Manche Klischees stimmen einfach. Etwa dasjenige der Schweizer Perfektion. Deren berühmtester Inbegriff, das sind ohne Zweifel die Uhren. Perfekt ist aber auch die Organisation von Marathonläufen. Viele Male habe ich mich davon schon überzeugen können. Manche Klischees stimmen aber auch nicht. Wer etwa denkt, dass Italiener einen Marathon am Streckenrand mit feurigem Temperament, Schweizer dagegen emotionsarm distanziert begleiten, liegt gründlich daneben. Genau umgekehrt ist es. Was ich damit sagen will? Ganz einfach: Die Schweiz ist das perfekte Marathonland. Ihr seht schon: Hier spricht ein wahrer Schweiz-Fan.
2007 war es, als ich mein Schweizer Marathon-Debut gab. In Zürich. Meine Motivation damals: Eine neue "PB" auf einem anerkannten High Speed-Kurs mit wenig Kurven und minimalem Profil. Nun ja, die Strecke war wirklich schnell, nur ich zu langsam. Aber die akttraktive Kombination aus innerstädtischen Sightseeingspots einerseits und 30 km Seekurs andererseits, sowie die ausgelassene Stimmung etwa am Bürkliplatz oder in Meilen, das alles habe ich nicht vergessen. So komme ich 2014 gerne nach Zürich zurück, dieses Mal ohne PB-Ambition, dafür mit der Kamera an Bord und schon sehr gespannt, wie viel "Deja Vu" ich erleben darf.
Heute wie vor sieben Jahren ist Zürich der Primus unter den Schweizer Citymarathons. Wobei diese Kategorisierung genau genommen nicht so recht zutrifft, führt doch der weit überwiegende Teil der Strecke, wie schon angedeutet, außerhalb der eigentlichen Stadt am Zürichsee entlang. Dass die Stadt nicht stärker eingebunden ist, liegt auch an den Stadtvätern, die die Beeinträchtigungen durch den Lauf so gering wie möglich halten wollen. Das erklärt den frühen Start um 8.30 Uhr und das relativ enge Zeitlimit von 5:30 Stunden. Immerhin, denn anno 2007 waren es sogar nur 5:00 Stunden. Ein Schaden ist dies nicht. Gerade die Kombination aus City und See macht den besonderen Reiz und das unverwechselbare Image des Zürich Marathon aus.
Meine Startunterlagen inklusive Pasta und Messeerlebnis bekomme ich wie schon damals in der Saalsporthalle. Das Auto sollte man tunlichst am Quartier stehen lassen. Dank perfektionierter Parkraumbewirtschaftung sind Parkplätze überall in Zürich rar und vor allem teuer, interessanterweise mit Länge der Parkdauer exponentiell ansteigend. Mit S-Bahn oder Tram ist die Halle aber gut erreichbar. Gleiches gilt für das Start-/ Zielareal auf dem Mythenquai unweit des Zentrums am Westufer des Sees.
Die Tramlinie 7 ab Hauptbahnhof ist in den frühen Sonntagmorgenstunden fest in Läuferhand. Gemütlich zockeln wir die noch menschenleere Bahnhofstaße entlang, hinaus gen Wollishofen. Wo der optimale Ausstiegspunkt ist, scheint nicht so ganz klar zu sein. Ich gehöre jedenfalls einer Gruppe an, die zu spät aussteigt und im Gänsemarsch eine Station zurück marschiert, um dann über eine unscheinbare Treppe in dichtes Parkgrün hinab zu steigen. Und hier, in geradezu idyllischer Lage, finde ich auf einem abgelegenen Bahngleis die Kette gelber Güterwaggons der Post, die zur Hinterlegung der Kleiderbeutel bereit gestellt ist. Nebenan, im Vereinsheim einer Tennisanlage, läuft die Espressomaschine heiß. Sehr entspannt geht es zu.
