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Laufberichte

Auf dem Sprung nach Westen

 

Nach mehreren Berichten auf M4Y war unsere Neugier auf den Kiew-Marathon geweckt. Da sich die politische Lage in der Ukraine relativ stabil darstellte und auch die Unruheherde im Osten weit von der Hauptstadt entfernt sind, griffen wir zu, als sich vor einem halben Jahr eine Flugmöglichkeit ab München zu einem erschwinglichen Preis bot. Da die Ukraine nicht zur EU gehört, benötigt man zur Einreise einen Pass. Das Auswärtige Amt rät außerdem zur Mitnahme eines Kontoauszugs als Nachweis, dass man sich das Land auch leisten kann und niemandem auf der Tasche liegen wird.

Unser Flug startet verspätet am Tag der Deutschen Einheit und nach zwei Stunden befinden wir uns schon im  Landeanflug. Damit liegt Kiew näher als viele Ziele auf der Iberischen Halbinsel.

Aus der Luft sehe ich riesige Hochhauswohngebiete. Irgendwie fühle ich mich da an Südostasien erinnert. Wir landen auf dem größeren der beiden Hauptstadtflughäfen, 30 km vor den Toren der Stadt und augenscheinlich Basis der Ukraine International Airlines.

Die Einreise verläuft unproblematischer als erwartet. Ein freundlicher Beamter stempelt den Pass nach wenigen Augenblicken, ohne nach meinem Einkommen zu fragen. Per Bus geht es zum Bahnhof. Dann mit der Metro weiter zum Hotel Turist, einem Hochhaus sowjetischer Prägung mit einem tollen Blick auf die Stadt aus unserem Zimmer im 23. Stock.

Der Freitag steht ganz im Zeichen der Stadtbesichtigung. Etliche der markanten Gebäude und Skulpturen werden wir auch während des Laufs zu sehen bekommen. Interessant ist der Ausflug zum Denkmal der Völkerfreundschaft. Auch aus großer Entfernung gut sichtbar ist der Titan-Bogen mit 60 m Durchmesser. Darunter thront eine riesige Bronzeskulptur mit zwei Figuren, einem russischen und einem ukrainischen Arbeiter, die in 6,20 m Höhe das Band des sowjetischen Ordens der Völkerfreundschaft schwenken. Daneben symbolisiert ein Granitdenkmal den Vertrag von Perejaslaw. Dieser Treueeid aus dem Jahr 1654 gilt als eines der wichtigsten Ereignisse in der Geschichte der russisch-ukrainischen Beziehungen. Die Akteure sind allesamt mit verbissenem Gesichtsausdruck dargestellt. Anscheinend ein Wesenszug der Männer dieser Region. Da fühle ich mich gleich in meinem Element und schaue ebenfalls finster drein. Aber unser Reiseführer hebt hervor, dass die ukrainischen Männer inzwischen auch öfter mal lächeln. Fertiggestellt wurden die Denkmäler zur 1500-Jahrfeier Kiews anno 1982. Dass es kurz darauf mit der viel beschworenen Freundschaft nicht mehr ganz so weit her sein sollte, ahnte wohl damals niemand.

Der Ausblick auf den Fluss Dnepr mit seinen Inseln und die Silhouette der Stadt ist fantastisch. Spannend auch die neue Fußgängerbrücke, die den Taleinschnitt überquert und teilweise einen Glasboden besitzt. Beim Betreten ist Schwindelfreiheit gefragt. Ich äußere die Vermutung, dass eine der Glasplatten sehr dünn ist, quasi ein russisches Roulette auf Ukrainisch, und gehe vorsichtig daran vorbei.

