Zeit zum Entspannen – bergab ins Hochtal von Lenzerheide
Mit der Passhöhe von Foppa ändert sich nicht nur das Streckenprofil, sondern erweitert sich auch unser Blickfeld. Leichten Fußes eilen wir auf gut ausgebauten Wegen hinab. Immer mehr geben die Wolken den Blick auf die uns umgebende Landschaft frei, auf ein wogendes Meer weiter Wiesen mit eingestreuten Almhütten, umrahmt von Nadelbaumgehölzen. Nur die entfernteren Berge, die sehen wir weiterhin nicht. Für besondere Abwechslung sorgt zwischendurch ein relativ steil bergab führender, schlammiger Trampelpfad, der durch die Wiesen und ein urwaldartig eingewachsenes Waldstück führt. Man muss schon ein wenig aufpassen, hier nicht auszurutschen oder umzuknicken. Andererseits macht mir gerade diese urwüchsige Trail besonderen Spaß.
So ganz nebenbei passieren wir das 21 km-Schild. Jeder einzelne Kilometer wird angezeigt. Auch im Übrigen ist die Strecke zumindest bis Lenzerheide durch dauerhafte Wegweiser so markiert, dass sie ganzjährig belaufbar ist.
Der Streckenverlauf wird zunehmend flacher und mutiert zum gemütlichen Landschaftslauf. Am Horizont taucht bei km 24 schließlich der Kirchturm von Parpan (1.509 m ü NN) auf. Am Ortseingang werden wir von einigen applaudierenden Zuschauern erwartet und per Lautsprecher namentlich begrüßt. Nur wenige hundert Meter weiter tauchen wir jedoch schon wieder ein in die Stille der Natur.
Hinter Parpan wird der Parcours wieder spannend. Wir folgen einem schmalen Waldpfad, dessen Untergrund alsbald nur noch aus vom Regen durchtränkten Morast besteht. Hinzu kommen zahllose Wurzeln und steile Miniauf- und abstiege. Eine Herausforderung, die höchste Konzentration erfordert – für Freunde des Trail-Running aber ein echter Leckerbissen.
Wenig später befinden wir uns in der Hochebene von Lenzerheide-Valbella. In einem Zickzackkurs durchmessen wir auf Naturpfaden die weiten Wiesen und erreichen bei km 26,5 einen der landschaftlichen Höhepunkte der Strecke, den inmitten der Hochebene gelegenen Heidsee.
Um den Heidsee nach Lenzerheide
Auch wenn die oberen Regionen der umgebenden Berge, unter anderem das Rothorn, von Wolken verhüllt sind und die Sonne keinerlei Chance hat durchzubrechen, präsentiert sich uns der Heidsee als echtes Postkartenidyll. Der Marathonkurs führt auf einem Naturweg knapp 3 km fast um den gesamten See herum. Gleich am Anfang erleben wir ihn von seiner schönsten Seite, und zwar dort, wo See und Umland unter Naturschutz stehen. Verwinkelte Buchten, verschilfte kleine Inseln, sumpfige Wiesen, dazwischen Gruppen dunkler Nadelbäume prägen das Bild. Fast schon in eine skandinavische Wildnis fühle ich mich versetzt. Auch naturnah, aber dennoch ganz anders ist der Charakter der gegenüberliegenden Seeseite: Hier sind Bade- und Grillplätze, Strandlokale, hier kann man segeln und surfen, und hier sind auch sehr viel mehr Besucher unterwegs, die der dahin tröpfelnde Läuferstrom umkurven muss.
Weiterhin auf flachem Terrain nähern wir uns auf Waldwegen dem nächsten Etappenziel: Lenzerheide. Der Wald öffnet sich erst unmittelbar am Ortsrand. Keine Minute später erreichen wir bei km 30,7 das Start-/ Zielgelände aller anderen Läufe mit dem Festzelt. Ein „Speaker“ begrüßt lautstark die Ankömmlinge. Unterhalb eines großen Einlaufbogens wird für die 20 Meilen-Läufer die Endzeit und für die Marathons die Zwischenzeit genommen.
Just, als ich nach knapp 3:15 Stunden einlaufe, teilt der Speaker freudig mit, dass Jonathan Wyatt sich gerade auf dem letzten Kilometer befände. Ich denke nur: das ist unglaublich. Zwar sind es von hier nur noch 11,5 Kilometer bis zum Gipfel – aber eben „gewürzt“ mit 1.400 Höhenmetern in alpinem Gelände. Schon wenn man sich die Laufstrecke auf einem Plan mit Höhenprofil ansieht, fällt auf, dass die Profillinie ab Lenzerheide wie eine Fieberkurve jäh nach oben steigt. Erst hier wird aus einem „normalen“ Berglauf das, was den Graubünden-Marathon so berüchtigt macht: ein Extrem-Berglauf. Vielleicht ist es ganz gut so, dass ich aufgrund der Wolken die oberen Bergregionen des Rothorns im Moment nicht sehen kann. Aber auch so kommt es mir an der gut ausgestatteten Verpflegungsstation in Lenzerheide ein wenig so vor, als würde ich meine Henkersmahlzeit zu mir nehmen. Aber was hilft es: Ich bin hier, weil ich hier sein will. Und jetzt muss ich da durch.
Auf Bergpfaden zur Mittelstation Scharmoin
Noch ein paar flache Meter geht es entlang der Voa principala, dann zweigt ein schmaler, steiniger Pfad ab und windet sich sofort steil den Hang hinauf. Vor und hinter mir verfallen die Läufer schlagartig in einen ambitionierten Walkingschritt, denn Laufen wäre bei dieser Steigung – zumindest für normalsterbliche Läufer – kräftemäßig unökonomisch. Nur selten lässt die Strecke einen kurzen Rückfall in den Laufschritt zu. Schnell gewinnen wir an Höhe und genießen einen weiten Panoramablick auf das immer tiefer unter uns gelegene Lenzerheide. Der zunächst noch dünne Bestand knorriger Bäume verdichtet sich und mündet schließlich in einen niedrigen, aber urwaldartig verschlungenen Bergwald.