Mit 375 Hektar ist der Englische Garten einer der weltweit größten Stadtparks. Seit Ende des 18. Jahrhunderts gibt es ihn schon und und wenn man im Sommer die Menschenmassen entlang der Bäche und auf den weiten Wiesen vor allem im südlichen Teil erlebt hat, dann kann man erahnen, welchen Kultstatus dieser Park bei den Münchnern genießt. Für uns steht allerdings zunächst der weniger populäre, auch Hirschau genannte Nordteil auf dem Laufprogramm. Fast schon meditatives Laufen durch die pure Natur ist hier angesagt. Das Asphaltband des Weges windet sich durch Wiesen und alten Baumbestand gen Norden, bis hin zum Aumeister bei km 10,5. Einfach herrlich. Kurz vor dem Aumeister werde ich durch laute „rechts halten“-Rufe aufgeschreckt: Die Top-Staffelläufer jagen fahrradeskortiert an mir vorbei. Den Gesichtern sieht man schon an: Die haben dabei nicht so richtig Spaß.
Der Aumeister ist einer jeder großen Biergärten, für die München geradezu berühmt ist. Sie sind eine Institution und ein Stück Lebenskultur wie die Weißwurst und die Wies`n. Der Königliche Hirschgarten im Stadtteil Neuhausen ist mit über 8.000 Plätzen gar so etwas wie Weltrekordhalter, aber auch der Aumeister muss sich mit 2.500 Plätzen nicht verstecken. Lange Tische und Bänke, ausladende Kastanien, das Bier im Maßkrug, Steckerlfisch, O`bazda und Riesenbrezen – das sind die essenziellen Ingredienzien eines „g'scheiden“ Münchner Biergartens. Nur muss auch das Wetter passen. Und heute passt es definitiv nicht.
Fünf weitere Kilometer geht es durch den Park, nun südwärts. Unter dem Isarring hindurch gelangen wir in den Südteil. Die berühmten Highlights – etwa der Chinesische Turm, der Monopteros oder auch der Kleinhesseloher See – bleiben unseren Blicken zwar verborgen, aber nach der Ruhe im Park überraschen uns nach 15 km am Parkausgang dichtgedrängte Zuschauerreihen und feuern uns lautstark an.
Via Tivolibrücke queren wir die Isar und setzen auf diese Weise über nach Bogenhausen. Entlang der Montgelasstraße erwartet uns die größte bergsteigerische Herausforderung des Laufs. Aber ich will nicht übertreiben: Die etwa 20 Höhenmeter, die in dem langgezogenen Anstieg zu überwinden sind, sind nicht wirklich ein Mühsal. Entlang der grüntriefenden Oberföhringer Straße folgen wir nordwärtsgewandt dem Isarhochufer. Dass diese Wohnlage eine der begehrtesten in München ist, merkt man schnell an den vielen Villen, die hier beheimatet sind.
Dass der Münchner Osten jedoch auch ganz andere Seiten hat, dürfen wir wenig später feststellen. Nach etwa 19 km biegen wir ab in die breite Cosimastraße und das bedeutet: Drei schnurgerade Kilometer durch Brachland, Wohnburgen und Gewerbegebiet liegen vor uns. „Mainzer Landstraße“ denke ich nur, und wer den Frankfurt Marathon kennt, weiß, was ich damit assoziiere. Der Vorteil ist allerdings: Muss man in Frankfurt gegen Ende des Rennens da durch, steht der Normalmarathoni in München noch einigermaßen in Saft und Kraft und so werden die Kilometer einfach abgespult.
Kontrastprogramm dürfen wir nach 21 km erleben. Auf Höhe der Denninger Straße ist nicht nur Stimmung, Moderation, Musik und Staffelwechsel angesagt, sondern hier rüsten sich auch 9.000 Halbmarathonläufer zum Start um 13:30 Uhr. Noch ist es nicht so weit, aber die Vorzeichen stehen schon auf „Läufersturm“. Der „Halbe“ hat sich mittlerweile zum teilnehmerstärksten Wettbewerb entwickelt und ist der einzige, der regelmäßig und auch 2015 vorzeitig ausgebucht ist. Im Gegensatz zu anderen Kombiveranstaltungen, wie etwa in Freiburg, hat der Halbe in München den Marathon allerdings nicht kannibalisiert, sodass sich München gar rühmen kann, Deutschlands größten Marathon auszurichten, der gleichzeitig einen Halbmarathon im Programm hat.
Weiter geht es durch Münchens Osten, mittlerweile durch Berg am Laim. Ich gebe ganz offen zu: Nun lebe ich schon über fünfzig Jahre in dieser Stadt und noch immer ist diese Region für mich irgendwie terra incognita. So manches sehe ich zum ersten Mal in meinem Leben. Und ebenso offen gesagt: Da habe ich nicht viel verpasst. Gewerbliches Gelände prägt unseren Laufkurs, einen langen Tunnel müssen wir hindurch und richtig heimelig wird es auch danach nicht. Dafür ist es an der Zeit, einmal ein Hohelied auf die Versorgungsstellen anzustimmen. Alle 2,5 km warten emsige Helfer jeden Alters darauf, uns mit gutem M-Wasser zu versorgen. Alle 5 km stehen zusätzlich Isodrinks, Bananen und Energyriegel im Versorgungsprogramm. Als Beitrag zur Integrationsförderung sind auch einige syrische Jugendliche eingebunden. Was sie sich wohl bei diesem Spektakel denken mögen?
