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Laufberichte

Wieder nicht geschafft!

 
Autor: Joe Kelbel

Der Weinmarathon im Elsass gehört zu den schwierigsten Läufen der Welt. Er wird in 12 Etappen gelaufen. Die Etappenlänge beträgt zwischen einem und fünf Kilometer und wird durch gefüllte Weingläser markiert.

Um die Startunterlagen zu erhalten, muss man unbedingt ein ärztliches Attest vorlegen, sonst kann man, wie Sabine, gleich wieder nachhause fahren. Manche Draufgänger machen es besser, lassen sich bei der Spätzleparty von der Bühne fallen, um so zu einem Volltauglichkeitszertifikat zu gelangen. Jean Paul, der Chef des Marathons, ist ein grandioser Stimmungsmacher, führt die Polonaise an.

Zur Übernachtung empfiehlt sich für ihn der Campingplatz direkt am Zielgelände. Wer dran denkt, den Wecker zu stellen, der sollte dann sein Handy nicht auf dem Autodach vergessen. Gerade in Regennächten sollte man auch seine Laufschuhe ins Autoinnere nehmen.

Wer im Zelt schlafen will, der sollte sich ein Wurfzelt zulegen, denn an herkömmlichen Zelten scheitern heute nacht so einige Nachtläufer, die dann vor fremden Wohnwagen gefunden werden. Ach und noch was: Das Wurfzelt nicht zu weit werfen!

Mittsommer: Der längste Tag beginnt!

Dirk giesst den Kaffee mit kaltem Wasser auf und ich mir Theaterblut über die Birne.
Von einigem hatte man zu viel, es gibt aber auch Verluste, wie wir beim Durchzählen feststellen müssen. Auch den Busfahrer hat es wohl erwischt, denn der Shuttlebus kommt nicht.

Nachdem wir den Greueltaten der Überleben gelauscht haben, entscheiden wir uns, den Start beim Einkaufscenter Cora joggend zu erreichen. Hier trifft man alte Bekannte und Kriegsversehrte, die es wenigstens bis zur Startlinie geschafft haben.

Vorne in der ersten Reihe steht Xavier Schneider, er hat wenigstens ein Baströckchen an, was ihn schon von vorneherein zum Gewinner macht. Clémence Christophe hat kein Röckchen an, sie muss sich wegen ihres knappen Outfits warmlaufen. Der restlichen 674 garantierten Finisher brauchen keine Aufwärmphase, jeder ist heiss auf diesen Lauf.

Wir werden heute unterhalten von 15 Musikergruppen und einige Pom-Pom Girls, so werden die hier genannt, die kommen aus Souffelweyersheim. Wer den Ort nicht aussprechen kann, der geht jetzt zum Kinderwagen. Da gibt es Schnaps, und dann nochmal: Souffelweyersheim! Nicht? Also weiter zum Bollerwagen.

Der Bürgermeister sieht aus wie Elton. Die Startpistole ist so zuverlässig wie das G36 Bundeswehr, also muss er mit Hilfe von Jean-Paul nachgeladen. Der erste Schuß verwirrt die Spitzenläufer, der zweite sitzt dann.

Kurz darauf laden wir Läufer nach und zwar nach Abschluß der ersten Etappe ( 2,5 km). Viele Anfänger sagen: „ Ooooch, ich laufe erstmal 20 Kilometer durch, bevor ich ein Schlückchen Wein trinke!“ Die haben aber keine Ahnung!

Denn da stehen die Winzer in ihren Trachten und reichen auf einem großen Tablett goldene Tröpfchen, als hätten 1000 Engelchen je ein Dopingpröbchen in winzige Glasampullen  reingebrunst. Also wird probiert und für gut befunden. Mein Tempo verringert sich auf einen 11er Schnitt. Das liegt daran, dass ich viele Fotos schießen muss. Alle sind total überdreht, was nicht an den winzigen Weingläschen liegt, sondern an der Stimmung, den vollbekloppten Leuten in ihren vollbekloppten Verkleidungen, die ganz seriös von den trachtenmäßigen Winzern bedient werden, als seien wir Regierungsgäste. Also daran wird es wohl liegen.

Nochmals 2,5 Kilometer sind es bis zum nächsten Etappenziel in Mutzig. Hier fallen nicht nur Hemdchen, sondern auch die letzten Vorsätze. Es wird bedeutend lustiger. Jeder Gastro-Weinstand wird von einem oder  mehreren Winzern beliefert und betreut. Man hat also reichlich Gelegenheit Traubensorte, Weinlage oder Bodenbeschaffenheit zu eruieren und sich Notizen zu machen. Hier ist es die Domaine Becht, dessen Pinot Blanc mir mundet, also mache ich mir Notizen auf meiner Startnummer. Mist, die hängt verkehrt rum.

