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Laufberichte

An der silbernen Moldau

 

 

Kurz vorher gibt es als weiteren Höhepunkt das Rudolfinum, einen der Paradebauten, mit denen die Tschechen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihre nationale Eigenständigkeit betonen wollten. Das Haus ist Konzertstätte der Tschechischen Philharmonie, eines der seit Jahrzehnten weltweit besten Symphonieorchester. Musik spielte neben der Literatur und Architektur eine große Rolle für die tschechische Nation, die noch kurz nach der Mitte des 19. Jahrhunderts hoffte, ähnlich wie die Ungarn aufgewertet zu werden, indem der österreichische Kaiser sich auch wieder zum böhmischen König krönen ließe. Kurios ist vor diesem Hintergrund die „Triumphsymphonie“ des ersten tschechischen Nationalkomponisten, Friedrich, später Bedřich Smetana. Denn in diesem Werk zitiert er dreimal die österreichische Kaiserhymne – die heutige deutsche Nationalhymne. Für Tschechen ist das bis heute ein trotz seiner Qualität problematisches Stück – auch wenn es hervorragend aufzeigt, wie wenig das damalige Habsburgerreich, eigentlich ein erstes gescheitertes Europa, zu einer klugen Politik fähig war. 60 Jahre später gab es dann dafür mit dem 1. Weltkrieg eine schreckliche Konsequenz.

Das Rudolfinum bleibt rechts liegen und es geht auf die dritte Brücke des heutigen Tages, die Mànesův most (Manesbrücke), benannt nach einem tschechischen Kunstverein, die wie die beiden ersten Brücke wieder mit einem Prachtblick auf die Prager Burg belohnt. Einen Tag später ist hier übrigens Großbaustelle, werden die Straßenbahnschienen herausgerissen, um erneuert zu werden. Gleich hinter der Brücke (km 4) geht es dann rechts nach Osten längs der Moldau flussab, bis nach vier Kilometern die Flussseite gewechselt wird und wir wieder stadteinwärts laufen. 

 


Nach der „Triumphsymphonie“ der Sehenswürdigkeiten in der Prager Innenstadt ist jetzt läuferische Entspannung angesagt. Es ist schön, fast immer am Moldauufer mit Blick auf den Fluss zu laufen und endlich auch zu seinem Rhythmus zu finden. Kurz vor Kilometer 6 beeindruckt ein etwa neunjähriger Junge, der freihändig auf einer Leitplanke balancierend die Läufer abklatscht – und dabei gleichwohl nicht das Gleichgewicht verliert. Seine offenkundige Freude macht spontan so gute Laune, dass ich kurz stehen bleibe, um ihn von allen Seiten  zu fotografieren.  Auch einer Läuferin bereitet das Abklatschen offensichtlich große Freude. Die Szene ist bezeichnend für den gesamten Marathon, denn immer wieder gibt es viele Zuschauer an der Strecke, viele Kinder wollen abklatschen und die Stimmung ist super gut. Es ist wirklich schön, heute Prag zu erleben, sei es als Läufer oder als Zuschauer. In der Altstadt und an den Moldauufern sind alle in ausgelassener Festtagsstimmung! Und besonders schön: Prag ist heute auf der Laufstrecke autofrei zu genießen!

Auf dem Weg zurück in die Stadt ist es auch Zeit für einen kleinen Plausch. Weil man, auch anhand der Shirts, nur selten deutsche Läufer sieht, die bei diesem Marathon deutlich unterrepräsentiert zu sein scheinen, fällt mir Thomas aus Münster mit seiner Deutschland-Kennzeichnung am Rücken auf. Während des Laufs werden wir uns immer wieder sehen. Die Gebäude längs der Laufstrecke werden jetzt, nach einer längere Zeit unbebauten Strecke, zunehmend städtischer, wobei hier selbst ein modernes Gebäude wie das Danubehaus einer Versicherung einen architektonisch durchaus gelungenen Glanzpunkt setzt. An den Verpflegungsstellen – immer im 3-Kilometer-Wechsel nur mit Wasser und dann mit weiteren Getränken sowie Verpflegung – herrscht auch jetzt, nach gut zehn Kilometern, schon großer Andrang. Viele Läufer wissen angesichts der kräftigen Sonneneinstrahlung ihren Getränke- und Erfrischungsbedarf richtig einzuschätzen und nutzen auch gern die reichlich angebotenen Wasserschwämme. Denn die Sonne meint es heute sehr, sehr gut, auch wenn es nur gut warm, aber nicht richtig heiß wird. 

