Durch das undurchdringliche Grün dringt von Weitem schon die Stimme von Joe Tscharner, der, begleitet von seinem kleinen Akkordeon, ein Liedlein nach dem anderen zum Besten gibt. Als Institution des Graubünden Marathon sitzt er - wie alle Jahre wieder - in 1.800 Meter Höhe mitten im Wald auf einem Felsen und heißt freudestrahlend die empor schnaufenden Läufer willkommen. Eingebettet in Wald und Fels treffen wir gleich dahinter inmitten der Bergeinsamkeit auf die nächste Verpflegungsstation mit einem Trupp bestens gelaunter Helfer.
An dieser Stelle ist es an der Zeit, ein paar Worte über die wirklich ausgezeichnete Versorgung zu verlieren. 13 Verpflegungsstellen sind entlang der Strecke eingerichtet. Die Positionierung und Ausstattung ist ausgesprochen durchdacht. Die Abstände zwischen den Stationen sind in etwa gleich – aber zeitlich und nicht räumlich betrachtet. Konkret bedeutet das: Während der Abstand der Stationen am Anfang der Strecke etwa 4 km beträgt, wird dieser mit zunehmendem Streckenverlauf immer geringer. Von den 13 Stationen sind allein acht auf der zweiten Streckenhälfte zu finden und davon wiederum drei auf den letzten fünf Kilometern, also dort, wo es am härtesten wird. Auch das Verpflegungsangebot wird mit zunehmendem Streckenverlauf reichhaltiger. Beschränkt es sich auf der ersten Hälfte primär auf Wasser sowie Energy-Drinks und -Riegel, erwarten uns auf der zweiten Hälfte zusätzlich Bananen und Gels, Cola und Bouillon.
Und weiter hasten wir durch den Wald. Der Pfad führt die folgenden etwa 1,5 km nicht mehr bergan, sondern relativ flach am Hang entlang. Ich verfalle wieder in den Laufschritt, schon um den anderen nicht im Weg zu stehen, denn zu überholen ist hier nicht immer so ganz einfach. Das Gelände wird wieder etwa offener, dafür die Luft immer nebeliger. In der Ferne höre ich rhythmisches Glockengebimmel und frage mich, ob das von Kühen stammen kann oder etwa die Glocken einer einsamen Bergkirche sind. Es dauert ein Weilchen, bis ich des Rätsels zu sehen bekomme. Es ist weder das eine, noch das andere. Vielmehr sind es die in der Wiese am Wegesrand stehenden Jungs der Schellnerfründa, die über eine Deichsel verbundene gigantische Kuhglocken wie Gewichte auf ihren Schultern stemmen und durch gleichmäßiges Auf- und Abwippen der Knie den weit hallenden Glockenklang erzeugen.
Von hier ist es nicht mehr weit nach Scharmoin, der auf 1.883 m üNN gelegenen Mittelstation der Rothornbahn bei km 35,4. Ein nasskalter Wind weht durch das nun offene Gelände und ich bin froh, mich an der Station bei einer warmen Bouillon aufwärmen zu können. Immer noch fast 1000 Höhenmeter auf weniger als 7 km bleiben von hier aus zu überwinden.
Durch Wolken, Fels und Schnee
Wie ein letzter sicherer Hort kommt mir die Mittelstation Scharmoin vor. Denn danach erwartet mich nur eines: eine weiße Wand, wohin ich auch blicke. Dichte, feuchte Wolken umhüllen mich, die Sicht reicht wenige Meter weit. Der relativ breite, steinige Weg und ab und an ein Läufer vor oder hinter mir sind gerade noch erkennbar. Die Strecke ist gut markiert, sodass man sich auch bei diesen Sichtverhältnissen eigentlich nicht verlaufen kann. Das beruhigt, aber tröstet nicht gerade. Denn das alpine Panorama beschränkt sich allenfalls aus ein paar matte Grasflecken am Wegesrand, später abgelöst durch Geröll. Fast wie ein Wesen von einem anderen Stern kommt mir da die Kuhherde vor, die plötzlich den Weg blockiert und wenig Anstalten macht, den Platz zu räumen.
