Der Tourismusverband Paznaun – Ischgl hat sich etwas Besonderes einfallen lassen: „Wegen der aktuellen Verordnungen fällt der Silvrettarun 3000 dieses Jahr leider aus. Keine Sorge, der Event wird dennoch nicht komplett ausfallen. Auch in diesem Jahr werden im Paznaun Sieger gekürt - virtuell. Ausgeschilderte Strecken können abgelaufen und per App getrackt werden. Das Coole dabei ist: nicht nur der Schnellste hat die Chance auf einen hochwertigen Gewinn, sondern JEDER der eine Strecke erfolgreich beendet. Somit kommen alle Lauffans voll auf ihre Kosten. Startpunkt ist beim Silvrettaplatz direkt bei der Silvretta-Seilbahn in Ischgl. Dort befindet sich der Startbogen.“
Mitmachen kann man bis zum 30. September 2020.
Weitere Informationen dazu gibt es hier.
Als Rückblick haben wir den Laufbericht von Daniel Steiner von der Premiere des Silvrettarun 3000 im Jahr 2012 ausgewählt.
Laufberichte mit vielen Bildern gibt es auf
Marathon4you und Trailrunning.de
Seit bald vier Jahrzehnten gibt es den Silvretta Ferwall Marsch. Dieses Jahr werden die Böcke aber von den Schafen getrennt, will heißen, es gibt eine Entflechtung von Wanderern und Läufern. In aller Stille hat der Tourismusverband Paznaun - Ischgl in Zusammenarbeit mit dem Schiclub Silvretta Galtür eine neue Laufveranstaltung vorbereitet, den Silvretta Run 3000. Drei Strecken sind im Angebot: Small, Medium und – nein, nicht Large – Hard.
Niemand muss mich überreden, mich als Premierengast zur Verfügung zu stellen. Aber das Privileg hat seinen Preis. Für den Griff nach dieser Krone muss ich ein Joch auf mich nehmen. Bei der Ankunft in Ischgl sind die Berge wolkenverhangen, im Tal sieht es aber grundsätzlich nach gutem Laufwetter aus. Ischgl, Epizentrum des Eventtourismus, wo in der allgemeinen Perzeption Skifahren nur ein Vorgeplänkel für intensive Après-Ski-Aktivitäten ist, wirkt wie ausgestorben. Keine Spur von Remmidemmi und Halligalli. Eine kleine Gruppe von Läufern holt sich bei einem Zeltstand gegenüber der Talstation der Fimbabahn die Startnummern und die Transponder für die Zeitmessung und legt die Sporttaschen für den Transport ins Ziel auf einen PKW-Anhänger. Geparkt habe ich geschätzte 50 Meter von der Startlinie entfernt und für den Boxenstopp vor dem Start stehen die gut dimensionierten Toilettenanlagen in der Seilbahnstation zur Verfügung.
Ich bin eben daran, meine Ausrüstung auf Gebirgstauglichkeit zu ergänzen, da kommt mir das Gerücht zu Ohren, dass der lange Kanten nicht gelaufen werden könne, was mir auf Nachfrage hin von offizieller Seite bestätigt wird. Auf Empfehlung der Bergwacht muss von einem Aufstieg zum Kronenjoch abgesehen werden. Jetzt habe ich das Joch des Frühaufstehens auf mich genommen und nun bleibt mir der Griff nach der Krone verwehrt. Die Enttäuschung ist groß, aber auch das Verständnis für diesen Entscheid. Dass letztendlich immer noch die Natur regiert, weiß man im Paznaun nur zu gut.
Dieser Herrschaft zollt man wieder einmal Tribut, allerdings auf harmlose Art. Es wird Plan B gezückt, welcher vorsieht, dass auch die „Harten“ die Medium-Strecke laufen werden. Diese ist zwar fast 15 Kilometer kürzer und weist 300 Höhenmeter weniger auf, verfügt aber über die gleiche Charakteristik. Während es beim Kronenjoch, wo streckenweise der Weg unter anderem über Schneefelder nicht als solcher zu erkennen ist und es bei dichtem Nebel praktisch keine Sicht gibt, sind auf der kürzeren Strecke in Sachen Sicht und Sichtbarkeit des Weges die Bedingungen im sicheren Bereich.
