marathon4you.de

 

Laufberichte

Run in Marseille: Je suis finisher, je crains dégun

15.03.15 Special Event
 

Bei unserem Flug zum Barcelona-Marathon im März 2014 geht es an der Mittelmeerküste entlang. Eine größere Stadt am Golfe du Lion weckt mein Interesse: Marseille liegt schön am Meer. Da gibt es doch sicher auch einen Marathon? Der findet 2015 erstmalig im März statt, da es im Herbst zu viele Überschneidungen mit anderen großen Marathons gab.

Ein halbes Jahr vorher bietet die Lufthansa einen günstigen Flug an. Also schnell gebucht. Der Veranstalter macht es spannend: Erst wird der Halbmarathon ausgeschrieben, dann der 10er und erst Wochen später der Marathon. Anscheinend wurde die Strecke noch optimiert. Sie umfasst jetzt 1,5 Runden mit einem Auftakt im Süden der Stadt.

Marseille ist mit 850.000 Einwohnern zweitgrößte Stadt Frankreichs und als Tor zum Mittelmeer bekannt. Im neunzehnten Jahrhundert ließen sich Italiener, dann Algerienfranzosen sowie Bewohner der ehemaligen französischen Kolonien hier nieder.

Bedingt durch den Rückgang von Schiffsbau und Schwerindustrie sowie den damit verbundenen Verlust von Arbeitsplätzen kam es zu einem Anstieg der Kriminalität, dessen Ausmaß in den 1990er Jahren auch die deutschen Medien beschäftigte. Die Stadtverwaltung unternahm große Anstrengungen, um dem Verfall Einhalt zu gebieten. Das Projekt Euroméditerranée steht für die Renovierung ganzer Stadtviertel. Mit Blick auf den Status als Europäische Kulturhauptstadt 2013 wurden weitere Bauvorhaben umgesetzt, so dass Marseille auf jeden Fall einen Besuch wert ist. Empfohlen sei der Blick auf die informativen Seiten im Internet (in deutscher Sprache). Und die Sicherheit? Wir hatten nie den Eindruck, dass es dort gefährlicher ist als zu Hause. Ähnlich wie bei uns patrouillieren in der U-Bahn Sicherheitskräfte.

Nach sehr frühem Flug sind wir mit dem Shuttlebus schnell am Bahnhof Saint Charles. Auffallend die einheitlich ockerfarbenen Häuser, viele mit schönen schmiedeeisernen Balkongeländern. Zu Fuß geht es auf direktem Weg zum Rathaus, wo die Marathonmesse aufgebaut ist. Schlaftrunken wandeln wir geradewegs durch ein Viertel, das mich an Marokko erinnert: Teetrinkende Männer sitzen vor den Cafés. Traurig stimmt die Armut einiger Menschen, die während der Nacht in den Hauseingängen Zuflucht gesucht haben.

Wir sind früh dran und schauen erst einmal den samstäglichen Kinderläufen zu. Haribo unterhält seit dem Kauf der französischen Süßwarenkette Lorete im Jahr 1967 ein Werk in Marseille und betätigt sich als Sponsor. Um zehn geht es dann mit der Messe los. Eine Schlange bildet sich vor dem Kontrollschalter für das medizinische Attest. Das wird hier genau überprüft und eine Kopie einbehalten. Mit der gestempelten Anmeldebestätigung geht es dann zur Startnummernausgabe. Der Marathonschalter ist der kleinste von dreien. Die Halbmarathonis und 10-km-Wettbewerbe stellen den Großteil der rund 7.000 Teilnehmer.

In der moderaten Startgebühr von 49 € (Einheitspreis) ist auch ein Markenlaufhemd enthalten. Den Aufdruck „2 Anker 15“ interpretiere ich spaßeshalber als meine angepeilte Zielzeit, gemeint ist natürlich das Jahr 2015. Außerdem sind in der Tüte noch einige Haribo-Köstlichkeiten, Herren-Hautpflegepröbchen (auch bei den Damen), Energieriegel und Pflaster. Ein echter Hingucker ist die Wand mit den Teilnehmernamen. Mein Selfie gelingt nur halb: Immerhin ist der Vorname drauf – Datenschutz hausgemacht.