Schon recht saft- und kraftlos stapfe ich durch die reizarme milchige Mondlandschaft immer weiter bergan. Raum und Zeit verlieren sich in dieser Ödnis. Eine Dreiviertel Stunde des Dahintrottens mag vergangen sein, da wird der Wolkenvorhang lichter. Mit zunehmender Höhe zerreißen die Wolkenschwaden. Trübe und klare Momente wechseln einander ab. Vermehrt beleben weiße Schneeflecken die weiten, wüsten Geröllhänge. Nur an wenigen Stellen gedeihen hier noch Moose und harte Gräser zwischen dem Gestein. Immer größer und häufiger werden diese Schneefelder, an manchen Stellen türmen sie sich mannshoch neben uns auf. Die Laufstrecke selbst ist aber schneefrei. Zwischen Fels und Schnee beleben nur die bunten Punkte der Läufer, die ich nun auch wieder in weiterer Distanz beobachten kann, die Szenerie. In langen Geraden zieht sich der Pfad durch das Geröll am Hang entlang. Der Weg ist hier gar nicht mal besonders steil, aber er verläuft doch recht stetig bergauf.
Ein Läufer, woher auch immer, kommt uns entgegen und verkündet, er habe um die Ecke herum die Sonne gesehen. Ich kann es kaum glauben. Die Sonne sehe ich dann zwar nicht. Aber als ich um die besagte Ecke biege, bietet sich mir zum ersten Mal so etwas wie ein hochalpines Fernpanorama. Das baut mich auf. Die exponiert gelegene Getränkestelle beim Weißhornlift in 2.170 m Höhe bei km 37,5 kommt gerade recht für eine kurze Pause, um das sich vor mir formende Bild in Ruhe zu genießen. Viel zu schnell schieben sich aber schon wieder die nächsten Wolkenbänke ins Blickfeld.
Doch die Wolken kommen und gehen und zaubern immer wieder eindrucksvolle Kulissen in der Berglandschaft. Nur die Gipfel über uns wollen sie partout nicht freigeben, sodass ich eigentlich nie so recht weiß, wo nun unser Ziel ist. Hinter der Versorgungsstation geht es auf der anderen, sehr viel zugigeren Bergseite über einen langen, matschigen Ziehweg weiter, dann zunehmend steiler hinauf durch Fels und Schotter. Einzelne kleine Schneefelder müssen wir nun durchqueren. Hier muss ich letztlich nur den von den anderen Läufern hinterlassenen Fußspuren folgen und ein wenig aufpassen, nicht auszurutschen. Im sonstigen Gelände wäre die Orientierung ohne die Wegweiser bisweilen schon schwieriger, da ein Weg nicht immer klar erkennbar ist.
Hier in den oberen Bergregionen wird besonders klar, woher der Berg seinen Namen „Rothorn“ hat. Die Felslandschaft hat eine deutlich rötliche Grundfärbung. Man sieht aber auch viele silbrig glänzende Gesteinsbrocken. Grund ist das hier reichlich vorkommende Eisenerz. Ich bin schon versucht, mir einen der silbrigen Steine als Souvenir mitzunehmen. Mangels Aufbewahrungsmöglichkeit lasse ich es aber dann doch sein.
Foil Cotschen bei km 39,9 in 2.470 m Höhe heißt der Fleck, an dem wir schließlich die nächste Versorgungsstelle erreichen – und sie ist nicht die letzte auf der Wegstrecke.
Gipfelsturm - im Schleichtempo
Die letzten beiden Kilometer liegen vor mir – und noch immer 400 Höhenmeter. Der Bergpfad wird an manchen Stellen so steil, dass er fast in Kraxelei ausartet. Die Hände auf die Knie oder in die Hüfte gestützt komme ich nur im Schneckentempo voran. Immer wieder geht mir die Puste aus und ich muss innehalten. Es sind weniger die Muskeln, als die dünne Höhenluft, die mir zu schaffen machen.