Völlig unaufgeregt geht es um 08.00Uhr zur Sache, als wie geplant die beiden Teilnehmerfelder losgeschickt werden, nun also auch auf die gemeinsame Strecke. Der Versuchung, zu schnell zu starten, stellt sich gleich zu Beginn die Steigung im Dorf entgegen. Kaum ist man an der Kirche vorbei, ist man schon über dem Dorf und steht vor der Frage, welche Gangart die effizienteste ist. Ich entscheide mich vorerst fürs Gehen. Gegen die Mittelstation der Fimbabahn hin bin ich in einem gemächlichen Laufschritt unterwegs und das wird mit kurzen Unterbrechungen lange so dauern. Wie lange kann ich nicht sagen. Ohne Uhr am Handgelenk und ohne Kilometermarkierungen am Wegrand laufe ich einfach, aufs eigenen Wohlbefinden horchend.
Ich bin froh, dass ich weiß, dass ich allenfalls auf meinen Trinkvorrat im Rucksack zurückgreifen kann, denn bis zum ersten Verpflegungsposten dauert es eine ganze Weile. Mit dem Regen, der zur Startzeit eingesetzt hat und der tiefen Temperatur stellt das kein Problem dar, bei sommerlichen Bedingungen wäre ich ohne eigenen Vorrat und ohne Wasserstelle bis zur Tränke an der Gampenbahn am Leiden. Dort, nach über acht Kilometern auf Asphalt, gibt es nach dem Auftanken mit Iso, Wasser, Bananen und Riegel einen Wechsel auf Naturbelag. Während vorher schon die Umgebung Berglaufgefühle verbreitete, ist es jetzt auch der Untergrund. Sicher ist das Fimbatal im Sonnenschein und mit Ausblick auf die umliegenden Gipfel eine besondere Augenweide, doch auch jetzt, mit den wechselnden Wolken- und Nebelschwaden und dem sich daraus ergebenden Spiel von mehr und weniger Licht und einem Hauch von Schatten, hat es seinen Reiz.
Irgendwann erinnern Hinweisschilder daran, dass quer zum Tal der Grenzverlauf zur Schweiz liegt. Was über weite Entfernungen hinweg und unter Berücksichtigung kultureller Unterschiede normal erscheint, wird in einem solchen Augenblick zu etwas Abstraktem, Unverständlichen. Hüben wie drüben gibt es keine sichtbaren Unterschiede.
Weiter vorne liegt die Heidelberger Hütte, was bedeutet, dass es wieder Verpflegung gibt und dass mit 14km schon fast die Hälfte der Medium-Strecke hinter uns liegt. Mit Wasser, Cola, Iso und Schokoriegeln ist alles vorhanden, was es braucht, um den Speicher zu füllen, bevor es weitergeht.
Auf der schwarzen Matte wird meine Anwesenheit registriert, dann wird es so richtig kernig und knackig. Mindestens im übertragenen Sinne. Unter den Sohlen bedeutet das Trail der tiefen Sorte. Mir sagt der Mix zwischen Felsbrocken und Matsch zu. Es ist, wie wenn im Kopf ein Schalter umgelegt wird. Es ist nicht nur ein Gefühl. Je steiler es wird, umso näher rücke ich zu denen vor, die mir zuvor im Tal uneinholbar weit entfernt schienen. Es tropft von meinem Gesicht herunter, ohne dass ich weiß, woher die Flüssigkeit kommt. Regen, Nebel, Schweiß – oder tropft einfach die Nase? Egal, das Gefühl ist gut. Weit oben, über einem der vermehrt auftretenden Schneefelder, sehe ich ein paar Leute des Sicherheitspostens. Tief unter mir, aber distanzmäßig nicht weit entfernt, sehe ich die Beiden, welche mir vor einiger Zeit den Vortritt ließen. Wenn ich diejenigen direkt über mir sehen wollte, müsste ich den Kopf so in den Nacken legen, dass ich in Gefahr käme, das Gleichgewicht zu verlieren, also lasse ich es bleiben.
