„Hier läuft das Ruhrgebiet“ ist das Motto des Vivawest-Marathons. Sehr treffend, denn die Strecke verbindet gleich vier große Städte: Gelsenkirchen, Essen, Bottrop und Gladbeck. Beinahe wäre ja einmal aus dem Ruhrgebiet eine einzige Riesenstadt entstanden. Im Zuge der industriellen Revolution entwickelte sich die Region nämlich zum größten Ballungsraum Preußens. Ein Zusammenschluss von mehreren Kommunen war jedoch nicht erwünscht, um die Position und Bedeutung von Berlin nicht zu gefährden. Vor Ort konnte man gut damit leben. Zumindest lassen die späteren kommunalen Neugliederungen 1970 und 1975 diesen Schluß zu, denn jede einzelne Kommune kämpfe und bangte um ihre Eigenständigkeit. Heute bemüht man sich wieder verstärkt um Zusammenarbeit. Der Vivawest-Marathon ist ein gutes äußeres Beispiel dafür. Die Rekordbeteiligung von insgesamt 8.043 Teilnehmern auf allen angebotenen Strecken ist auch dem Umstand geschuldet, dass hier viele an einem Strang ziehen.
Mit meiner Familie reise ich bereits am Freitagabend an. Trotz meiner vielen Marathonteilnahmen warte ich ungeduldig auf den Beginn der Veranstaltung. Damit bin ich nicht alleine, bereits vor 10.00 Uhr am Samstag warten die Ersten auf die Öffnung der Startnummernausgabe. Ein Gedränge gibt es aber nicht und nach kurzer freundlicher Bedienung halte ich meine Unterlagen in den Händen. Damit bleibt genug Zeit, das Weltkulturerbe „Zeche Zollverein“ zu erkunden. Hinauf geht es unter anderem auf eine Aussichtsplattform in 45 Meter Höhe. Unter fachlicher Führung bekomme einen umfassenden Eindruck vom Pott. Die Strecke liegt mir praktisch zu Füßen, wenn ich sie vor lauter Bäumen denn erkennen könnte. Das wäre zu den Hochzeiten der Steinkohleförderung sicher noch anders gewesen. Die Emissionen bei der Produktion von 12 Tonnen Steinkohle pro Tag ließ der Natur kaum eine Chance. Gesehen hätte ich durch den Kohlestaub, der damals noch ungefiltert in die Luft geblasen wurde, wohl nichts.
Die Nacht ist kurz. Wie ganz Fußballdeutschland verfolgte auch ich das Pokalfinale, dessen Ausgang mir zwar nicht gefiel, aber nicht den Schlaf raubte. Pünktlich bin ich am Startplatz am Musiktheater in Gelsenkirchen. Sofort stoße ich auf Dirk, der die Pace für 4:30 macht. Noch hoffe ich, schneller zu sein. Das Wetter könnte mir jedoch einen Strich durch die Rechnung machen. Das Thermometer zeigt bereits mehr als 20 Grad an. Vom vorhergesagten Regen keine Spur. Ab 9.00 Uhr gehen die Halbmarathonis auf die Piste und machen Platz für unseren Start.
Im Block hat sich bereits Pater Tobias mit ein paar Mitstreitern eingefunden. Er ist heute wieder für einen guten Zweck unterwegs, wie auch der Club 21, der Menschen mit Down-Syndrom hilft. Noch ehe ich mir darüber Gedanken machen kann, ob hier denn jeder selbstlos für eine gute Sache antritt, ist es bereits 9:30 Uhr. Die Arme um mich herum erheben sich zum Klatschen, der Countdown wird herunter gezählt, der Startschuß ertönt und unter einer Wolke aus blau-weißem Konfetti werde ich auf die Strecke gespült. Die etwas mehr als 1000 Marathonis finden auf dem ersten Kilometern schnell ihr Tempo. Ich reihe mich hinter dem Ballon für 4:00 Stunden ein, so optimistisch bin ich dann doch.
Genau wie viele andere lasse ich es locker angehen auf den ersten Kilometern, das Feld ist noch dicht beisammen, die Läuferschlange reicht auf diesem geraden Streckenabschnitt bis zum Horizont. KM 3 ist erreicht und damit Essen. Eine kurze, dichte Baumallee, dann zeigen lediglich die Ortsschilder den Stadtwechsel an. Dann Schrecksekunde, vor uns taucht der 3:00 Stundenballon auf. Bin ich viel zu schnell oder die Tempomacherinnen viel zu langsam? Schnell klärt sich der Sachverhalt: Die Damen machen die Pace für die Halbmarathonis. Kurz vor KM 5 kommen mir auch schon welche entgegen. Sie haben hier ein kleines Begegnungsstück. Marathonis kann ich keine erkennen. Gut so, denn unsere Strecken haben sich vorher getrennt.