Die St.-Andreas-Kirche steht als nächstes auf dem Programm. Der Andreassteig, eine der berühmtesten Straßen in Kiew, führt hinunter ins Stadtviertel Podil. Viele alte Gebäude und die hier ansässige Künstlerszene haben ihm den Namen „Montmartre Kiews“ eingebracht. Für den Marathon erscheint dieser Abschnitt eher zu steil. Mein Namenspatron Andreas, nach orthodoxem Verständnis Apostel Konstantinopels und Nationalheiliger Russlands, gehörte nicht zum engsten Kreis um Jesus und wird im Neuen Testament nur gelegentlich erwähnt. Er war hier in Kleinasien unterwegs und stellte ein Kreuz auf einen Berg mit der Prophezeiung, dass hier einmal eine große christliche Stadt errichtet werde. An diesem Ort wurde 1754 unter der Ägide von Zarin Elisabeth I nach Plänen ihres italienischen Hofarchitekten Rastrelli die St.-Andreas-Kirche erbaut, die als schönstes Gotteshaus des ukrainischen Barocks gilt. Wieder zurück in Griechenland, hat der Apostel Andreas anscheinend die Frau des Statthalters Aegeates in Patras geheilt und zur Enthaltsamkeit ermahnt, was letztendlich zu seiner Kreuzigung geführt hat. Das dabei verwendete Kreuz wird seitdem als Andreaskreuz bezeichnet.

 

 

Nun aber mal was Sportliches: Die Startunterlagen gibt es dieses Jahr im Expo-Gelände weit draußen vor der Stadt. Aber auch dorthin führt die Metro. Kiew war die dritte Stadt in der ehemaligen Sowjetunion, die eine U-Bahn bekam. Die Stationen befinden sich sehr tief unter der Erde. „Arsenalna“ soll mit 105 Metern die weltweit tiefste Metro-Haltestelle sein. Dies liegt einerseits an dem schwierigen Untergrund aus feuchtem Sand, andererseits an dem Wunsch, die Stationen auch als Bunker nutzen zu können, und nicht zuletzt an den sieben Hügeln, auf denen Kiew – wie auch Rom - gebaut wurde. So liegt die auf Arsenalna folgende Station dann schon auf der Dnepr-Brücke ohne dass es merklich nach oben ging. Die Haltestellen selbst sind meist Dreiröhren-Stationen mit einer hübsch gestalteten Mittelröhre. Die Rolltreppen sind ewig lang, bis zu 65 Metern, und das Personal verströmt einen sehr sozialistischen Charme. Hier gibt es noch Diensttelefone aus den frühen siebziger Jahren. Für die Fahrt zahlt man 8 Hrywnja, umgerechnet 0,30 Euro. Die dafür notwendigen Plastikmünzen kauft man am Schalter, genau eine pro Person und nicht etwa mehrere auf Vorrat. Wechselgeld ist ausreichend vorhanden. Nach den Mehrfach-Chipkarten, die auf Plakaten angeboten werden, fragen wir vergeblich. Bald stelle ich aber fest, dass man direkt an der Schranke mit berührungslosen Kreditkarten oder sogar der Smartuhr mit Kreditkartenapp bezahlen kann. Der Geheimdienst besitzt dann auch gleich ein Bewegungsprotokoll.

Spannend auch die alten Wagen der Metro, die auf ausgeleierten Gleisen zeigen, dass sie ähnlich wie manche Autos auch richtig dröhnen können. Hier wäre Ohropax angebracht. Ins Herz geschlossen habe ich die uniformierte Aufseherin der Station Livroberezhna, die eine Schwester unserer Bundeskanzlerin sein könnte und dreinschaut wie diese, wenn sie richtig schlecht gelaunt ist.

Die Station „Vystavkovyi tsentr“ liegt an der Expo. Wie oft inmitten eines kleinen Markt- und Shopping-Bereichs. Eine breite Straße ist per Ampel zu queren, eine weitere per Unterführung. Von denen gibt es unzählige in der Stadt. Oft auch mit kleinem beheiztem Einkaufszentrum. Aber wer braucht heute eine Heizung? Die Außentemperatur beträgt 25 Grad und man versteht, warum hier viele Häuser Klimaanlagen besitzen. Im Sommer sind langanhaltenden Hitzeperioden keine Seltenheit.

