Dass die Japaner zu den laufverrücktesten Nationen gehören, ist hinlänglich bekannt. Das Warum hingegen weniger. Der britische Autor und Läufer Adharanand Finn reist mit seiner Frau und seinen drei schulpflichtigen Kindern für ein halbes Jahr nach Japan, um dort unter alltäglichen Lebensbedingungen der japanischen Laufbegeisterung auf den Grund zu gehen.
Finns Ziel ist es von vornherein, Mitglied in einem Ekiden-Team zu werden. Denn dieser Mannschaftslauf erfasst in Japan die Massen und scheint somit entscheidend zur dortigen Laufbegeisterung beizutragen.
Der Ekiden-Sport geht auf die Tradition eines mittelalterlichen Botenlaufes zurück. Es ging darum, dass Kuriere Botschaften zwischen der alten kaiserlichen Hauptstadt Kyoto und dem gut 500 Kilometer entfernten Tokio weitergaben. Als Symbol der Weitergabe wurde ein Band über der Schulter getragen und weitergeben: das Tasuki. Der erste sportlich organisierte Ekiden fand 1917 statt, natürlich von Kyoto nach Tokio. Nach dem zweiten Weltkrieg setzte dann mit dem wirtschaftlichen Aufschwung und dem Erstarken des Konzernwesens der heute weit verbreitete Ekiden-Boom ein.
Obwohl Finn in Japan einige Kontakte hatte, gestaltete sich das Einleben dort schwierig. Japan als homogener Inselstaat verhält sich Ausländern gegenüber recht verschlossen. Schon gar nicht gelingt es Finn, Mitglied in einem Ekiden-Profiteam zu werden.
Als guter Beobachter und Optimist geht Finn in Japan seinen Weg als Läufer. Er schildert seine Erlebnisse und seine zahlreichen Kontakte in so einigen Laufgruppen und stellt dem Leser eine persönliche Note vor Augen.
Dabei werden Stück für Stück die gesellschaftlichen wie die läuferischen Unterschiede zwischen Japan und der westlichen Welt offenbar. Zum Beispiel gehen Pensionisten in Japan morgens nicht Gassi, sondern sie gehen trainieren. Die Bereitschaft, sich an Regeln zu halten, ist in Japan größer. Teamwork geht vor individuelle Konkurrenz.
Das erklärt zum Teil schon, warum der Mannschaftssport Ekiden als Langstreckenlauf in Japan populärer ist als der Einzelsport Marathon. Aber es gibt noch eine Reihe anderer Ursachen, die in der japanischen Kultur und der gesellschaftlichen Entwicklung begründet sind.
Da ist die gesunde japanische Ernährung mit Reis, Misosuppe, Natto (Sojabohnen), Fisch, Buchweizennudeln, Tofu und reichlich Gemüse. In kaum einem anderen Land gibt es weniger übergewichtige Menschen. In allen entwickelten Ländern verschlechterte sich die Fitness der Kinder, nur in Japan laufen die Kinder heute schneller als deren Eltern. Körperbau und Körpergröße der Japaner sind von Natur aus wie geschaffen für den Ausdauerlauf.
Freilich setzt der Ekiden-Gedanke in Japan schon in der Schule an. Die Kinder wachsen mit der Vorstellung auf, dass es normal ist nicht nur zu laufen, sondern für sein Team das Beste erreichen zu wollen. Das Ganze kann man aus unserer Sicht durchaus zwiespältig sehen. Zum einen werden die Kinder durchaus zu fitten Menschen herangezogen, die sich für die Gemeinschaft, für ihr Team einsetzen. In der japanischen Tradition geht es um die Harmonie, um das sogenannte Wa. Dazu gehört, sich anzupassen und das zu tun, was dir aufgetragen wird. Der Trainerstil ist in Japan traditionell autoritär. Das bedeutet, dass schon die Kinder für das Training hart rangenommen werden: „In Japan herrschte schon immer der Gedanke vor, wenn man Erfolg haben will, muss man hart arbeiten. Auf das Laufen übertragen heißt das: hart trainieren. Nicht Spaß haben.“ Immerhin halten jetzt auch in Japan moderne Trainingsmethoden Einzug.