Zwischen den Etappen gibt es zusätzlich noch 12 Sportverpflegungsstationen, mit Wasser, blauem Schlupfgetränk, Nüssen, Orangen etc. Dann gibt es noch Schwammstationen und Duschen.

Auf dem Deich der Breusch, Brisch, Bruche ( je nach Sprache und Sprachfähigkeit), halte ich mich auf der Höhe des Kinderwagens, denn diese Etappe ist jetzt 4,5 Kilometer lang. Dort, wo ein Teil des Wassers der Bruch in den  Kanal geleitet wird, endet die dritte Etappe bei Sauerkraut und Riesling. Ich liebe rohes Sauerkraut, es ist basisch und beruhigt den rieslischen Läufermagen, aber nicht unsere Partystimmung.

Das Sauerkraut wird liebevoll auf Plastikgabeln gedreht. Auch wir drehen uns, und zwar zu  tollen Sambarhythmen. Sonst dreht sich nichts, außer den Pom-Poms. So nennt man die Mädels, aber auch Patric. Der mit dem roten Hawaihemd heisst so, allerdings mit Nachnahmen. Er war Besenläufer beim Zermatt-Ultrax, den ich mit gerissener Achillessehne gelaufen bin. Er redet mit voller Begeisterung von meiner Organisationsfähigkeit hinsichtlich isotonischer Getränke auf dem Gornergrat. Hier gibt es regelmäßig isotonisches Getränk, allerdings verbrennt man durch die Tanzerei auch jede Menge. Erklären kann ich dieses Partydurcheinander, bei dem sich wildfremde Läufer in den Armen liegen, tanzen und knutschen, nicht so ganz. Am Wein kann es nicht liegen, es ist erst 9:30 Uhr.

Gisi und Conny sind eigentlich hier traditionell die Schlußläufer, aber immer noch nicht da. Werde wenigstens ich es heute schaffen? Um 10 Uhr laufe ich weiter.  Es geht durch das mittelalterliche Stadttor „Port de la Bruche“,  wir brechen heute nicht. Das Schloß Hervé Bourcart (1750) nennt man „La Magnanerie“, die Maulbeere, denn die Maubeere ist die Nahrungsgrundlage von Seidenraupen und die Geschäftsstelle der französischen Seidenraupenzucht ist in diesem Gebäude untergebracht.

In Dachstein gibt es zum Glück nur einen Sportler-VP mit Musik. Es geht entlang des Breuschkanals. Der Bau wurde von Verban, dem französischen Festungsbaumeister für militärische Zwecke befohlen. Nach der Annektierung von Strassburg (1681) wurden dann auch alltägliche Güter über den Kanal transportiert und das lange Waschhaus angelegt, was uns nicht die Bohne interessiert, denn wir haben die nächste Etappe erreicht. Jetzt gibt es süßen Flammkuchen mit Früchten, was mich auch nicht die Bohne interessiert, weil ich keine süssen Flammkuchen mag. Aber es gibt Rosécrémant, davon reichlich und frisch. Ich habe mittlerweile einen 30er Schnitt, im Tempo meine ich, nicht im Weinkonsum!

Irgendwann geht es in die Weinberge. Kenne ich nicht, diese neue Streckenführung. Die Reben sind gegen Mehltau mit Schwefel gespritzt, das trocknet den Mund aus. Gut, dass es wieder eine Verpflegungsstation gibt. Oberhalb von Ergersheim passieren wir die markante Wallfahrtskirche Maria Altbronn. „Salve Regina“ steht groß auf dem Dach. Zwischen 1348 und 1350 wütete hier die schwarze Pest, das Dorf ist deshalb verschwunden, geblieben ist nur die Kirche und einige wenige Wirtschaftsgebäude. Ich mache mich auch fort und komme nach Dahlenheim (km 18). Hier gibt’s die besten Bratwürste der Welt, frisch vom Grill, mit viel Senf.

Die sechs Mainzer überhole ich jedes Jahr spätestens hier. Den Elsässer Christian kenne ich seit Ewigkeiten. Legendär das Foto, als er als Pferd verkleidet auf ein reales Pferd trifft. Der Judoanzug von Pierre ist voller Theaterblut, er hatte wohl einen Liebesanfall in den Feldern bekommen. Das Zeug färbt halt leicht ab, wenn ich schwitze.  Wir tanzen und brüllen uns Witze in irgendeiner europäischen Sprache entgegen. Die Verständigung ist gut, auch wenn sich niemand erinnert, worüber wir „gesprochen“ haben.