Das Expo-Gelände stammt noch aus sowjetischer Zeit und ist allein deshalb schon einen Besuch wert. Einige marode Gebäude entfernt befindet sich die Marathonmesse. Viele Anbieter von Sportnahrung gibt es hier. Die Preise der bekannten Sportartikelfirmen liegen eher auf deutschem Niveau. Schnell habe ich die Nummer samt Startertüte mit einem Päckchen Kabanossi, einer Flasche Sport-Mineralwasser, einem Kiew-Marathon-Schlauchtuch, Armbändern, einem Plan und einer schönen Broschüre auf Ukrainisch. Im Internet sind alle Informationen auch auf Englisch nachzulesen, so wie man mit Englisch und freundlichem Lächeln in der ganzen Stadt problemlos zurechtkommt. Beeindruckt sind die Helfer davon, dass wir eigens zum Marathon nach Kiew gekommen sind.

Am Samstag werden hier draußen die Baby-, Kinder- und 5-km-Läufe durchgeführt. Es gibt sogar einen Lauf für Hunde samt Besitzer(inne)n. Ebenfalls samstags findet der 10-km-Lauf statt im Zentrum statt.

 

Marathontag

 

Dieses Jahr wurden die Strecken von Halbmarathon und Marathon verändert. Der Startbereich liegt  vor der Sophienkathedrale, in der Nähe von Metrostationen aller drei Linien. Die Halbmarathonis starten erst später und haben einen teilweise unterschiedlichen Laufweg.

Umkleide und Taschenaufbewahrung befinden sich direkt vor dem Außenministerium. Daneben das St. Michaelskloster, gewidmet dem Erzengel, der als Schutzpatron der Stadt Kiew fungiert. Der einkuppelige Originalbau aus dem Jahr 1108 fiel immer wieder Zerstörungen anheim und wurde 1936 vom Sowjetregime abgerissen. Das heutige Gotteshaus mit den sieben goldglänzenden Kuppeln ist erst 19 Jahre alt. Davor recht klein ein Denkmal, welches an die Opfer der Hungerkatastrophe in den Jahren 1932-1933 erinnert. Durch eine stalinistische Landreform und eine Dürreperiode verringerte sich die Produktion und das wenige geerntete Getreide wurde dann auch noch teilweise an das kapitalistische Ausland verkauft. Für die Bevölkerung blieb kaum etwas übrig.

Judith und ich sind eine Stunde vor der Zeit am Start und frieren ziemlich. Die Temperatur liegt heute unter 10 Grad und es weht ein kalter Wind. Wie schnell sich das Wetter ändern kann. Ich nehme mir vorsichtshalber noch eine Windjacke mit. Man weiß ja nie. Die Taschenabgabe ist nach Buchstaben sortiert. Man sucht sich einen Stand aus und bekommt den entsprechenden Buchstaben auf seine Startnummer geklebt.

Startaufstellung mit Blick auf die Sophienkathedrale. Das erinnert an den Rom-Marathon mit dem Start beim Kolosseum. Nur dass es hier nicht so laut zugeht. Die heutige Gestalt des zum UNESCO-Weltkulturerbe gehörenden, der Hagia Sophia von Konstantinopel nachempfundenen Gotteshauses hat so gut wie keine Ähnlichkeit mehr mit der Kirche, deren Bau 1011 unter Großfürst Wladimir begonnen und 1037 unter Fürst Jaroslaw vollendet wurde. Statt des byzantinischen Originals, das etlichen Zerstörungen ausgesetzt war, verkörpert der heutige Bau mit seinen 13 vergoldeten Zwiebeltürmen den Barockstil. Im inneren erkenne ich schon Gemeinsamkeiten mit der Hagia Sophia, die wir im Rahmen des Istanbul Marathons besichtigt haben.

