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Laufberichte

Ich glaub, ich schaff´s wieder nicht

 
Autor: Joe Kelbel

Rien ne va plus! Ausgebucht! Zuerst der Halbmarathon, den man eigentlich ohne Wein laufen könnte, dann der Marathon. Lediglich bei den Kinderläufen gibt es kein Limit, was von  Jungeltern reichlich genutzt wird: Sie lassen die Kinder laufen und konzentrieren sich auf die Weinprobe. Kinder, die noch nicht laufen können, gibt man an der Garderie ab (nicht Garderobe!). Quittungsbon nicht verlieren!  

Den Marathon verlieren kann man nicht, man braucht nur auf den Besenwagen (Voiture Balai) zu warten, macht dann weiter mit der Weinprobe, solange man noch den Arm heben kann.

Die Spätzleparty am Vorabend ist nicht mehr im Preis inbegriffen, die Orga kann die Anzahl der benötigten Menues einfach nicht mehr kalkulieren. Die Getränke gehen aber nicht aus, Mutter und Tochter des Weingutes Thierry-Martin sorgen für reichlich Crémant-Nachschub. Die Tochter hat den Namen Martin in das Weingut gebracht, dabei war die doch damals noch so klein … Nicht klein sind die Prämien für die besten Kostüme, und so habe ich nun einen Nudelvorrat für 2 Jahre, ich, der sich sooo gerne von Nudeln ernährt.

 

 

Mehr als 30 % der Läufer sind aus Deutschland. Da werden selbstverständlich deutsche Partysongs gespielt, die auch die anderen Nationen, wenn auch nicht textsicher, begeistert mitgröhlen. Bei „Und ich flieg, flieg…“ fallen die ersten Hüllen. Man sagt, der letzte Läufer sei  um drei Uhr in den Kofferraum seines Autos gekrochen.

Um vier Uhr fängt der im Nachbarkofferraum an zu rascheln, dann Tür auf, Tür zu, Kofferraum auf, Kofferraum zu. Mordgelüste! Ich springe aus meinem Kofferraum und brate dem Belgier einen voll mit der Gummikeule auf den Kopp. Es wird immer schlimmer mit den Terroristen!

7:15 Uhr: Der Bus kommt nicht. Normal. Es sind nur zwei Kilometer bis zum Start in Dorlisheim, also dackeln die Kofferraumschläfer los. Kaffee und Gugelhupf warten beim Cora im Foyer. Start ist um 8 Uhr.

 

 

Neulinge sagen, sie warten mit dem ersten Schluck Wein bis zur Marathonhälfte. Aber dann stehen die Winzer in traditioneller Kleidung bei km 3 mit randvollen Tabletts mitten im Weg.  Ich denke in diesem Moment an die nachfolgenden Läufer und mache den Weg frei.   

Insgesamt mehr als 22 Verpflegungsstände gibt es, mit Wasser, Cola und Rivella. Da muss niemand Wein trinken, niemand muss Würstchen, Pastete oder Flammkuchen essen, es gibt auch Müsliriegel und Obst. Das kennt man, daher gibt es davon keine Bilder.

 

 

In Mutzig geht es an dem beeindruckenden Hotel  „Le Felsbourg“ von 1898 vorbei. Auf der Front steht „Die Felsburg“. Die Breusch (Bruche, Brische) wird kurz vor dem nächsten Weinstand überquert. Die Delegation der Cabanauten sind die ersten, die tanzen. Matthias schiebt, wie jedes Jahr, einen Kinderwagen über die Strecke. „Schwarzwald“ steht auf seinem Shirt. Das erklärt, warum sich jedes Jahr frischer Inhalt im Wagen befindet. Der Inhalt der Vorjahre begleitet ihn mit Fahrrädern.

Entlang der Breusch geht es nun nach Molsheim zurück, vorbei an meiner geliebten Hähnchenbraterei, die sonntags für mich geöffnet hat. Frisch gestärkt landen die Knöchelchen im wunderschönen Canal Coulaux. Der Kanal wurde Anfang 1817 von Jacques Coulaux gebaut, um Energie für seine Waffenfabrik zu erzeugen.

Ein hölzerner Steg oberhalb des Kanals führt uns auf das ehemaliges Fabrikgelände, heute eine der schönsten Verpflegungsstationen mit rohem Sauerkraut mit Speckgeschmack.

Wir tanzen vor der Bauernmühle, die 1525 als Mehlmühle gebaut wurde, ab 1817 dann das Verwaltungsgebäude von Coulaux war. Einst arbeiteten über 600 Personen an der Produktion von Säbeln und Messern. Nun wird hier das Kraut auf Plastikgabeln gedreht. Dazu gibt es Wein, Weib und Gesang.