Ich setze meine kleine Wanderung durch den Park fort. Schluss mit der Beschaulichkeit ist auf der Uferpromenade, dem Mythenquai. Gewusel wie in einem Ameisenhaufen herrscht hier, wenngleich es auf den angrenzenden Wiesen auch Liegestühle für die ganz Relaxten gibt. Leider hat der Frühsommer seit gestern eine Pause eingelegt, was den wundervollen Blick durch den Segelmastenwald über den See und hinüber gen Zürich City etwas trübt. Ungetrübt ist allerdings die allgemeine Stimmung, auch wenn bis kurz vor dem Start vielen nicht so recht klar ist, wo denn nun eigentlich der Startpunkt ist. Doch bis 8:30 Uhr schafft es der Startmoderator dann doch, die Läuferherde in die rechte Position zu rücken. Und los geht`s. Einer Stampede gleich lassen die in diesem Jahr fast dreitausend Starter auf der Volldistanz den Asphalt erbeben und strömen direttissima der Innenstadt entgegen.
Ganz grob lässt sich der Kurs in zwei Abschnitte einteilen: Eine Art "Schnupperrunde", die uns über 10 km ein Stück des Seeufers entlang und über die Altstadt zurück zum Startpunkt bringt. Und eine große Runde, die die Läufer auf einem Pendelkurs entlang des Ostufers des Zürichsees weit aus der Stadt hinaus und zum Finale noch ein weiteres Mal durch die Innenstadt führt.
Schnurgeradeaus geht es den ersten halben Kilometer über den breiten Boulevard dahin. Am Arboretum mit prächtigem altem Baumbestand knickt der Kurs nach rechts ab und setzt sich über den General Guisan Quai, vorbei an überaus prachtvollen, fast schon schlossartigen Bürgerhäusern, fort, geradewegs dem Bürkliplatz an der Nordspitze des Zürichsees entgegen. Keinen Platz passieren wir so oft wie diesen auf unserem Streckenkurs: fünfmal insgesamt. Das bedeutet auch: fünfmal dichtgedrängte Zuschauerreihen, fünfmal eine Klangwolke aus Beifall und Anfeuerungsrufen, fünfmal zusätzlicher Motivationsschub.
Via Quaibrücke queren wir die Limmat, die hier den Zürichsee verlässt und das historische Zentrum Zürichs durchschneidet. Ohne Zweifel einen der eindrücklichsten Panoramablicke unseres Kurses dürfen wir von der Brücke erleben: flussabwärts über die Altstadt mit den die "Skyline" prägenden Türmen von Groß- und Fraumünster sowie St. Peter, in der Gegenrichtung auf die sich am Horizonts verlierenden Küstenlinien und Fluten des Zürichsees. Apropos Fraumünster. Auch Kirchenmuffel sollten einen Blick ins Innere risikieren. Denn hier kann man einen Marc Chagall der besonderen Art erleben. Vom Meister des Expressionismus höchstselbst stammen die Fenster des Chors. Und wenn dann auch noch der Orgelmeister ein Ständlein gibt, dann ist die Atmospäre einfach perfekt.
Am weiträumigen Bellevueplatz jenseits der Brücke, beherrscht vom pompösen Opernhaus, knickt der Kurs nach rechts auf den Utoquai und damit zum Ostufer des Sees ab. Mondäne Hotels wie das Eden du Lac reihen sich hier aneinander.
Wenig später erreichen wir das Zürichhorn, einen in den See ragenden Landvorsprung und ohne Zweifel einer der lauschigsten Winkel im Dunstkreis der Züricher City. Aus der Straßenperspektive bekommen wir nur am Rande etwas von der wunderschönen Parklandschaft mit, die für viele Züricher auch ein überaus beliebtes Joggingziel ist. 2007 waren die Wege entlang des Zürichhorns noch Teil des Streckenkurses, aber gemäß dem Motto "Schnelligkeit vor Schönheit" ist dieses Teilstück wohl einer Streckenoptimierung zum Opfer gefallen.
