Von hoch oben blicken wir schließlich auf Chur. Gerade einmal 590 m üNN hoch in der Rheinebene gelegen ist die Kantonshauptstadt Graubündens. Sie gilt als die älteste Stadt der Schweiz; erste Ansiedlungen sollen schon vor 5000 Jahren bestanden haben. Historisches bietet Chur heute primär in Form einer hübschen, mittelalterlich geprägten Altstadt. Ansonsten wirkt Chur mit seinen etwa 35.000 Einwohnern wie ein ganz normales, schweizerisches Städtchen, bei dem allenfalls die verstreuten Hochbauten am Stadtrand optisch etwas stören.
Unser Ziel in Chur ist die in den modernen Bahnhof integrierte zentrale Postbusstation. Von dort ist es noch ein fünfminütiger Fußmarsch bis zum Startgelände auf der sogenannten Quaderwiese am Rande der Altstadt. Die an der gleichnamigen Schule gelegene Quaderwiese entpuppt sich als eine Mischung aus Sportplatz und Parkgelände, auf der ein großes Zelt und einige Pavillons aufgebaut sind. In der Schule gibt es weitere für die Läufer geöffnete Räumlichkeiten, wo man Startunterlagen abholen, sich nachmelden oder umziehen kann. Dass ausreichend geschützter Platz vorhanden ist, ist sehr angenehm, denn der Regen verstärkt sich wieder. Der allgemein guten, gelassenen Stimmung tut das aber keinerlei Abbruch. Doch Petrus hat ein Einsehen. Kurz vor dem Start lässt der Regen nach und als die etwa 500 Läufer des Marathon und 20 Meilen-Laufs, begleitet von Musik und letzten Infos des Moderators, vor dem Schulgebäude in Startformation gehen, ist es nurmehr das auf den Blättern gesammelte Wasser, das von den hohen Bäumen herunter tropft.
Um Punkt 9.15 Uhr ist es soweit. Mit dem Knall der Starterpistole werden wir auf die Strecke geschickt.
Die ersten drei Kilometer ist entspanntes Einlaufen im Flachen angesagt. Schon eine Minute später ergießt sich der Läuferstrom in die fahnengeschmückten Gassen der Altstadt. Um diese Zeit ist die Altstadt noch wenig bevölkert und so mag das urplötzliche Getrappel von eintausend Läuferbeinen den wenigen Passanten wie ein Spuk vorkommen. Wir haben dafür den Vorteil, die Straße in voller Breite nutzen zu können.
So schnell, wie wir in der Altstadt sind, so schnell sind wir auch schon wieder draußen und steuern, weiter auf Asphalt, in ein sich zunehmend verengendes Seitental. Dichtes Grün überwuchert die steil abfallenden Wände des Tales, an einer Stelle stürzt malerisch ein Wasserfall durch diesen Dschungel. Zusammen mit der hohen Luftfeuchtigkeit vermittelt die Szenerie durchaus so etwas wie morgendliche Tropenstimmung.
Sehr angenehm zu laufen sind diese ersten drei Kilometer. Sie geben dem Läuferfeld Gelegenheit, sich zu entzerren, was auch nötig ist, denn nach diesen drei Kilometern ändert sich das Streckenprofil schlagartig.
Die erste Herausforderung – der Anstieg nach Foppa
Die Straße zweigt in einen schmalen Naturweg ab, der sich sofort durch dichten Wald nach oben windet. Aber noch nehmen wir alle diese erste Herausforderung ganz locker. Einen guten Kilometer weiter gewährt uns ein parallel zum Hang führender Weg eine kurze Verschnaufpause und die Getränkestation beim Kurhaus Passugg (km 4,6) die erste Gelegenheit, Flüssigkeit nachzutanken.
Gleich danach geht es aber weiter munter bergan. Gut ausgebaute Forstwege, wurzelige Waldpfade und schmale Trampelpfade durch Wiesen wechseln einander auf den nächsten Kilometern ab – Naturgenuss pur und mit der Kraft der noch frischen Beine alles kein Problem. Auch wenn es immer mal wieder kurze Passagen gibt, die flacher oder gar abwärts führen, tendenziell gewinnen wir rasch an Höhe. Der Wald wird zunehmend lichter, umso mehr dominieren Almen mit friedlich grasenden Kühen das Blickfeld.
Bei km 10,5 erreichen wir mit Churwalden (1230 m üNN) den ersten Ort entlang der Laufstrecke. Immerhin etwa 650 Höhenmeter haben wir seit Chur hinter uns gebracht. Kurz vor dem Ortseingang begrüßt uns ein erster Zuschauerpulk mit Anfeuerungsrufen, im Ort selbst ist es dagegen ruhig. Einen knappen Kilometer müssen wir der Hauptstraße durch den Ort folgen. Dort, wo es nötig ist, wird die Laufstrecke von Helfern bevorrechtigt gegenüber dem wenigen Autoverkehr abgesichert. Am oberen Ende Churwaldens dürfen wir uns an einer gut ausgestatteten Versorgungsstation Energienachschub holen, bevor es zurück in die Natur geht.
Eine schmale Asphaltstraße führt in zahlreichen Serpentinen bergan, nicht steil, aber stetig. Um uns herum erstrecken sich blühende Wiesen, soweit das Auge reicht. Der Haken an der Sache ist nur: Der Horizont, bis zu dem das Auge reicht, ist äußerst begrenzt. Bis Churwalden waren die Wolken über uns, jetzt sind wir mittendrin. Insofern können wir nur erahnen, wie herrlich die Wiesen bei Sonnenschein sein müssten. Der einzige Vorteil an der Sache ist: In der feuchten Kühle fällt das Laufen relativ leicht. Bei km 15 wechselt der Untergrund: Aus dem Asphalt- wird wieder ein Naturweg. Ansonsten ändert sich leider nichts. Die kompakte Wolkenwand verhindert auch weiterhin jegliche Ausblicke und schluckt auch die Geräusche. Fast geisterhaft taucht bei km 15,5 die Versorgungsstation von Büel aus dem Nebel auf. Mangels äußerer Reize bekommt der Lauf geradezu meditativen Charakter.
Die Verpflegungsstation von Foppa, 1.754 m üNN bei km 17,6 gelegen, ist so etwas wie ein Meilenstein an der Laufstrecke des Graubünden Marathon. Denn hier endet der erste, bergan führende Abschnitt der Marathonstrecke. 1.150 der insgesamt 2.682 Höhenmeter sind geschafft, die erste bergläuferische Hürde ist überwunden. Die nächsten 14 km haben wir Zeit uns zu erholen. Denn nun geht es weitestgehend bergab oder in der Ebene dahin. Und wir haben Zeit, uns mental auf den „Hammer“ einzustellen, der uns danach erwarten wird ....