 

 

Weiter führt der hölzerne Steg unter einer ehemaligen Brückenüberdachung hindurch, geht vor der St Georgs-und Dreifaltigkeitskirche in einem Uferweg über. Ein verwitterter Kalvarienberg, ein Denkmal mit den Leidensstationen von Jesus, ist hier zu entdecken. Wir sind auf dem von Kevelaer kommenden Jakobsweg, biegen rechts ab und laufen nach Dachstein. Erste kleine Änderung der Laufstrecke.

Dann geht es wieder wie immer am Breusch-Kanal entlang nach Wolxheim. Der Kanal wurde 1682 vom franzöischen Festungsbauer Vauban angelegt, um Sandsteinblöcke nach Straßburg zu bringen. An der Mündung der Ill wurde aus dem Blöcken das Vauban-Wehr gebaut.

In Wolxheim erleben wir nun eine gravierende, lohnende Änderung der Laufstrecke und  sehen mehr von diesem wunderschönen Ort und seinen Bewohnern, die in den bunten Fenstern hängen.

Am Rathaus hängt das Wappen von Wolxheim. Es zeigt einen Wolfshaken, was den Namen des Dorfes erklärt. Der Wolfshaken wurde mit einem Köder versehen und an einen Baum gehängt, damit der Wolf im Springen den Haken quer ins Maul bekommt. Wolfshaken nennt man allerdings auch die metallenen Spangen zwischen den Steinblöcken einer Wehranlage, zum Beispiel der von Vauban in Strassburg.

Vor der Schule treffe ich einen alten Freund wieder. Er hatte einmal so schlechte Zähne, wie ich jetzt in meiner Verkleidung als Grand Manier, pardon Cro Magnon. Letztes Jahr gab es ein neues Gebiss, dieses Jahr fehlt schon wieder ein Zahn. Die Elsässer haben eben viel zu beißen!

Nun gibt es einen neuen Weg steil hinauf in die Weinberge. Wir werden heute 46 Kilometer zurücklegen. Eine Horde Gnus, die vor mir, dem Cro Magnon und Fleischfresser, geflüchtet ist, hat das Terrain dermaßen vermatscht, dass ich immer wieder zurückrutsche. Werde ich es schaffen oder nicht?

Oben rechts ist der Hügel „das Horn“ zu sehen, von dort überblickt die goldene Jesusstatue Sacré-Coeur das gesamte Elsass. Und das ist jetzt der Hit: Wir laufen durch die Grand Cru Lage „Altenberg“, Napoleons liebster Riesling. Von dem gab er seinen Soldaten beim Rückzug von Leipzig einen aus, bevor es über die Elster-Brücke ging. Das war keine gute Idee,  die meisten ertranken.

Hinter den Weinbergen ist das ehemalige Trapistenkloster von Altbronn zu sehen. „Salve Regina“ (gegrüßt seist du, Königin) steht auf dem Dach. Trapisten verdienen ihr Geld ausschliesslich mit der Vermarktung von Agrarprodukten. Hier wurde Wein an die Jacobspilger verkauft.

In diesem Jahr müssen wir etwa 450 Höhenmeter überwinden. Ein Teil davon absolvieren wir nun mit dem Aufstieg zur Klamm, einer Erhebung, hinter der Dahlenheim liegt. Genau auf der Kuppe stehen Süßkirschenbäume, deren Früchte uns regelrecht in den Mund wachsen.

Am Ortseingang von Dahlenheim gibt es verbrannte Bratwürste, was uns aber egal ist. Wir posieren für die Presse vor dem qualmenden Grill und lachen uns kaputt. Den ersten Läufern, die den Senf nicht vertragen, fallen schon die Augen zu.

 

 

Für eine weitere Grand Cru Lage haben die keinen Blick mehr: Den Engelberg, den wir nun auf der Strasse nach Scharrachbergheim erklimmen. „Schrachschrach“ - Melanie versucht sich am Ortsnamen. Erste Ausfallerscheinungen.

Hier ist der Startort des Halbmarathons. Der Geruch von 1500 der Kurzstreckler liegt noch in der Luft. Sehr fair sind die Halbmarathonkollegen der Mainzer Truppe, die beim Weinstand bei km 0,05 des Halbmarathons auf ihre Marathonkollegen warten. Zum Wohl!

In Odratzheim überqueren wir die Mossig, einen Zufluß der Bruch. Hier benötige ich dringend die Hilfe der Elsässer. 30 % Markanteil hat die Brauerei Kronenbourg, von der mir ein eiskaltes Produkt aus dem Fenster gereicht wird. So haben wir in meiner Schulzeit gesungen:

„ J´ai deux amours
La Kanterbräu pour faire dodo
La Kronenbourg pour faire l`amour“

In Marlenheim ist die auch in Deutschland bekannte Großkelterei Arthur Metz beheimatet.