Anhand der Nationalflaggen auf der Startnummer kann man feststellen, dass die weltweite Aufmerksamkeit für den zum 10. Mal stattfindenden Marathon größer geworden ist. Die ukrainische Nationalhymne wird gespielt und dann geht es los. Auf den ersten acht Kilometern steht eine Sightseeing-Runde an. Sie beginn mit dem Goldenen Tor, dem größten der vier Kiewer Stadttore, das mit der Goldkuppelkirche „Mariä Verkündigung“ eine Einheit bildet. Das sieht man an der rechten Seite, wenn man bei Kilometer eins schon Zeit dafür hat. Platz ist genug da, aber das Kopfsteinpflaster verlangt viel Aufmerksamkeit. Das Nationale Opernhaus der Ukraine ist nicht zu übersehen. Dann links drei Ukrainische Nationalmuseen, die sich mit verschiedenen Themenbereichen der Geschichte beschäftigen. Es geht bergab über den Taras-Shevchenko-Boulevard, benannt nach dem ukrainischen Nationaldichter und Freiheitskämpfer, der im 19. Jahrhundert lebte. An der Wladimirkathedrale vorbei. Dem Großfürsten Wladimir (960 bis 1015)  ist die Einführung des Christentums in der Kiewer Region zu verdanken. Spannend, wie abwechslungsreich die Bebauung ist. Alt, sozialistisch, kapitalistisch – alles ist vorhanden, auch wenn das vielleicht jetzt keine korrekte Baustilbeschreibung ist.

 

 

Ich komme mit Kathrin und Peter aus Leipzig ins Gespräch. Leipzig (seit 1961) ist wie München (seit 1981) eine Partnerstadt von Kiew. Sogar die deutsche Botschafterin hatte sich zum Start  angekündigt. Dann hätte aber auch der Bürgermeister und Boxchampion emeritus Vitali Klitschko vorbei kommen müssen. Peter meint, er laufe heute seinen ersten Marathon im „Ostblock“. Ich muss ein bisschen darüber nachdenken. In unserer Jugend, wir sind gleich alt, begann für mich der Ostblock hinter dem Fichtelgebirge. Auch in Jugoslawien war ich mal. Aber ohne Marathon. Warschau, Budapest? Ist ja nun EU. Viele Ukrainer wollen ebenfalls in die EU, was vor sechs Jahren zur heute „Euromajdan“ genannten Revolution  führe.

Vor uns das Olympiastadion, nach dem Umbau zur EM 2012 Heimstätte des Fußballclubs Dynamo Kiew und mit 75000 Plätzen weltweit eines der größten seiner Art.

Leider müssen wir nun wieder etwas bergauf laufen. Einige Teilnehmer gehen bereits, was mich doch verwundert. Vielleicht handelt es sich um Staffelläufer? Es gibt Zweier- und Viererstaffeln mit speziellen Medaillen für jeden Abschnitt. In den vergangenen Jahren konnte man diese auch zu einer größeren Medaille zusammensetzen.

Wir kommen auf den Prachtboulevard der Stadt, die Chreschtschatyk-Straße. An deren Beginn der Men´s Club „Harem“. Nun ja. Wo ist eigentlich Judith? Wahrscheinlich vor mir. Ich habe mir mit dem Fotografieren wohl zu viel Zeit gelassen und hänge im 4:29-Grüppchen. Passt aber heute. Irgendwie habe ich mir einen leichten Schnupfen eingefangen

Rechts an der Bessarabsky-Markthalle vorbei. Links davon liegt das Restaurant „Varenychna Katyusha". Im Ambiente eines russischen Wohnzimmers gibt es günstige ukrainische Spezialitäten, beispielsweise Borschtsch oder verschiedene Arten gefüllter Teigtaschen. Wir bezahlen mit Vorspeise, Getränken und Nachtisch zu zweit oft weniger als 20 €. Noch günstiger sind die Selbstbedienungsrestaurants. Da muss man allerdings auf die gewünschten Gerichte deuten, denn die Beschriftung ist nur in Ukrainisch, selbstredend mit kyrillischen Buchstaben. Nebenan das „Roshen“, das zum Imperium des ehemaligen Präsidenten Petro Poroschenko gehört. Ein Eldorado für Freunde von Schokolade und Süßwaren mit mehreren Filialen in der Hauptstadt.

Aktuell habe ich keinen Hunger, freue mich über die vielen Zuschauer. Oft werde ich mit Namen angefeuert. Rechts hinter dem Torbogen findet man Shops der internationalen Designer-Elite. Und das Restaurant „Chicken Kyiv“ mit den hübschesten jungen Damen und Herren der Stadt. Das namensgebende Gericht samt Bier gibt es für 6 €. High heels sind als Outfit nicht zwingend vorgeschrieben. Touristinnen in M4Y-Jacken und Laufschuhen dürfen auch hinein.

