Es sind Ferien, also Zeit, einmal etwas völlig anderes zu tun. Zum Beispiel, beim Glacier 3000 Run mitzulaufen. Ein Berglauf in der Schweiz mit 2015 Höhenmetern auf 26 km stellt, vor allem für mich, eine neue Herausforderung dar.
Das Zeitlimit von 5 Stunden ist zumindest auf dem Papier machbar. Die ersten 16 Kilometer sind laut Streckenplan nur leicht ansteigend und sollten im 6:30er Schnitt realistisch sein. Das wären dann 1h44. Ab dann geht es zur Sache. Die Zeitmessung bei km 23 sollte ich spätestens nach 4 Stunden erreichen, um eine realistische Chance auf ein Finish in 5 Stunden zu haben. Ich bin guten Mutes.
Der Glacier 3000 ist das einzige Gletscherskigebiet im Berner Oberland mit einer Skisaison von Ende Oktober bis Anfang Mai. Sehenswert ist auch im Sommer das Restaurant Botta auf 3000 m ü.M., entworfen vom berühmten Schweizer Architekten Mario Botta, und der Alpine Coaster – die höchstgelegene Rodelbahn der Welt. Das ganze wird noch getoppt von dem Peak Walk by Tissot, einer 107 m langen und 80 cm breiten Hängebrücke, die den Vorgipfel mit dem Hauptgipfel Scex Rouge verbindet. Die Brücke ist kostenlos und je nach Wetterlage ganzjährig zugänglich und soll einen grandiosen Blick auf Matterhorn, Mont Blanc, Eiger, Mönch und Jungfrau bieten.
Dort oben also auf 2950 m Höhe ist das Ziel des Glacier 3000 Runs. Gestartet wird auf der Promenade in Gstaad beim Eisbahnareal, wo im Zelt die Startnummern ausgegeben werden. Neben der Startnummer erhält man auch den Gutschein für eine Portion Pasta, die man entweder am Freitag oder Samstag einnehmen kann, sowie Beutel und Anhänger für Wechselkleidung im Ziel. Da es in 3000 m Höhe oberhalb des Gletschers auch bei schönem Wetter empfindlich kalt werden kann, empfiehlt es sich den Gepäcktransport auf jeden Fall zu nutzen.
Norbert und ich reisen bereits am Freitag an und genießen am Abend das vornehme Ambiente des noblen Dorfes. Am nächsten Morgen ist das Areal kaum wiederzuerkennen. Das große Marathontor dominiert das Straßenbild und die wenigen „normalen“ Menschen gehen in der Menge der Läufer einfach unter. Stilvoll begleiten Alphornbläser die individuelle Vorbereitung der einzelnen Sportler. Ein Moderator stellt die Spitzenreiter vor. Der Sieger vom letzten Jahr Isaac Toroitich Kosgei ist nicht am Start, wird aber von seinem Kenianischen Landsmann Robert Panin Surum vertreten. Bereits fünfmal hat die 51jährige Daniela Gassmann-Bahr den Lauf gewonnen und schickt sich an, dies heuer zu wiederholen. Allerdings ist die frischgebackene Berglaufweltmeisterin auf der Langdistanz, Martina Strähl aus der Schweiz, ebenfalls am Start. Insgesamt sind es 627 Einzelläufer und 46 Staffeln.
Pünktlich um 10 Uhr geht es los. Ohne die obligatorischen Hymnen, aber unter dem tosenden Applaus der Zuschauer schwimmt das Heer der Läufer über die Promenade, die Flaniermeile von Gstaad. An gepflegten Häusern in typischer Holzbauweise und blumengeschmückten Balkonen vorbei verlassen wir den Ort. Zunächst führt die Strecke im Talgrund einer grünen Wiesenlandschaft entlang. In der Ferne vor uns kann man bereits hohe Berge erahnen. Hin und wieder passieren wir ein Bauernhaus, vor denen uns die Bewohner anfeuern. Schon auf den ersten Kilometern spüre ich die Hitze. Ich nutze jede Gelegenheit, meine Mütze einzutauchen. Bald ist mir das Tempo zu schnell. Ich hadere mit mir, ob ich einfach im Pulk mit schwimme, um im Zeitplan zu bleiben oder lieber etwas langsamer mache. So könnte ich den Lauf auch genießen. Dann wird mir die Entscheidung abgenommen, denn wir verlassen die Straße und auf dem schmalen Trail geht es nur noch hintereinander. Das macht mir plötzlich nichts mehr aus.
Der Trailabschnitt ist aber nur kurz. Bei km 5 folgt ein breiter Wanderweg, der nun im Schatten am Ufer der Saane entlangführt. Liegt es am niedrigerem Tempo, dem Schatten der Bäume oder der schönen Flusslandschaft? Ich weiß es nicht - mir geht es jedenfalls wieder besser. An der ersten VP bei km 6 trinke ich ausgiebig, so kann es weiter gehen.
