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Laufberichte

Niemand hat die Absicht 100 Meilen zu laufen

21.08.11
Autor: Joe Kelbel

Die alte Frau, die einen Beutel Apfelsinen den Grenzern zuwarf, West-Berliner Polizisten, die lose Ziegel auf die Ostseite drückten und ein Zöllner, der auf das Niesen eines Grenzposten „Gesundheit“ rief. Alles das wurde akribisch in den Dienstbüchern des Ostens festgehalten. Da wurde die Grenzbeleuchtung beschossen, jemand lief 15 Meter weit über die Mauer, eine „weibliche Person“ auf einem Reklameschild oder West-Berliner, die die Grenzer mit nacktem Hintern grüßten.

Ein Postenführer notierte: „Zweite Etage, ein circa 16 jähriges Mädchen winkt mit entblößtem Oberkörper“  „9:20 Uhr - sie zieht sich einen Pullover über“
Dann wurden die Vopos gegen Grenzsoldaten ausgetauscht. Die kamen aus Sachsen. Die Zeiten an der Grenze wurden härter.

Die  Lohmühleninsel, denkmalgeschützte Bauten wie das letzte erhaltene Zollhaus oder die erste Berliner Tankstelle mit Raststätte und die Brücken.
Schillingsbrücke über die Spree -  entlang der Spree bis zur East-Side Gallery, dem längsten erhaltenen Mauerabschnitt in der Innenstadt. An die Opfer der Mauer, die hier verunglückten oder von DDR-Grenzsoldaten erschossen wurden, erinnert der Gedenkstein am Gröbenufer. Blöd, aber vor dieser Farbenpracht mache ich die meisten Fotos. Keule sagt noch: „Mach  doch mal ein Foto mit dem Wahlplakat der Linken vor der Mauer!“ Ich mach es.

Zwei Schüler flohen aus den Fenstern ihres Schulgebäudes, kappten den Strom am  Lichtkasten auf der Schillingsbrücke. In völliger Dunkelheit bei dichtem Nebel konnten die Patrouillenboote die Schüler nicht entdecken. Eingeschlagene Fenster am Schulgebäude, alles unverändert,  alles wie damals. Wunderbares Graffiti an der East-Side Gallery.

Merkt Ihr was? Ich führe Euch ganz sachte an eine große Lüge ran! Darf man dieses Portal für politische Zwecke nutzen? Dieser Lauf ist Weltgeschichte! Viele, viele Menschen haben dafür  gearbeitet, ich habe die Ehre zu laufen und zu berichten. Dieser Lauf wird in einigen Jahren international die Läuferwelt wecken, er ist weltweit einmalig, weil die Deutsche Geschichte …. Meine Worte passen hier nicht.

Über die Oberbaumbrücke, die Backsteinbrücke, sie war während der Teilung ein Fußgängergrenzübergang. Schlesische Straße. Hier steht noch der Wachturm am Schlesischen Busch. Makaber die Schießscharten und der Suchscheinwerfer auf dem Dach.

Ein tragisches Ende fanden im Laufe der Jahre 5 Kinder an der Oberbaumbrücke. Die Grenzlinie verlief hier an der Kante des Westufers, die Mauer stand aber erst auf der anderen Seite der Spree, und die Situation war immer ähnlich: Kinder spielten am Westufer, einer fiel rein und die Helfer konnten nicht eingreifen. Die Gefahr  war zu groß, genau wie die zwei Männer erschossen zu werden, die hier 1966 Abkühlung in der Spree suchten. Die 5 Kinder ertranken. Gegen hohe Devisenbeträge mussten die Eltern die Leichen ihrer Kinder den DDR- Behörden abkaufen. Jürgen, der West-Grenzpolizist, erzählt über die perverse Spannung in solchen Situationen: Ost und West, ein Volk, schaute zu, wie seine Kinder verrecken. Ab und zu wurde geschossen, die Alliierten verschlossen die Augen.
Wieder auf der anderen Seite, in Kreuzberg. Bierflaschen knallen auf den Asphalt, übernächtigte Alkoholleichen vor schwarzen Häusern mit buntem Graffiti. Es riecht nach Urin und Erbrochenem. „Berlin du kannst so schön hässlich sein...“

Der frühere Grenzstreifen wird mit japanischen Kirchbäumen und einem Gedenkstein markiert. Zwischen Treptow und Neukölln windet sich die ehemalige Grenze, die mit einer doppelten Pflastersteinreihe gekennzeichnet ist, durch  dicht bebautes Wohnquartier.