Und dann ist die Sache geritzt. Ich erreiche den höchsten Punkt der Medium-Strecke, das Ritzenjoch auf 2688m. Die vier hier oben postierten Leute sind nicht nur um unsere Sicherheit besorgt, auch Wasser und Riegel werden bereitgehalten. Der „Lion’s“ ist – so knapp über dem Gefrierpunkt – pickelhart aber hoch willkommen. Auf dem Wegweiser steht, dass es bis nach Galtür und Mathon drei Stunden zu wandern sind. Mathon ist der Name eines zu Ischgl gehörenden Ortes und nicht etwa die Kurzform von Marathon, obwohl es gerade heute dieser Auslegung bestens gerecht würde. Drei Stunden werde ich bis zum Ziel nicht brauchen, dafür ist der Trampelpfad abwärts zu einladend. Über die Geröll- und Schneefelder hinab lasse ich es für meine Verhältnisse so richtig krachen.
Man sagt, dass es für den Laufsport fast nichts an Ausrüstung braucht. Nur ein paar Schuhe und Klamotten. Das mag für Feld, Wald, Wiese und Straße so richtig sein. In den Bergen braucht es ein bisschen mehr. Ich bin froh, dass ich dieses gewisse Etwas an den Füssen habe. Das flache Leichtgewicht lässt mich den Untergrund spüren, das Profil krallt sich in Schnee und Matsch fest und die weiche Gummimischung sorgt für hervorragende Haftung auf den nassen Steinen.
Wieder lassen mir ein paar Läufer den Vortritt. Ich bedanke mich und sage vorsichtshalber: „Bis später!“ Ich glaube nicht, dass ich, an der Talsohle des Lareintales angekommen, dieses Tempo werde halten können. Sobald diese erreicht ist, muss auf einem schmalen Holzsteg der Gebirgsbach überquert werden, was für mich eindeutig die größte Herausforderung des heutigen Tages ist. Es geht mit sanftem Gefälle weiter und zuweilen drücken ein paar scheue Sonnenstrahlen zaghaft durch die Wolken. Geröllfelder mit Alpenrosen durchsetzt auf der linken Seite des Wegs, rechts eine stetig wechselnde Erscheinung des Fließgewässers. Einmal breitet es sich wie in ein Flussdelta breit im Talgrund aus, dann mäandriert es munter fließend an saftigen Weiden und Geröllkegeln vorbei, welche wie Mahnfinger der Natur daran erinnern, dass man sich hier der Umgebung anpassen muss, weil es umgekehrt nicht geht.
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Auf einer Kiesinsel steht eine Kuh, die hinteren Klauen im Wasser, wie wenn es das Normalste wäre und der Alltag einer bovinen Alpbewohnerin aus nichts anderem bestehen würde. Bei der Lareinalpe begrüßen mich ein paar Wanderer und gemeinsam werden wir von ein paar Gehörnten begrüßt. Die einen waren Ziegen. Und das andere? Auf jeden Fall war es kein Faun, auch wenn in dieser Landschaft Platz für Märchengestalten wäre.
Wenig später gibt es wieder einen Verpflegungsposten. Da habe ich gleich doppelt Glück: Erstens kann ich mich mit Cola für die, laut Angaben der freundlichen Helferinnen, verbleibenden sechs Kilometer stärken, zweitens weisen mich die beiden jungen Damen darauf hin, dass die beiden Wegweiser in eine andere Richtung zeigen als die, in welche ich weiterlaufen will… „Jetzt geht es nur noch hinunter nach Galtür“, sagen sie aufmunternd. Hier ist die Waldgrenze und es ist eben dieser Wald, der die folgende Überraschung verbirgt. Für Bewohner eines Bergtals ist ein Gegenanstieg, wie er sich kurz darauf über eine gefühlte Ewigkeit hinzieht, offensichtlich nicht der Rede wert. Danach kann ich es dafür zünftig und ziemlich lang rollen lassen.