Einen Kontrapunkt im Parkgelände setzt ein höchst eigenwilliger, in das üppige Grün eingebetteter, bunter Baukörper mit scheinbar darüber schwebendem Faltdach. Das Heidi Weber-Haus gilt als letztes Meisterwerk des Stararchitekten Le Corbusier. Gleich daneben fallen eine kaminrote Mauer und darüber spitzende gewundene Dächer mit dunkelgelb glacierten Schindeln ins Auge. Hinter der Mauer verbirgt sich der Chinagarten, ein Geschenk der südchinesischen Partnerstadt Kunming. Mit seinen Kanälchen und Bambushainen, Pavillons und Halbmondbrücken setzt die Gartenanlage einen zusätzlichen exotischen Akzent.
Am Chinagarten endet unser erster Ausflug an die Ostküste und wir werden über die parallel verlaufende Dufourstraße zurück gen City, geradewegs dem sich mächtig am Horizont auftürmenden Opernhaus entgegen, gelotst. Über Bellevueplatz und Quaibrücke erreichen wir wenig später erneut den Bürkliplatz.
Vom Platz zweigt unser Kurs nun nach rechts ab und bringt uns via Bahnhofstraße direkt ins Herz der Altstadt hinein. Der Straßenname mag für Außenstehende banal klingen. Doch die Bahnhofstraße ist die Züricher, ja die Schweizer Edelmeile schlechthin. Juweliere, Modedesigner und alles sonstige, was Shopping edel, exklusiv und unerschwinglich macht, geben sich hinter prächtigen neoklassizistischen Fassaden die Klinke. Auf dem Paradeplatz treffen wir gleich auf mehrere hochkarätige Insignien Schweizer Klischees: Hier repräsentieren die Credit Suisse mit einem neobarocken Bau a la Stadtschloss den Finanzplatz Zürich, das Grand Hotel Savoy Baur en Ville die Schweizer Hotelleriehochkultur, das legendäre Cafe Sprüngli das Schweizer Schololadenimperium. Und um das Schweizklischee zu perfektionieren, geben drei Alphornbläser ihr bestes.
Im weiteren Verlauf der Bahnhofstraße wird das Konsumangebot wieder etwas volksnäher und wenn nicht gerade Sonntag ist, fluten tagsüber noch weitaus dichtere Menschenscharen als jetzt Marathonis die Straße. Fast in ihrer gesamten Länge von 1,4 km dürfen wir die Bahnhofstraße durchmessen, ehe wir kurz vor dem Hauptbahnhof mit seinem monumentalen Südtor nach links abzweigen. In einigen Kurven geht es durch nicht ganz so geschäftige Teile der Altstadt, ehe – mal wieder – der Bürkliplatz das Ende unserer Altstadtrunde markiert. Nur am Rande streifen wir ihn, schon geht es weiter auf dem General Guisan Quai, benannt übrigens nach dem Oberbefehlshaber der Schweizer Armee, dem es im letzten Weltkrieg gelang, die Schweizer Neutralität zu sichern.
Fast schon können wir den Start-Ziel-Bereich erschnuppern, aber so schnell geht es dann doch nicht. Eine kleine Schleife müssen wir drehen, ehe wir den Mythenquai quasi von hinten wieder aufrollen dürfen. Mit großem Hallo einschließlich Cheerleader Girls-Empfang geht es unter dem Zielbogen hindurch. Zur überbordenen Stimmung trägt auch bei, dass gleich nebenan der Einlauf der immerhn 2.500 10 km-Cityläufer eingerichtet ist. Die sind zwar erst zehn Minuten nach den Marathonläufern gestartet, doch haben die Spurtstarken das Marathonfeld längst von hinten aufgerollt. Während für die einen das Rennen zu Ende ist, geht es für die Marathonis jetzt erst richtig los.