Es gibt zahlreiche Ekiden-Wettbewerbe in Japan. Der Ekiden ist ein Staffellauf. Es startet immer ein (meist überschaubares) Feld, die Startläufer der Teams. Nach dem Startschuss laufen alle eine Etappe um die Wette. Schräg über die Schulter wird noch heute das Tasuki, das Staffelband, getragen. Kurz vor der Wechselzone streift der Läufer das Band über den Kopf ab, um es an den nächsten Läufer zu übergeben. Der zweite Läufer streift sich im Loslaufen das Tasuki über die Schulter und er rennt gegen die nächsten Kontrahenten seine Etappe. Etappen und Streckenlängen beim Ekiden sind verschieden. Es gibt Ekiden-Wettbewerbe nur für Männer, nur für Frauen, aber auch gemischt.
Der bekannteste und größte Ekiden ist zugleich auch die größte Sportveranstaltung in Japan. Der Hakone-Ekiden ist ein zwei Tagerennen und findet jährlich am zweiten und am dritten Januar statt. Gelaufen wird am ersten Tag von Tokio nach Hakone. Am zweiten Tag läuft es auf der gleichen Strecke zurück. Die gesamt 217,9 Kilometer sind in zehn Etappen aufgegliedert, jeder Läufer rennt die ungefähre Strecke eines Halbmarathons. Der Hakone-Ekiden ist ein Universitäts-Ekiden. Es sind nur Uni-Teams aus der Region zugelassen. Nicht viel mehr als 20 Teams rennen um die Wette. Die Studenten, um die 20 Jahre alt, brauchen für den Halbmarathon meist nur eine gute Stunde. Die schnellsten Teams bleiben unter 11 Stunden Laufzeit. Das ist in der Leistungsdichte Weltspitze. Die meisten Läufer brechen nach ihrer Etappe total erschöpft zusammen. Sie werden von zwei Helfern aufgefangen und in Decken oder Handtücher gehüllt. Auf Youtube gibt es beeindruckende Videos zu sehen.
Das Zuschauerinteresse beim Ekiden ist enorm. Beim Hakone stehen die Zuschauer permanent an der Strecke, wie bei uns bei einem größeren Stadtmarathon. Das Fernsehen überträgt live, die Einschaltquoten betragen beim Hakone fast 30 Prozent. Die besten Läufer sind Stars. In Japan können viele Läufer vom Laufen leben. Das hat vor allem mit den Firmeninteresse am Laufsport zu tun. Die Konzerne erkennen, unterstützen und nutzen das Teampotential, welches hinter dem Ekiden-Gedanken steckt.
Da der Autor auch schon ein Buch über Laufen in Kenia verfasst hatte, kommen auch hier Vergleiche und Unterschiede zu Tage. Die Laufbedingungen in Japan sind auch für Nordafrikaner interessant, dass sich einige entschließen, eine gewisse Zeit in Japan zu leben und zu trainieren. In der Regel verbessern sich diese Läufer. Am meisten klagen die Kenianer über das fast ausschließliche Asphaltlaufen in Japan. Das treibt auch die Verletzungsanfälligkeit nach oben. In Kenia werden natürliche Untergründe bevorzugt. Dann wird in Japan zu viel Wert auf Umfang und zu wenig Wert auf Schnelligkeit gelegt. Übertraining und Schlafmangel sind in Japan, anders als in Kenia, ein gesellschaftliches Problem. Das scheinen die wesentlichen Unterschiede zu sein, so dass die Japaner im Einzelnen nicht mit der ganz großen Weltspitze der Nordafrikaner mithalten können.
Als herausragend bleibt aber der Teamgedanke in Japan stehen. Der Trainer Kenji sagt im Buch unter anderem: „Das Wichtigste beim Ekiden ist deine Stärke als Team. Wenn du zusammen mit deinen Mannschaftskameraden trainierst und sich alle gemeinsam auf ein Ziel fokussieren, dann macht dich das mental stärker. Deine körperliche Verfassung ist zweitrangig.“