Beim Verlassen des Waldes sehe ich Galtür in ansprechender Entfernung und endlich wieder Läufer vor mir. Habe ich mich tatsächlich von der Spreu zum Weizen vorgekämpft oder war der Abstand zur vorderen Spreu einfach etwas groß? Weil ich heute weniger Kilometer sammeln kann als vorgesehen, beschließe ich, dass ich da weitermache, wo ich auf dem Ritzenjoch begonnen habe. Folglich versuche ich, als Alternative zu den fehlenden Kilometern, einfach noch mehr Geschwindigkeit draufzupacken. Lustvoll quäle ich mich zum nächsten Läufer vor und liefere mir mit ihm einen Positionskampf. Auf dem Pfad durch die Wiese kann ich auch den Abstand zur Läuferin vor mir verkleinern, einer Teilnehmerin auf der um 10.00Uhr gestarteten Small-Strecke. Kaum sind wir wieder auf der geteerten Straße, muss ich zusehen, dass ich dranbleiben kann. Im Schlussstück übers Gras mobilisiere ich meine Kräfte und kann davonziehen und mit Vorsprung ins Ziel vor dem Sport- und Kulturzentrum in Galtür einlaufen.
Nach kurzem Durchatmen zieht es mich in den Eingangsbereich des Zentrums, wo es verschiedene Getränke und Verpflegung gibt und ich gegen Abgabe des Transponderbandes die Depotgebühr zurückerhalte und das Finishergeschenk, eine Alugetränkeflasche, bekomme. Mit der Startnummer gab es auch vier Gutscheine. Den ersten präsentiere ich an der Kasse und die Schranke gibt mir den Zutritt ins Hallenbad frei, wo sich der bekennende Heißduscher unter die - vorsichtig ausgedrückt - erfrischende Dusche stellt.
Das Warme gibt es anschließend im ersten Stock im Saal gegen Abgabe des zweiten Gutscheins in Form von dreierlei Pasta mit ebensolcher Auswahl an Saucen. Dazu wird eine reiche Auswahl an Salaten angeboten. Gutscheine drei und vier werden in meinem Fall in zwei Flaschen Bleifreies umgetauscht.
Ich setze mich beim Essen zu Manu, Chris und Erik; mit den beiden Jungs war ich eine Weile im Fimbatal unterwegs. Als Muttersprachler überlegt er sich nochmals, warum die Streckenvarianten Small, Medium und Hard heißen. Konsequenterweise müsste die kürzeste doch Soft oder die längste Large genannt werden. Nun, ich vermute, dass wer auf 15km 1100 Höhenmeter zurücklegt, nicht wirklich ein Softy ist. Und wer in den Bergen über 43km abspult, sieht sich lieber als harten Hund oder als hartes Schwein (im Sinne von „Quäl dich du Sau“) denn als großen Hund oder großes Schwein…
Von den Veranstaltern ist das Eingeständnis zu hören, dass sie mit dem definitiven Plan für diese Erstaustragung etwas spät auf dem Parkett erschienen, dass sie aber mit dem Teilnehmeraufmarsch durchaus zufrieden sind und uns mit weiteren Bergläufern im Schlepptau hoffentlich im kommenden Jahr wieder begrüßen dürfen. Was mich betrifft, gerne. Nachdem ich mich mit den gebotenen Leistungen des Silvretta Runs 3000 durchaus königlich gefühlt habe, würde ich gerne nach der Krone greifen, zumindest auf dem Kronenjoch.
Auf Wiedersehen beim Silvretta Run 3000 am 17. Juli 2021