 

 

Zwei Brücken werden unter-, ein längerer Tunnel durchquert. Kurz danach biegen wir links in die Altstadt ab und laufen über die Pařížiská zurück zum Altstädter Ring. Hier „tobt der Bär“, obwohl wir erst gut zwölf Kilometer hinter uns haben: Dafür geht es jetzt entgegen der Startaufstellung die Celetná, die Krönungsgasse, entlang. Weil in der Mitte ein schmaler Streifen nicht gepflastert ist, laufen fast alle Läuferinnen und Läufer im „Gänsemarsch“ hintereinander her – ein hübscher Anblick. Der Pulverturm markiert die Grenze von Alt- und Neustadt, auf der wir auch im Folgenden weiterlaufen. Dabei überqueren wir das untere Ende des Wenzelsplatzes, der allerdings wegen der Marathoninfrastruktur und des baustellenverhüllten Nationalmuseums am oberen Ende des Platzes kaum auffällt. Der Platz ist berühmt wegen der tragischen Vorgänge am 21. August 1968, als der „Prager Frühling“ des liberalen Reformers Alexander Dubček mit Truppen des Warschauer Paktes niedergewalzt wurde. Ich, damals gerade wenige Tage zuvor mit neun Jahren Gymnasiast geworden, kann mich bis heute an den sonnigen Morgen erinnern, als mir meine Mutter diese Vorkommnisse schilderte – und versprach, nie mehr ins „unsichere Ausland“ zu reisen. Noch knapp 25 Jahren später, bei einem Besuch der fantastischen Kleinstadt Český Krumlov (Krumau) in Südböhmen, war sie total verunsichert und das Eis schmolz erst, aber ganz schnell, als die Kellnerin in einem typischen „Wiener Café“ als erstes mit einem Wassernapf für unseren Hund an den Tisch kam!

Prag ist für mich nicht „irgendeine“ Stadt, sondern verbunden mit vielen persönlichen Erinnerungen. Damals vor 25 Jahren trank ich auch Wasser aus der Quelle der Kalten Moldau nahe Bischofsreut im Böhmerwald – kurios, dass eine der beiden offiziellen Quellen der Moldau ausgerechnet in Bayern entspringt und dann noch einige Kilometer auf der bayerischen Seite fließt, ehe sie bei Nove Udoli (Neuthal) die Grenze passiert und sich kurz darauf in Böhmen mit der Warmen Moldau vereinigt. Wer die „Moldau“ von Bedrich Smetana hört, kann gleich am Anfang beide Quellflüsse deutlich unterscheiden. Gerade wegen der glücklichen Erinnerung hat es mich vorhin am Start ungemein berührt und mir die Tränen in die Augen getrieben, als sich 6.000 Läufer zu den Klängen des zehn Minuten lang gespielten „Moldau“-Hauptthemas in Bewegung gesetzt haben. 

Und es folgt gleich die nächste Erinnerung, diesmal an den ersten längeren Besuch 1994 in Prag fünf Jahre nach der „samtenen Revolution“: Damals war Prag noch nicht die unglaublich feine, saubere und glänzende europäische Metropole wie heute. Das Nationaltheater, das wir gerade auf Kilometer 15 passieren und in dem ich damals die „Verkaufte Braut“, die bekannteste tschechische Oper überhaupt, besuchte, war allerdings schon erneuert worden. Es steht, wie Rudolfinum und Nationalmuseum, für die nationale Wiedergeburt in Prag in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Smetana hatte, über ein Jahrzehnt vor Fertigstellung des Theaters, bereits die tschechischste seiner Opern, Libuše, geschrieben, quasi über die Begründerin der böhmischen Nation und den Beginn der 400 Jahre langen Přemysliden-Herrschaft. Diese Oper, für die ich heute, drei Stunden nach dem geplanten Marathonende, eine Eintrittskarte für das Nationaltheater habe, ist interessanterweise trotz ihrer zeitlichen Verortung im frühen Mittelalter überhaupt nicht kriegerisch, sondern hat mit ihrer Betonung gelungener Friedensstiftung durch Barmherzigkeit fast schon pazifistische Tendenz. „Barmherzigkeit“, Mitgefühl heute – wäre das nicht auch etwas für die aktuelle europäische Politik?

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Informationen: Prague Marathon
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