Nachdem wir eine Straße überquert haben, führt der Weg abermals auf einen Singletrail. Wellig führt der schmale Weg am Bach entlang. Bei km 9 erreichen wir weite Wiesenflächen und die erste Steigung. Die Berge sind mittlerweile zum Greifen nah. Vor einem Haus auf der Kuppe haben Bewohner eine Gartenschlauchdusche installiert und feuern jeden Vorbeikommenden lautstark an. So motiviert geht es gleich steil bergab. Ich lasse es laufen, denn die nächste Steigung ist bereits in Sicht. Dort oben geht es zunächst auf einen breiten Weg und anschließend wieder auf einem Trampelpfad über eine Wiese. Tendenziell bergab erreichen wir bei km 11 Gsteig und damit die nächste VP.
Es geht auf dem Gehweg in den Ort. Eine Formation aus Trachtenträger mit Treicheln bereiten uns einen stimmungsvollen, lauten Empfang. Auf der Straße herrscht Stau. In beide Richtungen stehen Autos; es gibt kein vor und zurück. Wir überqueren die Straße. Sind wir etwa der Grund für dieses Chaos? Immer wird der Übergang von mehreren Helfern gesichert. Auf einem schmalen Steig geht es nun bergauf. Oben steht ein Streckenposten, schaut mir tief in die Augen und meint: „Lass dich ja nicht unterkriegen.“ Ich verspreche es und bin so motiviert, dass ich das jetzt folgende ansteigende Straßenstück mit abwechselndem Gehen und Laufen zurücklege.
Wir überqueren wieder die Straße. Es geht am Campingplatz Heiti vorbei in den Wald. Während der Singletrail steil aufwärts führt, fließt unten die Saane hier noch als winziges Bächlein. Bis km 14 geht es immer höher hinauf. Dann öffnet sich der Wald und wir finden uns auf einer Alm wieder. Es geht bergab in einer weiten Kurve. Ich kann bereits die Moderatorin hören.
Wieder laufen wir über eine große Wiese. Jetzt kann ich den Weiler Reusch vor mir liegen sehen. Der Rettungshubschrauber macht hier Pause. Die Moderatorin sagt jeden Neuankömmling an und die Zuschauer applaudieren entsprechend. Im Augenwinkel kann ich die Uhr an der Zeitmessmatte ablesen. Oh je, es sind bereits 2 Stunden vergangen. Ich bin somit 15 Minuten über meinem Zeitplan. Das ist schlecht.
Dafür ist das Angebot an der VP üppig. Es gibt Bouillon, Iso, Cola, Riegel, Orangen und Bananenstücke, so dass ich mich ausgiebig stärken kann. Denn jetzt geht es in den Berg. Frohgemut mache ich mich auf den Weg. Es beginnt zunächst ganz sanft, dann wird der Weg immer steiler. Ich komme gut voran. Es ist nun jeder halbe Kilometer angezeigt. Außerdem verläuft der Weg großteils im Schatten. In Serpentinen geht es immer höher. Über mir erkennen ich andere Läufer und unter mir natürlich auch. An einem besonders steilen Stück kann ich schon von weitem den Hinweis auf die nächste VP erspähen. Dann wird es flach, und hinter einer Kurve stehe ich plötzlich im Hochgebirge. Ein riesiger Wasserfall fesselt meinen Blick. An dieser wunderbaren Stelle steht die VP. Auch andere Läufer verweilen andächtig, um diesen Anblick zu genießen.
Hinter km 17,5 führt der Weg direkt auf den Wasserfall zu. Es ist sogar so flach, dass ich ein paar Schritte laufen kann. Kurz vor Erreichen des Wasserfalls zweigt der Weg nach rechts ab und es geht erneut steil bergauf. Noch lange kann man das Rauschen des Wasserfalls hören.
Die Wolkendecke hat sich mittlerweile zugezogen. Dass es abgekühlt hat, wäre zu viel gesagt, aber man muss nun nicht mehr so schwitzten. Wir verlassen den breiten Wanderweg. Nanu, spüre ich Tropfen? Es scheint tatsächlich leicht zu regnen. Die Helfer, die immer wieder am Wegesrand stehen, packen sich in ihre warmen Jacken. An der VP bei der Seilbahnstation Oldenegg sind die Helferinnen noch guten Mutes. Ich bewundere die gigantische Aussicht und halte ein Schwätzchen. Um die Kurve herum hat die Moderatorin gerade eine Pause eingelegt. Hier ist der Einstieg in eine kleine Kletterpassage und das km 20 Schild.
Es geht nun ziemlich steil und steinig weiter. Wenn meine Beine nicht so müde wären, würde mir das richtig Spaß machen. Auf einem Felsvorsprung steht eine Sanitäterin. Sie unterhält sich mit einem Wanderer. Aus dem Gespräch entnehme ich, dass sie glaubt, wir wären zu spät dran und bei dem Regen würde das Rennen sowieso in Cabane abgebrochen. Ich hatte mir schon gedacht, dass es dort an der letzten Zeitnahme so etwas wie einen Cutoff geben könnte. Es sind keine drei Kilometer mehr, aber die Zeit ist tatsächlich knapp.