Dann geht es ins Hotel und sofort zum Sightseeing. Das Wetter ist besser als angesagt und sogar die Sonne kommt manchmal heraus. Erkenntnisse des ersten Tages:

- Die Preise in den Lokalen sind etwas höher als in München.
- Dafür wird kostenlos und ungefragt Trinkwasser serviert.
- Die 72-Stundenkarte für den Nahverkehr kostet 10,50 €.
- Auch Erwachsene mit Kindern gehen bei Rot über die Straße
- Die meisten Franzosen sprechen Englisch.
- Der Marathon ist auf vielen Werbeflächen in der Stadt präsent

 

Der Marathon-Tag

 

Es ist noch stockdunkel, als wir sonntags am Vieux Port (Alter Hafen) ankommen. Die lange Reihe der Navettes (Transferbusse) begibt sich zwischen 6:00 und 7:00 Uhr Richtung Osten zum Start. Helfer achten darauf, dass jeder Läufer einen Sitzplatz und einen Regenponcho bekommt. Die Busfahrer sind stilecht in Run-In-Marseille-T-Shirts gekleidet. Über die Küstenstraße geht es ans Ende der Welt - so ein Schild am Start -, genauer gesagt in das Fischerdörfchen Les Goudes oder fast bis dorthin. Die letzten 500 Meter sind zu Fuß zurückzulegen.

Ein „petit déjeuner à la Marseillaise“ (Frühstück nach Marseiller Art) war angekündigt. In der irischen Bar mit dem sinnigen Namen „20.000 Meilen unter dem Bier“ gibt es heiße Getränke, Kekse und Sardinen. Ich lege eine Dose in meinen Laufbeutel, um im Hotel festzustellen, dass ich eigentlich gar kein Fischesser bin. Zum Frühstück hat wohl niemand die Sardinen gegessen. In der Kneipe ist es mollig warm. Judith drängt, unsere Säcke am kleinen Lkw abzugeben. Es gibt 10 Startblöcke für knapp 500 Teilnehmer. Da ist man wohl ein wenig über das Ziel hinausgeschossen.

Wir stellen uns einfach hinten an, mit einer angestrebten Laufzeit von 4 Stunden gehören wir hier ohnehin zu den Langsameren. Oh wie schön warm war es gerade noch, jetzt ist Zähneklappern angesagt. 300 Sonnentage hat die Provence laut Statistik zu bieten, aber heute ist es kälter als im frühlingshaften Deutschland. Eine Sprecherin stellt die Favoriten aus Kenia vor und gibt Tipps auf Französisch. Kurze Grußworte folgen. Judith fragt, ob ich den Rat aus dem Veranstaltungsheft beherzigt und meine Brustwarzen abgeklebt habe. Habe ich nicht und das war letztendlich ein Fehler, wie ich im Ziel feststellen werde.

Ohne großes Tamtam geht es um 8:00 Uhr zur Sache. Das Absingen der Marseillaise hätte ich an diesem Ort eigentlich schon erwartet. Nicht, dass die französische Nationalhymne aus Marseille kommt, aber Marseiller Soldaten sangen sie beim Einzug in Paris. Und deswegen gibt es hier im Süden auch ein „Museum der Marseillaise“.

Die ersten Kilometer sind landschaftlich wunderbar: Die Küste mit ihrem weißen, zerklüfteten Kalkstein bietet eine fantastische Abwechslung zur heimischen Natur. So nach drei Kilometern ist es aber damit schon vorbei und es geht in dichtere Küstenbebauung bei Point Rouge. Das ist nicht minder interessant, handelt es sich doch um einen Stadtmarathon. Vor einer Kneipe schaut ein Raucher mit einer Flasche Pernod in der Hand uns zu. Außerdem sehe ich viele Französinnen im Bademantel am Fenster stehen und zuschauen.

Immer wieder säumen Schilder mit aufmunternden oder lustigen Sprüchen den Laufweg. Mir kommt das leider nur französisch vor: „Profite de la vue et fais-toi plaisir“ („Genieße die Aussicht und amüsier dich“) wird einem da genauso geraten wie „Beeilt euch, Mädels/Jungs, vorne laufen die gutaussehenden Männer/Frauen“ oder gar „Lächle - wenn du keine Unterwäsche trägst“.

Das Meer bleibt noch kurz unser Begleiter, dann geht es bei km 6 ins Landesinnere. Blasmusik ist jetzt zu hören. Sehen kann ich die Kapelle erst mal nicht. Die wird sich vor dem Regen in Sicherheit gebracht haben. Eine erste Begegnungsstrecke auf der Avenue de Hambourg steht an. Wendepunkt ist an der Skulptur eines großen Daumens, der aus einem Kreisverkehr ragt. Es handelt sich um den „Pouce de César“ des Marseiller Künstlers César Baldaccini, der auch den französischen Filmpreis César geschaffen hat. Ein Abdruck des Daumens soll übrigens auch in Koblenz stehen.