Grand Cru Lage Steinklotz. Im 30jährigen Krieg sollen die Marlenheimer die schwedischen Soldaten abgefüllt und dann ermordet haben. Abgefüllt sind wir nicht, sonst würde es nicht zu der Knutscherei nach den Matjesheringen kommen.  

Wie jedes Jahr bekommt das Pferd vor Wangen mit der Keule etwas ab. Das ist zwar nicht nett, braucht der Gaul aber. Denn siehe, er hat vor Freude reichlich Stuhlgang.

Der winzige Ort Wangen (700 Einw) weist eine ungewöhnlich starke Stadtbefestigung (11.Jahrh) auf. Dominiert wird das Städtchen vom Gecken- und vom Kassturm. Das Motscheltor gab den Weg frei zu den Weinbergen, erhalten blieb das Sondertor, durch das wir später hinauslaufen, und das Niedertor, wo unser Verpflegungsstand aufgebaut ist.

Von dem Flüsschen Mossig gab es zahlreiche Zuführungen, um den 15 Meter breiten und 6 Meter tiefen Wassergraben rund um die Stadtmauer zu speisen. Der Graben ist noch vorhanden, relativ wasserlos, wäre ein Dorado für Ausgrabungen. Von Wangen gibt es eine der ältesten Urkunden, 823 von König Lothar, Enkel Karls des Großen unterschrieben.

 

 

Ein kleiner Anstieg bringt uns in wunderbare Felder mit Kirchbäumen und Johannisbeersträuchern. Die Verpflegungstelle hier oben wird von Rivella gesponsert. Ich habe wirklich Brand, echte Schweizer Mädchen schenken ein. Rivella leitet sich vom Ortsnamen Riva San Vitale und vom italienischen Wort für Offenbarung (Rivelazione) ab.
Es geht hinunter nach Tränheim.

Wie immer, Foto im Weinkeller von Muller Charles et Fils und dann hoch zum VP mit dem Munsterkäs. Dieser besondere Käse riecht strenger als wir. Die Rinde ist aber eßbar, sie entsteht durch die Waschung mit Salzlake und Wein, was die sogenannten Rotschmierbakterien lockt, die auf meinen Knien und Armen hängen. Theaterblut. Prost!

Ich bin der Einzige, der jetzt noch vernünftig laufen kann. Meine Konkurrenten und Kollegen  liegen sich lachend und weinend in den Armen, oder erledigen ein Geschäft in den Weinbergen.

In Dangolsheim (km 36) treffe ich auf Pumuckl, den ich mutmaßlich seit heute Morgen  nicht mehr gesehen habe. Er hat sich eigentlich nicht wesentlich verändert.

In Sulzbach (Soultz les bains) gibt es glücklicherweise wieder Rivella. Ich kann keinen Wein mehr sehen. Der Legende nach gab es hier mal ne Kuh, die alle Kollegen überlebte, weil sie ein spezielles Getränk zu sich nahm. Der Bauer beobachtete diese Kuh, folgte ihr bis zu einer Höhle, die Donnerloch genannt wurde. Dort trank die Kuh zweimal am Tag. Donnerloch hiess die Quelle natürlich wegen ihres widerlichen Gestankes. Jetzt baden die Kurgäste in dem Zeug und riechen wie Kuh. 35 % Molke ist in der Rivella. Ich freue mich auf den nächsten Weinstand.

Kurz geht es am Breuschkanal entlang, dann gelangen wir nach Avolsheim, berühmt für seine Kirche Dompeter. Die Schreibweise ist komisch und heißt ganz einfach Haus des Heiligen Petrus und wurde vom elsässischen Papst Leo IX 1050 eingeweiht.

Hier bei km 39 ist der VP mit den Pfefferkuchen.- Aus vorbei! Rien ne va plus! Zeitlimit von 6 Stunden überschritten! Egal, prost! Im Besenwagen sitzen jetzt diejenigen Kriegsversehrten, die zu wenig getrunken haben. Die Cabanauten machen Yoga oder Judo, oder wie das heisst, hinter dem Zaun brutzelt ein äußerst fetter Braten. Ich laufe weiter.

 

 

Bei km 41 ist der Crémant wieder mal ausgegangen. Es gibt dieses komische Weinnachtlied aus Spanien. Eigentlich stammt es aus dem Elsass: „Der Crémant, der wird knapp, der Crémant, der wird knapp, dann find mer uns halt mit Wasser ab!“

1,195 Kilometer bis zum zweiten Bier dieses Tages! Ich werde überleben! Mit 6:18 Stunden bleibe ich weit über dem Limit und drei Minuten über meiner alten Bestzeit! Ihr seht, Steigerungen sind immer möglich!

Man erzählt sich, der letzte Läufer hätte um drei Uhr morgens den Kofferraum geöffnet.

 

Informationen: Marathon du Vignoble d'Alsace
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