Das steile Stück endet auf einem Schotterhang, den müssen wir hinauf, dann geht es in eine Art Tunnel. Dahinter sehe ich plötzlich das Ziel. Es liegt links auf dem hohen Berg. Was mich aber irritiert, ist die Seilbahnstation auf dem Gipfel direkt vor mir. Ob das Cabane ist? Da komme ich nie und nimmer in einer halben Stunde hinauf. Und wenn ich das nicht schaffe, ist es für das rechtzeitige Finish zu knapp. Nach kurzer Überlegung beschließe ich, Tempo raus zunehmen und den restlichen Anstieg bis zur letzten Zeitnahme zu genießen. Jetzt hoch zu rennen und dann doch am Cutoff zu scheitern, dazu habe ich keine Lust.
Ich halte Schwätzchen mit den Streckenposten, lasse ein paar schnellere Läufer vorbei, fotografiere Blumen und genieße den tollen Blick. An der nächsten VP versucht die Helferin schon vorsichtig anzudeuten, dass das mit dem Finish nichts wird. Ich bestätige ihr das und verabschiede mich frohgemut. Es ist nur noch ein Kilometer bis Cabane aber die Station liegt hoch über mir.
Mensch, ist das steil. Manchmal muss ich mich mit beiden Händen hinaufziehen. Unter mir kann ich bereits das erste Schneefeld entdecken. Dann geht alles plötzlich ganz schnell: der Weg wird flacher es geht um eine Bergflanke herum und ich kann Cabane erkennen. Nicht die Bergstation über mir, sondern eine Hütte vor mir ist das Zwischenziel. Ach, das hätte ich vielleicht doch schaffen können. Nun bin ich aber leider 5 Minuten zu spät. Cutoff ist hier tatsächlich um viertel nach zwei. Das ist sehr großzügig, denn es bleibt dann nur noch eine dreiviertel Stunde und ich würde mit einer Stunde für den Schlussanstieg rechnen.
Ich stärke mich ausgiebig. Die Stimmung unter den Läufern ist gedrückt. Für die meisten scheint der Ausstieg unerwartet. Ein paar machen sich auch noch ohne Chip auf, um den Schlussanstieg zu meistern. Mein Ehrgeiz hält sich hier in Grenzen. Ich muss ja noch zu der Seilbahnstation über mir, um dann zum Ziel hinaufzufahren. Dort warten schließlich Norbert und meine Ersatzkleidung.
Als ich mit der Seilbahn ober ankomme, ist dort einiges los. Der Moderator sagt jeden Finisher an und beglückwünscht ihn. Die meisten sind so platt, dass es ein Weilchen dauert, bis sie sich richtig freuen können. Von der Terrasse des Restaurants aus hat man einen herrlichen Blick auf den Gletscher und die Laufstrecke. Nach einem längeren steilen Anstieg über ein großes Schotterfeld scheint es oben relativ flach. Wegen warmen Temperaturen ist die Gletscheroberfläche weich und matschig. Eine weite Schleife führt dann auf festen Untergrund und breiten Weg. Erst stecknadelgroß dann immer deutlicher sieht man die einzelnen Läufer, die zum Schluss noch eine lange Treppe hinauf müssen.
Norbert hat es schon lange geschafft. Er erzählt, dass er gleich nach seinem Finish eine schöne warme Decke umgehängt bekommen hat. Als Finishergeschenk gibt es Armlinge mit „Glacier 3000 Run“ Aufdruck. Der Verpflegungsstand hat noch genügend Getränke, Obst und Riegel und vor dem Hinunterfahren mit der Gondel kann man noch diverse Flaschen und Riegel mitnehmen.
Gewonnen haben übrigens die Schweizer. Philipp Feuz aus Lauterbrunn erreichte in der Zeit von 2h30,05 nur 6 Sekunden vor seinem Landsmann Ralf Birchmeier das Ziel. Der für Österreich startende Kenianer Robert Panin Surum wird Dritter. Noch vor ihm lief als erste Frau Martina Strähl die letzten Stufen zum Ziel hinauf. Sie brauchte nur 2h33,33, um mit neuem Streckenrekord die Seriensiegerin Daniela Gassmann-Bahr abzulösen, die überglücklich auf dem zweiten Platz einlief. Angela Haldimann-Riedo wird Dritte.
Fazit: Die Schweiz mag, wegen des für uns ungünstigen Wechselkurses, ein teures Pflaster sein. Es wird aber auch einiges geboten. Die Landschaft ist einmalig und gerade bei diesem Lauf sehr abwechslungsreich. Herzliche, aufgeschlossene Menschen, eine perfekte Organisation und sehr gute bis zum Schluss ausreichende Verpflegung machen diesen Lauf zu einem großartigen Erlebnis.
Mir fehlt in der Ausschreibung ein Hinweis auf den Cuttoff, der hier wirklich großzügig ist. Beeindruckt hat mich, dass die Läufer, die nach 5 Stunden im Ziel ankommen, genauso herzlich empfangen wurden wie die schnelleren.
Die kostenlose Rückkehr nach Gstaad zunächst mit den Seilbahnen und dann mit dem Bus hat bei uns reibungslos geklappt. Hier habe ich definitiv noch eine Rechnung offen.