So richtig aufmerksam werde ich erst, als ich nach 26 km das Straßenschild „Friedenstraße“ lese. Nicht, dass die Umgebung entlang der Gleisanlagen am Ostbahnhof besonders anregend wäre, eigentlich ist genau das Gegenteil der Fall. Aber hier, jenseits schäbiger Mauern und Fassaden liegt im Gewerbegebiet der einstigen Pfanni-Fabrik nach wie vor einer der größten Party-Zonen der Stadt. Der einst berühmte Kunstpark Ost (KPO) mit 30 Clubs, Diskos und Bars ist zwar schon lange Vergangenheit, aber in den daraus entstandenen Relikten Kultfabrik und Optimol-Werke tobt nach wie vor das Nachtleben. Wie gesagt: nachts. Jetzt erblicke ich primär Ödnis.
Wenn man es genau nimmt, beginnt die Sightseeing-Tour durch München so richtig erst ab km 27, und zwar dort, wo wir auf die Rosenheimer Straße treffen und dieser gen Stadtzentrum folgen. Aber dafür geht es nun sozusagen Schlag auf Schlag. Vor 13 Jahren war das noch genau anders herum. Da kamen Münchens Osten und der Englische Garten Park gemeinsam mit der Erschöpfung erst zum Schluss. Ohne Zweifel ist die Umdrehung der Laufrichtung laufpsychologisch ein großer Gewinn gewesen.
Die Rosenheimer Straße durchschneidet Haidhausen, einen der stimmungsvollsten Stadtteile Münchens, mit viel alter Bausubstanz, verwinkelten Sträßchen, Lokalen und Kneipen. Davon bekommen wir entlang der Rosenheimer Straße zwar nicht viel mit, aber allein diese Vorstellung wirkt motivierend für mich. Vorbei am Gasteig, einem mächtigen Kulturklotz im Backsteinbarock, geht es im Sauseschritt hinab gen Isar, direkt auf die Ludwigsbrücke. Zur Rechten blicken wir auf das Müllersche Volksbad, Münchens einziges Jugendstilbad. zur Linken auf das auf einer langgezogenen Insel inmitten der Isar thronende altehrwürdige Deutsche Museum. Auch heute noch rühmt es sich stolz als weltweit größtes naturwissenschaftlich-technisches Museums. Selbst wer mit Naturwissenschaften und Technik nichts am Hut hat, sollte sich dieses Museum allein schon wegen der grandiosen Bergwerke nicht entgehen lassen. Der Rundweg ist heute noch so faszinierend wie ich ihn schon als Kind erlebt habe, und das ist doch schon ein paar Jährchen her.
Ein kurzes Stück folgen wir der Isar, die Museumsinsel stets im Blick. Als moderner Kontrapunkt blinkt auf der anderen Straßenseite der Glaspalast des Europäischen Patentamts, Insignie für Münchens Status als europäische Patenthauptstadt. Hier biegen wir ab in die sogenannte Isarvorstadt. Der Kurs führt uns bis zum zentralen Gärtnerplatz. Sternförmig laufen die Straßen hier zusammen. Vor allem an lauen Sommerabenden pulsiert an diesem wunderschönen Platz das Leben, heute pulsiert allerdings nur der Läuferstrom. Dominiert wird der Platz vom Gärtnerplatztheater, das bereits seit Jahren kernsaniert wird und so, wie es derzeit ausschaut, auch noch ein paar Jahre weiter saniert wird.
Das Stadtzentrum rückt näher und näher. Vorbei geht es am Jakobsplatz mit der chicen neuen Synagoge im Hintergrund und der Schrannenhalle, deren eingemottetes, 160 Jahren altes gusseisernes Gebälk man erst 2005 aus der Versenkung, sprich einem Depot, geholt und daraus eine Schickimicki-Markthalle gezaubert hat. Nur leider: Der Zauber hielt nicht lange und so sucht man bis heute fast schon verzweifelt nach einer dauerhaft ökonomisch tragfähigen Nutzungslösung. Gleich daneben haben wir kurz Gelegenheit, einen Blick auf eine der besonders traditionsreichen Attraktionen der Stadt zu werfen: Den Viktualienmarkt. Ein Augenschmaus ist das erlesene, weltumspannende Obst- und Gemüseangebot, das sich an den Ständen türmt. Nur die Öffnungszeiten, zu denen man sich daran erfreuen kann, liegen wir im Moment ganz fern.
Und weiter geht die Hatz. Rechts springt für einen Moment der mittelalterliche Löwenturm und der Turm des Alten Peter, Münchens ältester Pfarrkirche, ins Auge, ehe wir am wuchtigen Gemäuer des Stadtmuseums vorbei den Oberanger entlang traben, einen jener Straßenzüge, deren Verlauf schon durch die historische Altstadt vorgegeben ist. Auf diesem Weg gelangen wir zum Sendlinger Tor, einem der noch gut erhaltenen Stadttore des mittelalterlichen Münchens.