Mit einem Panzer gelang dem NVA-SoldatenWolfgang Engels 1963 die Flucht. Er fuhr gegen die Grenzanlage und stieg über die Motorhaube in den Westen aus. Es gab einen heftigen Schusswechsel über die Mauer. Eine angeschossenen Hand und ein Lungendurchschuss waren nach 2 Wochen West-Krankenhaus vergessen. An der Stelle, an der er beinahe die Mauer durchbrochen hatte, wurde ein Panzergraben errichtet. Dabei entdeckte man zahlreiche Fluchttunnel. Bei den Arbeiten  flohen zwei Baggerführer.

Aldi, Lidl und Co markieren heute den ehemaligen Grenzstreifen.

In der Elsenstraße 40 fand eine spektakuläre Tunnelflucht (75 Meter) statt. Medien berichteten. 55 Ostberliner konnten flüchten. Über  den Grünzug Heidekampgraben, der auf dem ehemaligen Mauerstreifen angelegt wurde, nähern wir uns dem ehemaligen Grenzübergang Sonnenallee. Der Weg führt durch Schrebergartenkolonien: die östlichen heißen „Mississippi“ und „Sorgenfrei“, die westlichen „Märkische Schweiz“ und „Freiheit“.

Alleine in diesem Abschnitt, in Höhe der Kleingartenanlage Fortuna, sind fünfzehn Menschen bei Fluchtversuchen gestorben. Zwei Kinder (10 + 13) wurden am 14.03.1966 von den DDR-Grenzsoldaten  erschossen. Nach einer gelungenen Flucht rief ein Westberliner Polizist den Grenzern zu: „Werft mal die Jacke von dem Flüchtling rüber, da ist noch Geld drin.“

Erste Verpflegungsstation..

Gedenkort für den 20jährigen Chris Gueffroy, dem letzten Maueropfer, erschossen am 5./6. Feb 1989. Er hatte gehört, es würde an der Mauer nicht mehr geschossen. Seine Mutter wird morgen im Ziel anwesend sein und damit die Wichtigkeit dieses Gedenklaufes unterstreichen.

Wie sagte ein Ost-Berliner  auf meiner Heimreise im Zug zu mir: „ Es war ja alles nicht so schlimm.“ Berlin hat verdrängt und vergessen. Wer erwartet, noch Todesstreifen, Peitschenlampen und Selbstschussanlagen zu finden, der muss enttäuscht werden. Berlin hat den damaligen Dreck schnell unter den Teppich gekehrt.

Der Mauerweg folgt nun dem Britzer Zweigkanal, dann kilometerlang dem Teltowkanal. Links die Mauer. Es ist eine neue Mauer, eine Schallschutzwand, doch der Lärm der A113 ist trotzdem deutlich hörbar. Nach etwa 5 km wird die Autobahn unterirdisch geführt. Ein Landschaftspark ist auf dem Grenzstreifen angelegt worden.

Am Rudower Hafen West verlassen wir die ehemalige  Grenze und laufen über Stubenrauchstraße und Segelfliegerdamm zum S-Bahnhof Schöneweide.
Jenseits des Teltowkanals vor der Rudower Höhe (entstanden aus den Kriegstrümmern) stehen noch Reste der Hinterlandmauer. Südlich der Höhen verlief der Berliner Spionagetunnel (450 Meter) zur Schönfelder Chaussee im sowjetischen Sektor. Amerikaner und Briten zapften hier die Telefonkabel der Sowjets an.

Am Grenzübergang Waltersdorfer Chaussee ereignete sich 1987 eine dramatische Flucht: Lutz Schmidt und Peter Schulze kletterten bei dichtem Nebel über mehrere Mauern und Zäune. Peter Schulze erreicht West-Berlin, Lutz Schmidt wird erschossen. Die Stasi zwingt seine Frau, die wahre Todesursache zu verschweigen.

Dieser Grenzübergang war ein Transitübergang zum DDR-Flughafen Schönefeld. Bei Vorlage eines Flugtickets durften Fluggäste aus West-Berlin die Grenze ohne Wartezeiten passieren. Die Tickets mussten mit westlicher Währung bezahlt werden.

Der zweite VP bei km 22 ist erreicht.

 
 

Informationen: 100 Meilen Berlin (Mauerweglauf)
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