Es geht am Majdan-Platz vorbei, dem Unabhängigkeitsplatz. Er erlangte im Jahr 2013 in der Folge der Euromajdan-Proteste internationale Bekanntheit. Präsident Janukowitsch wollte die Ukraine näher an Russland binden, die Bevölkerung aber zur EU gehören. Während der Unruhen wurden über 100 Demonstranten getötet, an die viele Gedenktafeln erinnern. Die Reporter berichteten aus dem großen Hotel „Ukraina“, das sich hier befindet. Als Folge der Proteste besetzte Russland die Krim mit ihren Kriegshäfen und die ostukrainischen Gebiete. Der Präsident trat zurück und der Assoziierungsvertag mit der EU wurde unterschrieben. Das Hotel Ukraina gilt als touristischer Geheimtipp, wenn man denn ein Zimmer ergattern kann.

Leider ist so ein Kurzurlaub kaum dazu geeignet, sich eine umfassende Meinung zu bilden. Die Stadt Kiew wirkt im Prinzip nicht anders als Budapest oder Warschau; vieles ist modern, manches historisch und etliches im Sowjetstil gehalten. Aber oft sieht man alte Leute am Straßenrand, die Trödel verkaufen, um  finanziell über die Runden zu kommen. Der verfügbare Mindestlohn von gut 100 € pro Monat passt auch nicht zu den Preisen in den Lokalen. Es bleibt spannend, wie die politische Lage sich entwickelt.

 

 

Für uns geht es über den Nationalplatz Richtung Dynamo-Kiew-Stadion, das heute nach Walerij Lobanowskyj benannt ist. Eine Statue ehrt ihn als einen der erfolgreichsten Fußballtrainer aller Zeiten. Wir kommen in den Marijinskyi-Park, wo sich auch der gleichnamige Barockpalast aus der Zeit der Zarin Elisabeth I befindet. Nächstes Highlight ist bei km 10 das Hotel Saljut, welches noch ganz im Stil des Sozialismus geführt sein soll.

Links von uns das Denkmal des Unbekannten Soldaten. Vor uns und hinter der Mauer die Kirchen und Gebäude des Höhlenklosters, ein historisches und architektonisches Denkmal, das vom 11. bis 19. Jahrhundert entstanden ist und seit 1990 zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört. Der Komplex beherbergt auch mehrere Kirchen, Museen sowie unterirdische Katakomben.

Dann Panzer: Hier stehen einige Exemplare aus den letzten Jahrzehnten. Ich erkenne einen T34. Wir kommen nun an mehreren Museen und Gedenkstätten vorbei. Unter der ewigen Flamme hindurch. Links und rechts riesige Skulpturen mit Kämpfern des zweiten Weltkriegs. Viele Läufer fotografieren mit ihren Handys. Das ist hier schon recht beeindruckend. Im September 1941 eroberte die deutsche Wehrmacht die Stadt. Viele Gefangene wurden gemacht, die in der Folge verhungerten. Zwei Drittel der jüdischen Bewohner konnten vorher fliehen. 33.000 Juden wurden in einem nahen Wald erschossen. Die deutschen Besatzer hatten in der Folge mit Zeitzündern in Gebäuden zu kämpfen, in der die Wehrmacht untergebracht war. Ein dadurch ausgelöster Brand griff auf viele andere Gebäude über und konnte erst nach fünf Tagen gelöscht werden.

Mein Vater meldete sich nach seinem Kriegsabitur 1942 im Alter von 18 Jahren freiwillig zum Kriegsdienst. Als Panzerkommandant war er in der Ukraine unterwegs und musste am Verteidigungskampf teilnehmen, bis er schwer verwundet in die Heimat gefahren wurde. Leider weiß ich nicht viel über seinen Einsatz. Er sprach selten über das Erlebte. Wie seine jungen Kameraden war er von den riesigen Städten mit ihren Hochhäusern beeindruckt, die ihm damals wie New York vorkamen. Somit ist dieser Lauf auch dem Andenken an meinen Vater und den vielen Kriegstoten gewidmet.