Ich biege nach rechts von der Gelsenkirchener Straße ab und stehe vor der Zeche Zollverein. Dieser Eingang wurde früher nur für Ehrengäste zu besonderen Anläßen geöffnet. Dementsprechend ist die Architektur. Die zwei Pförtnerhäuschen dienten nur der Symmetrie der Anlage. Die Gäste wurden auf dem Rasen direkt vor dem Förderturm empfangen, um die Kathedrale der Arbeit entsprechend würdigen. Doch soweit komme ich heute nicht, da mich die Strecke vorher nach rechts führt. Dafür kann ich die Bauhausarchitektur der weiteren Anlage bewundern, die zwischen 1928 und 1932 errichtet wurde. Abgelenkt werde ich nur kurz von der 2. Verpflegungsstelle. Schweiß ist schon jetzt genug geflossen, der will ersetzt werden.
Apropos: So hart wie ein Marathon auch sein mag und so viel Schweiß auch vergossen wird – mit der schweren Arbeit der Kumpel ist das nicht vergleichbar. Lautstark feuert uns ein solcher in Uniform an. Weiter geht es, vorbei an der Kokerei. Bereits 1986 wurde die gesamte Anlage außer Dienst gestellt. Steinkohle war kaum noch gefragt und nicht rentabel, und das, obwohl die Zeche bereits bei ihrer Inbetriebnahme fast voll automatisiert war. Etwa 250.000 Beschäftigte verloren im Bergbau ihre Arbeit und das zur Zeit der Weltwirtschaftskrise, ohne entsprechende soziale Absicherung. Gut, daß diese Zeiten hinter uns liegen.
KM 7 ist erreicht, die Halbmarathonis sind bereits abgebogen, wir sind am Ende des Zechengeländes. Vor mir tauchen Jörg und Ralf auf, der eine taubblind und der andere gehörlos. Gemeinsam werden sie heute den Marathon finishen und damit eine Leistung vollbringen, die ich mir nicht mal ansatzweise vorstellen kann. Respekt dafür und für das Vorbild, das sie anderen geben. Ich passiere den ersten Staffelwechselpunkt, den frischen Läufern werde ich nicht folgen können. Dafür orientiere ich mich weiter an den 4 Stunden-Pacemakern.
KM 9: an der Verpflegungsstelle ist der Andrang groß. Die Sonne brennt jetzt heftig und hält die Temperaturen hoch. Die nächsten Kilometer führen mich weiter über die Herzogstraße, die so breit ist, dass die Schatten der Bäume einen nichts nützen. Auf der Eisenbahnbrücke bringt ein frischer Wind leichte Kühlung. Auf dem nächsten Kilometer geht der Blick wieder weit voraus. Bunte Läufershirts erfreuen meine Augen, ich bin immer noch mitten drin. Das kann sich aber schnell ändern, denn bei KM 11,5 gibt es eine unerwartete Steigung, eine kurze Gehpause ist angesagt. Überhaupt bin ich vom welligen Profil der Strecke etwas überrascht. Zum Glück sind die Steigungen nicht allzu lang. Jetzt nach rechts abbiegen und ich habe den Stadtkern von Essen erreicht. Vom Rathaus sehe ich nicht viel, lerne aber das hiesige Einkaufszentrum kennen, denn wir laufen mitten durch.
Anschließend wartet bereits der Kennedyplatz mit der nächsten Verpflegungsstation. Rechts vor der Marktkirche grüßt Alfred Krupp von einem Sockel. Er machte aus der Kruppschen Gussstahlfabrik seines Vaters im 19. Jahrhundert das größte Industrieunternehmen Europas und prägte damit die Entwicklung des Ruhrgebietes wesentlich und nachhaltig. Doch das ist längst vorbei, das Unternehmen ging in der ThyssenKrupp AG auf, die Schwerindustrie ist neben anderen nur noch ein Wirtschaftsfaktor. Ein neues Standbein erwartet mich beim KM 13, denn hier durchlaufe ich das Universitätsviertel. Wissen und Bildung sind angesagt. Zwischen den modernen Wohnblöcken bieten großzügig gestaltete Wiesen- und Wasserflächen Licht und Raum, die Gedanken schweifen zu lassen. Altes muss Neuem weichen. Nach dem Universitätsviertel kommt man auf eine alte Bahntrasse, die zu einem Radweg umgebaut wurde. Die Fördertürme der ehemaligen Zechen Helene und Amalie, überspannt von einer Stromtrasse, sind ein typischen Ruhrpott-Motiv.