Ob ein Berg zum Mythos wird, hängt viel von den Geschichten ab, die sich um ihn ranken. Und solche Geschichten gibt es zum 3.970 m hohen Eiger im Berner Oberland zuhauf, auch wenn es vor allem Dramen ohne Happy End sind. Es ist die berühmt-berüchtigte Eiger-Nordwand, 1.650 Meter senkrecht abfallender Fels, die immer wieder die Elite der Bergsteiger heraus gefordert und viele das Leben gekostet hat. Zum Inbegriff der Härte, der Herausforderung, und auch des Scheiterns ist der Eiger dadurch geworden. Zum Mythos beigetragen mag auch haben, dass sich diese Dramen in der Wand nicht irgendwo im himalayanischen Nirwana abspielten, sondern sie für jeden, der es wollte, sichtbar waren. Von Grindelwald, dem traumhaft gelegenen größten der Bergorte im Berner Oberland aus, hat man beste Sicht auf die Schicksalswand.
Dieser Mythos strahlt ohne Zweifel auch auf einen Lauf ab, der den Eiger im Namen führt. So wundert es wenig, dass der Premierenlauf des Eiger-Ultratrail mit Start und Ziel in Grindelwald schon Wochen vor dem Start am 21.07.2013 ausgebucht ist. Drei Distanzen haben die Veranstalter im Premierenprogramm: Den als "Genusstrail" bezeichneten E16 mit +/- 960 Höhenmetern für konditionsstarke Bergenthusiasten, den "Panorama Trail" E51 mit +/- 3.110 m für die Hartgesottenen. Und als Herzstück: Den "Ultra Trail" E101 mit +/- 6.690 m für die Extremisten. Außenstehende mögen auch sagen: die Verrückten. Und die sind offenbar in der Überzahl. Denn das Limit von 400 Startern ist hier am schnellsten erreicht. Zum Schluss sind es, wie auch immer, 450 aus 26 Nationen, die in der Starterliste des E101 geführt werden, darunter bekannte Namen aus der Ultraszene wie Iker Karrera und Urs Jenzer.
Eine der renommiertesten Adressen unter den Schweizer Bergdörfern ist Grindelwald. Weitläufig verteilen sich die knapp 4.000 Einwohner der Gemeinde in 1.034 m Höhe im Talkessel der Schwarzen Lütschine, umrahmt von diversen Drei- und Viertausendern. Überschaubar und dörflich geprägt ist das Ortszentrum. Nichtsdestotrotz: Für eine gewisse Weltläufigkeit sorgt allein schon die Tatsache, dass es so etwas wie einen Kongresssaal gibt, auch wenn dieser sich dörflich bescheiden gibt. Und hier ist die gesamte Infrastruktur rund um die Laufveranstaltung konzentriert: Startnummernausgabe, Messe und Pasta-Party im Freigelände. Und auch Start und Ziel.
Bei der Abholung der Startunterlagen am Freitag muss man seinen Laufrucksack mit dem Pflichtgepäck gleich mitbringen und alles vorzeigen, bevor man die Startnummer bekommt. Während man das etwa beim UTMB schon etwas lockerer angeht und sich mit einer "Ehrenerklärung" begnügt, schauen sich die Offiziellen hier genau an, ob man z.B. zwei Lampen mit Ersatzbatterien dabei hat. Meine Prüferin ist überaus freundlich und charmant. Und lässt mich dennoch gleich mal "durchfallen". Meine Regenjacke findet keine Gnade: zu windig, zu wasserdurchlässig. Was tun? Rettung verheißt die Laufmesse. Und ehe ich mich versehe, bin ich stolzer Besitzer eines sündhaft teuren neuen Regenschutzes.
Um 19:30 Uhr wird es rappelvoll im Kongresssaal. Die Teilnehmer sammeln sich zum obligatorischen Briefing. Zur Einstimmung, quasi als Trailer zum morgigen Lauf, wird ein Motivationsfilm mit Bildern von der Strecke gezeigt. Der macht Laune und lässt die Vorfreude kräftig hochkochen. Hinweise zur Strecke und deren Markierung sowie zu "Risiken und Nebenwirkungen", locker lässig präsentiert, folgen. Auch auf Schnee dürfen wir uns einstellen, doch wo, kann keiner so genau sagen. Schon um 20 Uhr ist die Show vorbei. "Nightlife" ist danach wohl bei den wenigsten angesagt, denn am nächsten Tag müssen wir schon vor dem ersten Hahnenschrei aus den Federn.