Spannend wird jetzt die Streckenführung: Auf der Karte waren viele Schleifen zu sehen. Wir laufen zurück zur Blaskapelle, dann an einer Schlossmauer vorbei und auf das Velodrom zu. Das ist trotz seines heute noch gebräuchlichen Namens schon seit Ewigkeiten kein Radsportstadion mehr, sondern das größte Vereinsfußballstadion Frankreichs. 67.000 Fans können bei Spielen von Olympique Marseille zusehen.

Gleich in der Nähe die vom Schweizer Architekten Le Corbusier konzipierte „Cité Radieuse“ („strahlende Stadt“) aus dem Jahr 1952, eine in der Nachkriegszeit als avantgardistisch geltende Wohnanlage, die bis 1965 Vorbild für viele weitere Bauten in Frankreich und auch Berlin war. 18 Stockwerke mit 337 zweistöckigen Appartements gibt es hier. Die dritte Etage mit Hotel, Restaurant und dem ersten Selbstbedienungsgeschäft der Region ist für Besichtigungen zugänglich.

Wir sind nun auf einem breiten Boulevard, der schnurgerade durch die Stadt führt und oft den Namen wechselt. Durch den leicht welligen Verlauf kann man unzählige Ampeln sehen, die im Gleichklang die Signalfarbe ändern. Und eine nicht enden wollende Schlange von 21-km-Läufern, die uns im Regen entgegenkommen. Die Halbmarathonis sind um 8:15 Uhr im Zentrum gestartet und treffen bei km 7 mit uns zusammen. Nach links geht es jetzt auf der breiten Avenue de Prado Richtung Meer. Die Anzahl der Beine hat sich verzehnfacht. Dank unserer M4Y-Hemden werden wir als Deutsche erkannt und oft wünscht man uns im Vorbeiziehen viel Erfolg oder vermeldet noch seine eigenen in Deutschland absolvierten Läufe. Das macht Spaß.

Im 18. Jahrhundert baute sich der schwerreiche Marseiller Kaufmann Louis Borély vor den Toren der Stadt sein Château Borély, ein Schlösschen samt weitläufiger Grünanlage. Die betreten wir jetzt durch ein großes Tor. In einer langen Linkskurve geht es durch den botanischen Garten. Ich ermahne Judith, rechts auf der Ideallinie zu bleiben – nicht leicht, wenn man gleichzeitig auch noch den Regenpfützen ausweichen will. Ich atme den Geruch der tropischen Pflanzen aus dem nahen Gewächshaus ein, freue mich über majestätische Bäume und Bambushaine. Vor dem Schloss einige der recht wenigen echten Schlachtenbummler. Wir laufen eine Schleife um den Schlossvorplatz. Die nächste große Verpflegungsstelle steht an: Wasser wird in Flaschen angereicht, es gibt Bananen, Orangenstücke, Zucker, Rosinen, Trockenobst... und sogar Gel in Tuben. Was will das Läuferherz mehr. Alles ist so weiträumig verteilt, dass kein Gedränge aufkommt.

Hinter dem Schloss geht es an einer schönen Wohnanlage mit großen Terrassen vorbei: Wir befinden uns an einer Trabrennbahn. Die Wohnungen bieten einen ungehinderten Blick auf die Sportstätte. Uns schaut hier leider niemand zu. Der folgende Kilometer liegt an einer Dreifach-Begegnungstelle. Wir sind auf einem breiteren Gehweg und müssen uns vor den überholenden Halbmarathonis und den Absperrgitterfüßen in Acht nehmen. Dies ist aber der einzige nervige Kilometer.

Am Flüsschen L'Huveaune entlang verlassen wir den Borély-Park wieder in Richtung Meer. Hier kommt mir eine Skulptur bekannt vor: Eine Kopie des David von Michelangelo schaut auf uns herab. Noch besser ist die hier postierte Band. Im 8. Arrondissement gibt es große Strände und viel Grün. Dann nähern wir uns  einem Hügel. Auf dessen Spitze steht die weithin sichtbare Kirche Notre Dame de la Garde mit einer riesigen Madonnenfigur auf dem Turm. Sie überblickt die Stadt und das Meer. Gestern sind wir da noch zu Fuß hinaufgegangen. Sicher ein Fehler so unmittelbar vor einem Marathon, aber wir sind ja auch alte Bergwanderer.

12
 
 

 
NEWS MAGAZIN bestellen
Das marathon4you.de Jahrbuch 2024