Rechts über uns thront mit 100 Metern Höhe die Mutter-Heimat-Statue. Man kann auf die Aussichtsplattform im Schild hinaufsteigen. Das im Sockel befindliche Museum sieht es als Aufgabe „Den Besuchern zu helfen, die Ursprünge von Tragödien zu verstehen, die zu Kriegen führen, Wege aufzuzeigen, wie sie verhindert werden können, und die Lehren der Vergangenheit für die Menschheit zu verstehen.“  Das nenne ich mal Völkerverständigung.

 

 

Zurück zum Marathon. Für uns geht es hinunter zur Panton-Brücke, eine Schleife auf der anderen Dnepr-Seite steht an. Die Führenden kommen uns entgegen, sie haben bereits 20 km hinter sich, wir erst 14. Die Brücke ist einseitig gesperrt und 1.543 Meter lang. Die erste geschweißte Stahlbalkenbrücke weltweit wurde vom Ingenieur Panton von 1941 bis 1953 gebaut. Der verrostete Bau benötigt sicher bald mal eine Sanierung. Ob der Länge fühle ich mich etwas an den Venedig-Marathon erinnert.

Auf der anderen Seite umrunden wir einen Kanal. Ich versuche Judith zu entdecken. Aber die ist wohl zu weit voraus. Riesige Wohnhochhäuser rechts. Wende und auf der anderen Seite des Kanals zurück. Der umschließt die dreieckige Insel Rusanivka. Die Häuserblöcke hier sind älter, urbaner könnte man höflich sagen. Einige Passanten schauen uninteressiert zu. Die kommen über eine Fußgängerbrücke vom Berezniaky-Markt. Ich frage den deutschen Läufer Thomas neben mir, ob er die Geschwindigkeit  der 4:29-Stunden-Pacer nicht auch als zu hoch empfindet. Wir haben einen Kilometerschnitt von fast 6:00 Minuten. Zustimmung. Das flotte Tempo könnte daran liegen, dass uns noch ein paar Höhenmeter bevorstehen, für die ein Zeitpolster herausgelaufen werden soll.

Wieder auf die Brücke. Nahezu kein Gegenverkehr mehr. Ich unterhalte mich mit einem Läufer aus Koper in Slowenien und genieße den Ausblick auf die Kuppeln des Höhlenklosters, die Skyline der Stadt und das bunte Laub der Bäume. Fantastisch.

Km 21 ist am Ende der Brücke erreicht. Von oben kommen die Halbmarathonis, die einen eigenen Kurs laufen und uns nur hier auf einigen Kilometern begleiten. Die Sonne strahlt, aber der Gegenwind ist unerträglich kalt. Gut, dass ich meine Jacke dabei habe. Unter der Metro-Brücke hindurch. Eine Band spielt Rock aus dem Westen. Die wenigen Zuschauer begleiten wohl „ihren“ Läufer, wir sind uns schon begegnet und erkennen uns wieder.

Bis zur Sprengung durch die polnische Armee 1920 stand hier die 1853 eröffnete Kettenbrücke, die erste Brücke in Kiew und mit 776 Metern die längste Kettenbrücke der Welt. Die Elemente wurden in England gefertigt und per Ochsenkarren von der Küste hierher gebracht. Die Brücke sah der Budapester Kettenbrücke sehr ähnlich. Nur war sie fünfmal so lang.

Nach fast fünf Kilometern mal Abwechslung: Über die Parkovy-Hängebrücke, die uns auf eine Dnepr-Insel bringen wird. Fünf „grüne“ Kilometer warten auf uns. Kiefernwälder an den Seiten. Sogar einige Zuschauer. Hier fällt mir auch auf, dass die medizinische Versorgung sehr gut ist. Oft sieht man Zweierteams von Rettungssanitätern. Und viele Marathonis sind auch noch unterwegs. Bei über 2.000 Finishern ist man auch weiter hinten nicht allein. Leider kommen nun die 4:29-Pacer und überholen mich. Ich genieße den angenehmen Geruch der Bäume. Bei Kilometer 30 dann Staffelwechsel, Zeitnahme, Musik und wieder ein guter Verpflegungsstand. Wasser, Iso, Cola, Orangenscheiben und Bananen gibt es oft. Angereicht von vielen Helferinnen und Helfern. Sobald sie mein Fähnchen auf der Startnummer sehen, wird die Ansage auf „water“ umgestellt. Die VPs stehen alle drei Kilometer. Toilettenhäuschen gibt es dort auch mehrere.