Samstag, 3:30 Uhr. Der Alarm meiner Uhr fiept. Es ist noch finster draußen, hellwach bin ich dennoch sofort. Ein kurzes Frühstück, ein letzter Check. Durch das nachtschlafende Grindelwald marschiere ich zum Startgelände. Im gleißenden Scheinwerferlicht wuselt hier schon ein wilder Haufen trailmäßig aufgestylter Gestalten umher. Ungewöhnlich ruhig, aber auch entspannt ist es: keine Musik, kein Moderator, fast geheimbündnerisch wirkt die Versammlung.
Um 5 Uhr ertönt das Signal zum Aufbruch. Langsam trabt der Pulk los, hinaus aus dem Licht, hinein in die Dunkelheit. 28 Stunden, bis 9 Uhr am nächsten Tag, haben wir Zeit, um hierher zurückzukehren. Und ich bin mir in diesem Moment gar nicht sicher, ob mir das gelingen wird.
Nur ein kurzes Stück führt uns der Weg noch durch Grindelwald, dann zweigen wir schon ab auf einen Weg, der uns direkt in die Natur führt. Das Rauschen des Bachs ist das einzige Geräusch, das durch die Nacht schallt. Durch Wiesen geht es zunächst noch relativ bequem und moderat im Trab auf und ab. Schnell zieht sich die Läuferschlange in die Länge und auch ohne künstliches Licht findet man den Weg in der fahlen ersten Morgendämmerung. Und da, wo es richtig dunkel wird, zwischen den Bäumen, reicht das Licht einiger Stirnlampenträger für alle. Eine Engstelle erwartet uns bei km 1,7. Nur einer nach dem anderen kann eine schmale Brücke queren. Doch höchst gesittet geht es zu. Niemand drängt, niemand drückt.
Immer steiler, steiniger und ausgesetzter wird der Weg. Die Läuferschlange bewegt sich homogen und ameisenstraßengleich auf dem Pfad dahin. Nur wenige wenden zusätzliche Energie für ein Überholmanöver auf. Hohe, steile Felswände schälen sich zu unserer Rechten aus der Dunkelheit. Es sind die Ausläufer des Wetterhorns (3.701 m), die hier den Talsaum bilden. Schnell wird es nun heller, nur die Sonne lässt am wolkenlosen Himmel noch auf sich warten.
Rasch gewinnen wir an Höhe. Anstrengend und trotz der Morgenkühle überaus schweißtreibend ist der Anstieg, aber noch haben wir genug Energie. Nur kurz sorgt eine bequeme Asphaltstraße dafür, aus dem schnellen Marsch in den Laufschritt zu wechseln, schon geht es durch den Bergwald weiter hinauf. Es ist kurz nach sechs Uhr, als sich die Sonne erstmals zeigt, auch wenn es erst nur der schneebedeckte Gipfel des Eigers hinter uns ist, den sie zum Erleuchten bringt.
Immer rarer werden die Bäume, offener wird das Gelände. Es ist gerade 6:25 Uhr, als das eher unscheinbare Berghotel das Erreichen der Großen Scheidegg (1.962 m üNN), der Passhöhe zwischen dem Tal der Schwarzen Lütschine und dem benachbarten Haslital, verkündet. 7,7 km liegen hinter uns und die ersten 1.000 Höhenmeter sind bewältigt. Bis 7:30 muss man an diesem Punkt "eingecheckt" haben, sonst wird mit von der Rennleitung zwangsweise "ausgecheckt". Ein gutes Gefühl ist es, schon mal ein kleines Zeitpolster für die noch folgenden neun Zeitlimitpunkte aufgebaut zu haben.
Die erste von 13 Verpflegungsposten entlang der Strecke - Start und Ziel nicht mitgerechnet – ist hier eingerichtet. Aber dafür nehme ich mir wenig Zeit. Denn just in diesem Moment, als ich die Passhöhe erreiche, bricht die Sonne über den Bergkamm und flutet die Berghänge vor mir mit ihrem Licht. Was für ein Empfang!