Scharrachbergheim kann man auch kaum aussprechen, ohne dass ein Kuchenstückchen rausfliegt. Hier sind um 10 Uhr die Halbmarathonläufer gestartet. Sie haben 4 Stunden Zeit, um ins Ziel zu kommen. Ich habe noch 3,5 Stunden, oder sowas -  werde ich es schaffen? Rischtüüüüüüsch! Die Überschrift hat es vorausgenommen.

Odratzheim liegt schon am Fusse der Vogesen, hier soll es das beste Brot Frankreichs geben. Großer Dank an Christian, der mir ein Glas Flüssigbrot reicht. Er glaubt wohl nicht, dass ich es „Cul sec“  trinke. Das heißt übersetzt „ex“, aber wortwörtlich trockner Arsch. Und den hat Jean Luc mit seiner Adult-Windel. Nun stelle ich mir das vor, wie Jean Luc in das Einkaufscenter von Cora geht und so ne Monatspackung von den Adults-Dingern für diesen Lauf kauft, während sich Raimund schon beim Kauf von Kondomen ziert. Ich will jetzt nicht sagen, er hätte die gestern auf dem Campingplatz gebraucht, aber besser wäre es schon gewesen!

Dann ein Blick auf das Schloss Geraudon mit seinem englischen Garten  und dann schnell Richtung Marlenheim, dem nördlichen Ende der Weinstrasse, das im sonnenreichen Krontal liegt. Am Rande des Tales wurden die Bausteine für das Strassburger Münster gewonnen.

Hier beim Verpflegungsstand gewinnt jeder, der Heringshäppchen mag. Also ich. Ein ganzes Tablett vertilge ich. Es ist weicher, salziger Hering, der auf der Zunge zerfällt. Nur 20 Meter und 25 Minuten weiter ist die Domaine Arthur Metz, dem ersten Produzenten des Crémants (1904). Diese Verpflegungsstelle war wirklich nicht eingeplant, aber Mitarbeiter wohnen oftmals nahe der Arbeitsstätte, und Winzer zahlen den Bonus in welcher Art aus? Rischtüüüüüüüsch! „Ice Rosé“. Dieses Göttergetränk wurde am 27. März das erste Mal ausgeschenkt. 12 Monate gelagert, unter Eiseskälte zur Konservierung einer vorzüglichen Perlage verkorkt, ist dies etwas, was ich gar nicht so schlecht finde. Auf  deutsch: Saugeiles Zeug!

Wangen. In dem Städtchen schenkt Mutter Thierry und Tochter Cécile der Domaine Thierry-Martin aus. Dazu gibt es heisse Würstchen, „Knack“ genannt. Zwei Westernmädchen machen gute Countrymukke. Ich laufe zurück, um mir eine Flasche von diesem blauen Iso-Schlupfwasser zu besorgen. Am Ortsende von Wangen ist der Kalvarienberg mit einem Friedhof, der eigentlich uralt ist, doch die Gräber werden hier recycelt. So kommen die Generationen sich sehr nahe.

Nahe kommen jetzt die Kirschbäume, wo ich wieder viel Zeit verliere, nein gewinne, es schmeckt so gut im Kirschberg „Van Anderen“.  In Traenheim ist direkt nach dem Weinstand das Michelinrestaurant „Der Loejelgucker“ innerhalb eines blumengeschmückten Hofes. Eine Tafel zeigt in den Weinkeller mit den Riesenfässern. Die „Sträflinge“ Johann und Stephane sind begeistert von dem Keller, er ist jedesmal offen für Läufer, man kann in die dunkelste Gänge kriechen. Machen wir nicht, die Zeit drängt.

Beim nächsten Etappenstand ist der Munsterkäse ausgegangen, was mir nichts ausmacht, ich bin randvoll. Nur Gewürztraminer geht noch. Vor Dangolsheim (km 37)  ist die kalte Dusche, die nicht hilft. Ich mache mich trotzdem an die Weinkönigin ran. Die ist frischer als die Feuerwehrdusche und fragt mich, als was ich mich verkleidet hätte.

Die Pasteten sind alle weggefuttert, was mir wirklich nichts ausmacht. Ich weiß, es gibt in 500 Metern die nächste Verpflegungsstelle. Justine ist am Boden zerstört, grinst mich an wie ein Honigkuchen-Erdmännchen und trabt weiter.