Der Aufstieg zur Pivnichnyi-Brücke ist schon schwer. Der Name bedeutet wohl „Nördliche Brücke“. Von 1976 bis 2018 hieß sie Moskovskyi. Für uns ist eine Spur gut abgesperrt. Der Wind pfeift. Der Blick nach rechts entschädigt für alle Mühen. Eine Kulisse wie in Singapur: Wohnhochhäuser, soweit das Auge reicht. Goldener Sandstrand. „Tempelchen“, die man hier wohl eher als orthodoxe Kirchen bezeichnen würde. Ein chinesisches Restaurant. Elefanten... Tatsächlich: Ein Elefant in Form einer Blumeninstallation wartet an der nächsten Verkehrskreuzung auf uns. Entweder bin ich schon völlig weggetreten oder es ist wirklich beeindruckend. Noch mal drei Kilometer bis Kiew-Podil. Links wird eine neue Brücke über den Dnepr gebaut, für den Auto- und Schienenverkehr. Bei Km 35 noch mal auftanken. Dann hinauf auf die Havansky-Brücke. Diese überquert eine Zufahrt zu einem Hafenbecken. Wunderbare Ausblicke auf die Innenstadt samt Völkerfreundschaftsbogen. Unten die Ausflugsschiffe, oben die St.-Andreas-Kirche. Podil empfängt uns mit kleinen Hafenkaschemmen. Ein Schlenker, dann an Mädels im Dirndl vorbei auf die Nyzhnii Val. Das Viertel wurde nach einem Großbrand 1811 im klassizistischen Stil erneuert. Nicht unbedingt auf unserer Straße, sondern ein Stück links um den Kontraktowa-Platz herum. Joe durfte hier letztes Jahr noch laufen. Hoffe, das Schleifchen wird wieder eingebaut. Wir hatten das gestern auf dem Sightseeing-Programm.

 

 

Hier herrscht Stimmung pur. Das macht richtig Spaß. Nur wollen alle abgeklatscht werden. Klein und Groß. Und wenn ich den Fotoapparat in der Hand habe, muss ich ihn halt wegstecken. Sonst geht es nicht weiter.

Hier fährt auch die Straßenbahn. Die Schienen wirken so, wie man sie sich für den Ostblock vorstellt. Aufpassen. Nach einigen Streckeneinstellungen, auch über die Dnepr-Brücke, gibt es jetzt auf jeder Flussseite ein Trambahnnetz, das insgesamt immer noch so groß ist wie in Berlin und in den Trabantenstädten auch über einen modernen Fuhrpark verfügt. O-Busse machen das Ganze komplett. Bezahlt wird immer bar bei der Schaffnerin, die auch im Bus ihr eigenes Reich mit Häkeldeckchen und Plastikblumen besitzt. Der Fahrer muss ja fahren und nebenher noch mit dem Handy telefonieren.

Aber trotzdem: Die Einheimischen können auch die Chipkarten nutzen. An vielen Haltestellen gibt es elektronische Fahrplaninformationen. Auch hier hat der Fortschritt also Einzug gehalten.

Was fehlt, ist der große Anstieg. Auf vier Kilometern so etwa hundert Höhenmeter. Anfangs eher mit wenig Anfeuerung. Aber dann kommt sogar eine private Verpflegungsstelle. Und eine der beiden organisierten Fanzonen. Ich kenne die Anfeuerer in ihren Tierkostümen vom km-10-Punkt- Wenigstens müssen die nicht frieren.

