Man sagt ja: Der erste Marathon bleibt unvergesslich. 2002 war das bei mir, in meiner Heimatstadt München. Nun ja: vergessen habe ich ihn nicht. Aber als "unvergesslich" im Sinne von besonders beeindruckend empfand ich das damals auch nicht. Leute an der Strecke: Eher sparsam. Die Stimmung: solala. Die Streckenführung: ja, ganz nett. Ich war mäßig beeindruckt. Aber immerhin marathoninfiziert.
Nach dem Motto "in München leben, in der Welt laufen" habe ich mir in den folgenden 13 Jahre weltweit Marathonluft um die Nase wehen lassen, ehe mir wieder in den Sinn kam: Wie läuft es sich denn mittlerweile in jener Stadt, in der ich geboren, aufgewachsen und mein ganzes Leben verbracht habe?
Zugegeben: So ein Jubiläum ist natürlich ein Anlass, der besonders motiviert. Und 30 Jahre sind eine Hausnummer, die man als Marathon erst einmal schaffen muss. Nach Frank Shorters Olympia-Triumph 1972 gab es schon seit 1977 mit dem Oktoberfest-Marathon erstmalig einen regelmäßigen Volks-Marathon in München, der hinaus zur olympischen Ruderregattastrecke in Oberschleißheim führte. Den will man – aus welchen Gründen auch immer – in der Historie aber nicht mitzählen. Vielmehr beginnt die offizielle Zählung erst mit dem "Olympia-Marathon" ab dem Jahr 1983, der auf einem gen Westen orientierten Kurs durch die Stadt führte. Nach einigen Irrungen und Wirrungen, die letztlich in die Pleite führten, fand die Ära des München Marathon 1996 jedoch ein vorläufiges klägliches Ende.
Es bedurfte schon eines Mannes wie Gernot Weigl, der München aus der marathonischen Versenkung holte und die Tradition ab dem Jahr 2000 mit dem „Medien-Marathon“ wiederbelebte. Neue Strecke, neues Konzept, neuer Erfolg. Mit wechselnden Kursverläufen, weiteren Distanzangeboten und sonstigen Neuerungen war die Veranstaltung dennoch weiterhin im permanenten Zustand der Selbstfindung. Mittlerweile sind es zwischen 6.000 und 8.000 in der „Königsklasse“ und über 20.000 auf allen angebotenen Distanzen, die in München regelmäßig an den Start gehen. Ohne Antritts- oder Preisgelder, ohne Stars, allein auf "local heroes" setzend, hat sich München, gemessen an der Zahl der Marathonfinisher, nach Berlin, Hamburg und Frankfurt als Nummer vier in Deutschland etabliert. Und so ist der Marathon irgendwie letztlich ein Ebenbild der Stadt selbst: groß, dynamisch, erfolgreich, und doch volksnah und bodenständig, „mia san mia“ eben. Dazu passt eben auch ein „Trachtenlauf“ mit anschließendem Weißwurstfrühstück im Vorprogramm.
Auch das Jubiläumsjahr 2015 hält Neuerungen bereit. Und das sozusagen vom Start weg.
Mehr noch als in den vergangenen Jahren ist das Olympiagelände in den Fokus des Münchner Marathonspektakels gerückt. Und wenn es etwas gibt, das das Weltstädtische im Millionendorf München repräsentiert, dann ist es ohne Zweifel dieses einzigartige Ensemble, das uns die Olympischen Spiele 1972 beschert haben.
Die Große Olympiahalle zwischen Olympia- und Schwimmstadion ist von Freitag bis Sonntag erstmals die repräsentative Location für Marathonmesse, Pastaparty und die Ausgabe der Startunterlagen. Auf die Galerie ganz oben und die Arena ganz unten verteilen sich die Ausrüster- und Veranstalterstände und laden zum Bummeln ein, dazwischen ist sportives Treppensteigen angesagt.
Eine weitere Neuerung und ein echtes Highlight ist in diesem Jahr das Startareal. Denn dieses ist erstmals von der Ackermannstraße auf den Coubertinplatz und damit mitten ins Herz des Olympiageländes verlegt worden. Viel Auslauf bietet die riesige Freifläche zwischen Olympiastadion, Olympiahalle und Schwimmstadion, und zudem eine überaus beeindruckende Szenerie. Wie Monsterwellen schwingen sich die von gewaltigen Stahltrossen gebändigten, transparenten Stadiondächer um uns herum durch die Lüfte. Über 40 Jahre sind diese Dächer nun schon alt, aber von ihrer Faszination haben sie nichts verloren. 300 Meter hoch ragt der Olympiaturm aus dem Dächermeer empor. Gen Süden dümpeln tief unter uns die Gestade des Olympiasees vor der üppig grünen Kulisse des sich dahinter auftürmenden Olympiabergs. Heute kaum zu glauben ist, dass sich darunter der städtische Schutt des letzten Weltkriegs verbirgt.
