Friedhof).

An der Hohemark überqueren wir die  Strasse, die hoch zum Taunuspass führt. Als sie 1871 auf  einer uralten keltischen Strasse (vorher Lindenstrasse) gebaut wurde, wurde sie (was im Taunus bis dahin unüblich war) mit so festem Untergrund gebaut, dass auch schwere Fahrzeuge bei schlechten Wetterverhältnissen darauf fahren konnten. Die Einwohner befürchteten daraufhin den Transport von (ebenfalls schweren) Kanonen, und der Volksmund gab ihr den Namen Kanonenstraße. Noch heute ist sie strategisch so wichtig, dass sie von Sprengschächten für den Ernstfall durchlöchert ist.

Sämtliche Höhenwege (Kanonenstrasse, Rennstraße, Hühnerstraße (Chickenhighway) und Hessenstraße  sind uralte  Handelsstraßen, an deren Seiten zahllose Hügelgräber zu finden sind. Bezeichnungen wie Hühnerbergwiesen, Hühnfelden, Hühnstetten beziehen sich auf die Hühnenfelder, also Großgräberfelder, die allerdings aus der Zeit vor den Kelten (Hallstattzeit stammen). Obwohl sämtliche Gräber geplündert sind, kann man die zahlreichen Hügel noch links und rechts der nun folgenden Laufstrecke im Wald erkennen.

Hier auf der anderen Seite der Kanonenstrasse liegt die Stadt der Kelten, die vor über 2000 Jahren Europas größte Siedlung war (Heidetränk Oppidum). Von hier unten bis auf die Taunusspitzen reichte die Stadt. Auf jeder Kuppe des Taunus sind noch die Reste der Mauern der Fluchtburgen zu finden. Hier unten im Tal sind die Ausgrabungsstätten (vor etwa 100 Jahren) schon längst wieder überwuchert. Nur unscheinbare Tafeln zeugen von uralten Steinen, die in Amerika schon längst unter den Schutz eines Nationalpark ständen. Landgraf  Friedrich III ließ im 18 Jahrhundert hier auf der Suche nach Gold einen Stollen hoch zum Berg Goldgrube graben, doch die Kelten waren schneller. Als die Römer hier den Limes bauten, waren die Kelten (die Römer nannten sie Gallier) schon verschwunden.

Nach dem Wald geht es durch eine schöne Gartenlandschaft nach Oberstedten. Die Tannenwaldalle hoch, die der Landgraf bis hin zu seinem Jagd- und Lustschloß anlegen ließ. Heute wird das Schloß „Gotisches Haus“ genannt, aber Jagd- und Lustschloß gefällt mir viel besser! Die Kastanien der Tannenwaldallee werden allmählich gegen die ursprünglichen Pappeln ausgetauscht.

Die Tannenwaldalle geht nahtlos in die Elisabethenschneise über. Elisabeth war die Frau des Landgrafen und stammte aus England. Die Elisabethenschneise führt schnurgerade, kilometerlang hoch auf den Taunuskamm und durchbricht dort den Limes. Um die Elisabethenschneise gradlinig führen zu können, mussten 1822 Teile des damals Eschbachstein genannten Felsens abgesprengt werden. Seitdem trägt er den Namen Elisabethenstein. Zum Glück müssen wir nicht dort hinauf, vor dem Forellengut (dort gibts Stör, im Ganzen für 4-6 Personen) laufen wir zurück nach Orschel.

Nun kommen uns die HM-Läufer entgegen, die um 9:30 gestartet sind. Das gibt ziemlich Leben auf die Strecke, die ohnehin von vielen Begegnungsstellen gekennzeichnet ist. Ich finde das klasse, einige Spitzenläufer müssen sich irgendwie durchdrängeln, aber mir gibt dieses wohlorganisierte Chaos sehr viel Schwung. Ich weiss, dass viele meiner Mitstreiter jetzt schon auf der Strecke leiden (wie gesagt: „ anspruchsvolle Strecke“), dazu kommt, dass es  an den Verpflegungsstellen  keine feste Nahrung gibt. Aber Bananen sind eh für die Füße, und die laufen bei mir heute fantastisch, fliegen förmlich über den historischen Waldboden, ich bin mal sowas von fit und strotze vor Kraft. Ein Blick auf die zwei gewaltigen  Sequoia, die riesigen Mamutbäume, darunter verlockende Dixiklos...soll ich, oder soll ich nicht? Ach was! Pitstops werden total überbewertet und ein bisschen Zunder im Hintern treibt mich den folgenden Anstieg hinauf.

Km 21 oder so, es geht sehr steil hinab, sehr steil. Vielleicht das erste Mal in meiner Laufkarriere kann ich richtig schnell abwärts laufen. Das Traillaufen hat sich gelohnt.
Joey Kelly sagte heute Morgen noch zu mir: „Joe, du bist der einzige, den ich kenne, der nicht trainiert, aber eigentlich machst du es richtig.“ Ungelogen, das hat er gesagt. Der Arme läuft nämlich jede Wochen 120 km durch Siegburg, immer die gleichen Wege, mit vielen Paparazzis, und dann läuft er einmal im Jahr in der Antarktis. Wie blöd! Wo es doch hier in Deutschland so schöne Strecken gibt!.

In der zweiten Runde lass ich es krachen. Ich habe so viel Freude am Laufen und wetze die Steigungen hoch. Mann! Das ist sowas von geil! Vielleicht ist es  die Vorfreude auf eine grandiose After-Run-Party. Und als ich im totalen Ausnahmezustand in den Morgenstunden Orschl verlasse, werfen riesige Scheinwerfer ihr weisses Licht auf einen ziemlich verwüsteten Operationstisch, der aussieht wie nach einem Bombenangriff. Ich war´s nicht!

Marathonsieger

Männer

1. Tobias Hegmann, TSG Kleinostheim  2:39:27,5
2. Marco Diehl  DVAG Marathon-Team   2:43:09,3
3. Rene Strosny  Bautzener LV  2:47:21,9

Frauen

1. Astrid Staubach  LG Vogelsberg    3:19:49,9
2. Prisca Lepper   RFC Obertedten   3:23:07,4
3. Renate Henrich  Offenbach   3:27:49,4

 

Informationen: Hessentag-Marathon
Veranstalter-WebsiteErgebnislisteHotelangeboteOnlinewetterGoogle/Routenplaner

 
NEWS MAGAZIN bestellen
Das marathon4you.de Jahrbuch 2024