 

 

Auf den verbleibenden zwei Kilometern geht es dann richtig zur Sache. Unzählige Zuschauer. Abklatschen, bis die Hände weh tun. Rechts die Ende der 1920er Jahre erbaute Wohngenossenschaft der Ärzte, damals eines der raffiniertesten und fortschrittlichsten Gebäude der Stadt, heute noch original erhalten und dementsprechend renovierungsbedürftig. Vor uns der Turm der Feuerwache. Noch zweihundert Meter. Auf die Sophienkathedrale zu. Dann Schwenk und die letzten 50 Meter zum Zielbogen. Hier geben die Zuschauer noch mal alles, und zwar bis zum Zielschluss, wie man später verfolgen kann. Echt super.

 

Die Medaille ist  groß und schwer und kann es auf ihre Art mit den Kolossen am Streckenrand aufnehmen.  Judith wartet auf mich. Sie ist Zweite der Altersklasse und darf sich über ein Preisgeld von 1.200 Hrywnja freuen. Von den Frankfurter Laufkollegen belegte Manuela Platz 1 in ihrer AK und ist wahrscheinlich mit Herbert (4. Platz) schon auf dem Weg zum Flughafen.

Dafür treffe ich noch einige andere deutsche Läufer und viele Mitstreiter von der Strecke. Ein vorübergehend einsetzender Nieselregen treibt uns in die Umkleidezelte. Duschmöglichkeiten gibt es wohl keine. Dafür wird die Massage gelobt, die manch einer auch schon vor dem Start in Anspruch nahm. Die Zielverpflegung ist in Ordnung, lediglich bei den Heißgetränken besteht noch Optimierungsbedarf. Und ein alkoholfreies Bier würde auch bei einstelligen Temperaturen munden.

Judith und ich bleiben noch eine Nacht. Für uns geht es am nächsten Morgen Richtung Heimat.

 

Fazit:

 

Der Kiew-Marathon ist ein sehr schöner, abwechslungsreicher Stadtmarathon mit Innenstadtanteilen, Wohngebieten, Parks und dazwischen ein paar Schnellstraßen. Die vier Dnepr- Brücken mit ihren Ausblicken sind eine Wucht und die Durchquerung der Mutter-Heimat-Gedenkstätte sucht ihresgleichen. Höhentechnisch sind ca. 250 Meter zu bewältigen, viele davon eher steil. Fünfmal gibt es Musik. Das Zuschauerinteresse ballt sich an einigen Stellen.

Organisation, Verpflegungsstellen, medizinische Betreuung und englischsprachige Infos sind top.

Wettertechnisch muss man wohl auf alles gefasst sein und sollte lieber ein Leibchen mehr mitnehmen.

Was die Marathontour hervorhebt, ist die Möglichkeit, ein ehemaliges „Ostblock“-Land zu besuchen, das gerade auf dem Sprung in den Westen ist. Das Ganze in einer Drei-Millionen-Stadt, die einen sehr sicheren Eindruck macht Die Einwohner sind vielleicht nicht die offensten, aber bei Fragen wird einem sofort geholfen. Die Preise liegen bis zu 50% unter deutschem Niveau. Der Flug dauert nur 2 Stunden.

Was man benötigt: Reisepass und Auslandskrankenversicherung. Eine SIM-Karte vor Ort kostet 3€ inkl. Telefonaten nach Deutschland und kann ohne Ausweis erworben werden. Vorsicht: Die EU-Roaming-Regel gilt nicht für die Ukraine, daher tappt man schnell in die Kostenfalle. Wer keine  SIM-Karte kaufen will,  sollte die Datenroaming-Funktion deaktivieren und nur kostenlose WLAN-Netze benutzen, die in der Stadt reichlich vorhanden sind.

 

 Siegerinnen Marathon

1. Natalia SEMENOVYCH  UKR   2:51:38
2. Yulyia TARASOVA           UKR   2:55:53 
3. Elena SYMONOK            UKR   3:00:46

 

Sieger Marathon

1. Oleksandr BABARYKA   UKR   2:28:57         
2. Yevgenii DIERBIENOV   UKR   2:33:09          
3. Andrii BOLSUNOVSKYI           UKR   2:38:52

 

Finisher

Marathon                    1.905
4er Staffel                     338
2er Staffel                       42
Halbmarathon             4.201
5 K                                839

 

Deutsche 50  
Österreicher 3
Schweizer 13

 

Informationen: Wizz Air Kiew City Marathon
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