Sulzbad: „Die Gewässer erlauben Ihnen, Ihr Gesundheitkapital, Fitness, Energie und Schönheit zurückzuerobern. Sie haben ein Termin mit Sie selbst!“ Na denn lasse ich mal diesen Verpflegungsstand aus, denn ich muss nichts zurückerobern.

Es geht weiter zum nächsten Weinstand in Wolxheim bei km 39: „Aber erwarten überrascht, weil es nicht nur Wein aber auch ein Thermalbad Sie in diesem veritable Meer von Grün zu finden, was Wolxheim im Elsass“.

Möget Ihr lachen, der Lauf hat trotzdem seine Schwierigkeiten, denn in Wolxheim gibt es nicht mehr diese Lebkuchen mit den bunten Zuckerpünktchen drauf. Dabei bin ich wie Sheldon Cooper auf  diese Dingerchen angewiesen. Die Zimtplatten schmecken zusammen mit dem Muskat vorzüglich.  Ich muss aber los und wetze wie ein Rennkuckuck weiter.

Bei km 41 gibt es keinen Crémant mehr. Ich bin zu spät, das Zeitlimit von 6 Stunden habe ich nicht geschafft. Ich hatte es aber auch nie vor, denn wer gewinnt, der erhält sein Eigengewicht in Wein.

In Molsheim hat jeder Athlet seine eigene Art über die Ziellinie zu gelangen: Arm-in-Arm, Handstand, Kopfstand, einbeinig, zweideutig, jedenfalls ziemlich angeheitert. Ich versuche es meiner Tradition gemäß per Purzelbaum, allerdings ist die Schwelle der Zeitmessung hier beim Weinmarathon weltweit die höchste. Andrea hilft mir, kann allerdings von der steilen Westseite her nicht ohne Sicherung auf die Ostseite gelangen. Ein aussichtloser Kampf beginnt, bei dem den Zuschauern auf der Bühne und im Fernsehen die Tränen in die Augen schiessen. Oben auf dem steilen Grat reisst uns eine Windböe von den Füssen, der Teppich färbt sich rot, fassungslose Kriegsberichterstatter wischen sich die salzigen Gesichter mit Taschentüchern.

Glücklicherweise ist man auf solch dramatische Szenen vorbereitet: Die hiesigen Sherpas haben den Zielbereich mit Bannern, Absperrgittern und Flatterbändern markiert, sodaß man auch bei eingeschränkter Sicht sicher zum Schulhof gelangt. Dort haben die Hilfsorganisationen Notunterkünfte, Nahrungsmittel und Getränkerationen bereitgestellt.

Auffallend ist, dass bei vielen Athleten aufgrund der enormen Anstrengung der letzten Stunden die Jalousien runterfallen. „Jalousie“ ist französisch, heisst Eifersucht und bezieht sich auf den Sichtschutz des Harems. Und der gesellt sich jetzt zu mir, denn das ist der Zweck der  „Courses du Challenge de la Convivalité“  ( Marathonläufe der Geselligkeit), eine Serie von 16 französischen Marathons, die wegen ihrer aussergewöhnlichen Verpflegungs einmalig sind.

Einmalig ist auch die prallgefüllte Finishertasche. Natürlich findet man unter den vielen Geschenken auch eine Flasche Wein. Davon gibt es noch reichlich auf der Marathonparty, dazu viel Tanz, Musik, Anfassen und so.

Dann gehen die Läufer, die Angehörigen, die Helfer und sonstigen Wahnsinnigen zu Bett. Nicht ich! Drüben, von der Laufstrecke entlang der Bruch, wird das Hämmern der Bässe immer lauter. Das lockt den Gefahrensucher!

Es ist der längste Tag des Jahres und hier pflegt man wie vielerorts das Brauchtum „Lärmbelästigung“. An Schlaf ist in dieser Nacht nicht zu denken, das Städtchen vibriert, die Menschen lachen und feiern gemeinsam, niemand schliesst sich aus, ich auch nicht. „Convivalité“.

Liege im warmen Gras, über mir fliegen hunderte von glühenden Lampions Richtung Deutschland, Richtung aufgehende Sonne. Mir geht es gut, ich war wieder dabei, beim härtesten Marathon der Welt!

„Zögern Sie zu den Winzern zu gehen, denn da geht die Verkostung weiter!“
Absolut geil hier im Elsass! Ich zögere nie!

 

Informationen: Marathon du Vignoble d'Alsace
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