Als schier endlose Karawane ziehen die Läufer am Sonntagmorgen von der nahen U-Bahn und der Großen Olympiahalle aus zunächst einmal gen Stadion, unter dessen Tribünen die Gepäckabgabe eingerichtet ist. Eilig hat es keiner, denn herbsttypischer Hochnebel und 8 Grad Celsius lassen uns frösteln. Ich ahne schon, dass die Sonne heute kaum eine Chance bekommen wird. Um das Stadion herum zieht die Karawane weiter zum Startareal. In drei Blocks, je nach angepeilter Zielzeit, haben wir uns einzureihen. Der Menschenlindwurm aus fast 8.000 Einzel- und Staffelstartern reicht vom Platz über die den Mittleren Ring überspannende Hanns-Braun-Brücke bis weit in Richtung Olympisches Dorf. Musik hallt zur akustischen Erwärmung über den Platz, eine Arie von Gruß- und Dankesworten kündet vom Nahen des Starts.
Um 10 Uhr wird es Ernst für Block A. Ein Knall hallt gen Himmel, aber wie immer bei solchen Großveranstaltungen passiert bei dem, der weiter hinten steht, erst einmal gar nichts, außer dass die gespannte Erwartung weiter vor sich hinköchelt. Lange habe ich überlegt, ob ich im Block A ganz hinten oder im Block B zehn Minuten später ganz vorne starten will. Die Entscheidung wird mir abgenommen – da, wo ich stehe, ist noch Block A und der reißt mich einfach mit. Tja, muss ich eben ein bisserl schneller laufen und fotografieren ….
Gen Süden verlassen wir den Coubertinplatz. Leichtes Gefälle sorgt für zusätzliche Startbeschleunigung. Oberhalb des Olympiasees traben wir dahin. Mein Blick fällt auf das Theatron, das sich vor dem über dem See thronenden Schwimmstadion in den Uferhang schmiegt. Wie oft bin ich da schon bei einem der sommerlichen Konzertevents gesessen ....
Eine weit gespannte Brücke bringt uns an einer Schmalstelle auf die andere Seite des Olympiasees. Zu Füßen des Olympiabergs geht es auf dem Spiridon-Louis-Ring weiter durch die Parkanlagen des Olympiageländes. Der großen „nackerten“ Freifläche zur Rechten sieht man nicht an, dass hier im Frühsommer alljährlich mit dem „Tollwood“ ein mittlerweile gigantisches Multi-Kulti- Ethno-Öko-Festival abgezogen wird.
Wir erreichen die Ackermannstraße und damit das ehemalige Startareal. Über die Elisabeth- und Franz-Josef-Straße geht es geradeaus direkt hinein nach Schwabing, den wohl bekanntesten Stadtteil Münchens. Seinen fast schon legendären Ruf als Ausgeh- und Party-Zone sieht man ihm hier jedoch nicht an. Viel Altbau und herbstlich eingefärbte Laubbäume säumen die Strecke.
Mehr Leben in die Bude kommt ab 4,5 km. Denn hier stoßen wir zum ersten Mal auf die Leopoldstraße, Münchens Flaniermeile Nummer eins. So lausig früh um 10:30 Uhr und noch dazu an einem Sonntagmorgen sind die Schwabinger aber noch nicht ausgeschlafen und so hält sich der Andrang in Grenzen. Aber was soll es: Es macht auch so viel Spaß, diesen breiten Boulevard mit seinen hohen, schlanken Alleebäumen in Richtung Siegestor, Münchens Kleinausgabe des Arc de Triomphe, so ganz autofrei entlang zu laufen. Ohnehin dürfen jetzt nur kurz das „Leo-Feeling“ schnuppern. Denn die Verlegung des Starts auf den Coubertinplatz hat dazu geführt, dass just hier an der Strecke geknappst wurde und wir schon vor dem Siegestor an einer Wendemarke wieder in die Gegenrichtung gelotst werden. Macht nichts: In drei Stunden werde ich erneut hier sein. Hoffentlich. Nicht zu übersehen und geradezu symbolhaft ist der „Walking Man“, der 17 Meter hoch und blendend weiß vor dem Portal der Münchener Rück zwischen den Bäumen hervor spitzt.
Auf Höhe der Franz-Josef-Straße ist der Ausflug auf die Leopoldstraße schon wieder beendet. Nach rechts geht es weiter durch teils fast schon dörflich wirkendes altes Schwabing. Eine idyllische Wohngegend ist hier, und das mitten in der Stadt, nur mittlerweile praktisch unerschwinglich. In der Mandlstraße passieren wir Münchens schönstes und begehrtestes Standesamt, mit Portikus im Zugang und direkt am Englischen Garten gelegen. Kurz vor dem Zugang zum Park ist bei km 7 die erste Wechselstelle der Staffelläufer eingerichtet. Noch ist es ziemlich ruhig, denn die ersten Staffelläufer sind erst um 10:20 gestartet und haben uns noch nicht eingeholt. Kurz darauf verschluckt uns dichter Laubwald: Wir sind im Englischen Garten.