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Laufberichte

„An die Einsamkeit gewöhnst du dich!“

 
Autor: Joe Kelbel

Wer sich die Streckenkarte des Marathons anschaut, der erkennt einen eiförmigen, großen Ring aus Strassen rund um das Startgelände. Man könnte meinen, hier sei einmal die Stadtmauer gewesen, doch es ist die ehemalige Begrenzung der riesigen Kaserne von Pirmasens. Die Struktur folgt dem Verlauf eines hölzernen Palisadenzaunes, der nicht etwa dem Schutz der Soldaten diente, sondern diese daran hindern sollte, zu desertieren. Bei Tag und Nacht patroullierten 30 Husaren rund um den Zaun, dadurch wurde der Strassenring planiert.

Dabei hatten die Fußsoldaten eine rosige Zukunft: Wer heiraten wollte, der bekam vom Landgrafen ein Stück Land. Doch es gab kaum Heiratsfähige, die Soldaten waren einsam. Ende des 18.Jahrhundert waren hier 2000 Soldaten stationiert, während es nur etwa 150 Bürger gab. Dann besetzte Frankreich das linke Rheinufer für 22 Jahre und erst nach der Niederlage Napoleons und nach dem Wiener Kongress kam Pirmasens zurück, aber ausgerechnet zu Bayern.

Man machte aus den Uniformen nun Schuhe. Es entstanden Fabriken und ein Messegelände, auf dem man die Schuhe verkaufte. Vielleicht schrie man damals schon vor Glück. Heute werden auf diesem Gelände Laufschuhe, Gels, Getränke, Frühstück, Popcorn und Laufreisen verkauft. Und die Startnummern für den Marathon ausgegeben.

Den Startschuß gibt der Bürgermeister um 10:30 am Exerzierplatz. Kein Starttor, keine Zeitmessmatte, die Einfachheit garantiert preisgünstiges Startgeld (18-28), ohne dass die Qualität leidet. Das Führungsfahrzeug bringt uns über die alte Salzstrasse, heute Schloß- und Alleestrasse, die wir nach Osten überqueren. Das Salz kam aus dem lothringischen Salzgau (Saulnois).

Nach 300 Metern sind wir wieder am Messegelände, ich kontrolliere, ob mein Auto noch dort ist und lasse mich ins Tal rollen. Auf der anderen Fahrbahnseite stehen Shuttlebusse, die nicht nur Staffelläufer, sondern auch Zuschauer abholen wollen, um sie zu den Knackpunkten zu bringen.

Es wird düster, der Neuffer Park, einst Schuhfabrik (1894), jetzt Gewerbepark und Bürokomplex, hat dichtes Laubwerk zu bieten. Am Dankelsbach empfängt uns der dunkle Pfälzer Wald. Damit musste ich rechnen, denn so nennt sich dieser Marathon.  Der Bach war über tausend Jahre mit Fischteichen garniert, der Name „Dankels“ erinnert noch daran: Dank=Tank= étang.

An der grün-düsternen Laufstrecke begrüßen uns die ersten moosigen Sandsteinformationen. Der Kugelfelsen gibt bei der stetigen Erosion des Sandsteinfelsens kugelrunde Kieselsteine frei. Der Sandstein entstand im Perm, vor 280 Millionen Jahre, als die Pfalz eine Wüste war. Im Eisweiher wurde Eis für die Brauerein gestochen, das man für den Sommer in den Sandsteinhöhlen lagerte. Am See nehme ich einen letzten Lichtblick.

Zu sehen gibt es ab sofort: Nichts! Wer jedoch genau hinschaut, kann Bäume, Moose, Farne, und alte Schitzereien in Sandsteinfelsen entdecken, aber eigentlich gibt es: Nichts. Bei km 6,5 sehe ich das Walthanbrünnchen nicht und auch nicht den St Parens Stein.

Das Forsthaus Beckenhof ist ein lebendiger Beweis für die Zeit, als Pirmasens zu Bayern gehörte. Ich schiesse ein Foto im nebligen Regen und erhalte: Nichts. Das hiesige Oktoberfest ist aber über die Grenzen der Pfalz hinaus bekannt. Weniger bekannt ist Ludwig Beck, hier nahe des Beckenhofes steht ein Gedenkstein. Der Major im ersten Weltkrieg ging später als Generalstabschef mit dem Anschlag auf den Zampano am 20. Juni 1944 in die Weltgeschichte ein. Ludwig Beck, nicht Kurt Beck, war als Staatsoberhaupt für die Nach-Hitler-Zeit vorgesehen. Er wurde am 21.06.1944 erschossen.

Ich finde den Stein nicht, laufe durch ein Starttor, dahinter der zweite VP. Man bietet mir Obst auf kleinen Tellerchen, Iso, Wasser, Tee, Cola. Ich will nichts, ist ja erst km 7.

Eigentlich ist die Laufstrecke gut abgesperrt. Ich laufe erstmal im Kreis, wahrscheinlich um zu sehen, wie schnell der Bierausschank in der Gaststätte erfolgen könnte, denn ich komme ja wieder. Für Marathonläufer  beginnt nun eine 8 km Schleife. Das Gras auf dem Weg ist eindeutig niedergetrampelt, Läufer sehe ich jedoch nicht, wahrscheinlich laufe ich entgegen der Laufrichtung.

Es geht um den Bergrücken des Grosse Arius herum. Bei km 9,5 überquere ich zwei Stollen. Ich sehe keinen, sind ja auch unterirdisch. Ich weiß nur: Beide kommen von rechts, einer aus einem Sperrgebiet „Sondergebiet“, wo sich ein Stolleneingang befindet, ein anderer von einem riesigen Bunkergelände genau unter unserer Laufstrecke. Beide Stollen enden unterhalb des Funkturmes. Es sollte das Nato-Hauptquartier im Falle eines Atomkrieges sein. Das wurde glücklicherweise nix.

Für ein Rechenzentrum würde der Bunker jetzt  reichen, die Stadt hat Interesse, Christian Hottas für seine Marathonserie „Lost Places“ auch. Die Lebensmittelrationen werden nun nördlich des Startgeländes gelagert, im zentralen Langzeitlager der Bundeswehr, North Carolina Road. 

Bei km 11,5 gibt es den Maiblumenfelsen. Von hier hätte man einen Blick auf Ruine Gräfenstein ( 12.Jh). Über uns hätten wir den Ruppertstein mit den Burgruinen Ruppertstein und Lemberg, beide 12.Jahrh. Eigentlich sind alle Ruinen aus dem 12. Jahrhundert, ich hatte es beim Burgwald-Marathon erwähnt: Es gab  ein wenig Durcheinander bei der Kalenderführung von Papst Gregor. Die Scherben, die man beim Klosterbrunnen fand, datiert man also vorsichtshalber in eine breitere Zeit zwischen dem 8. und 13. Jahrhundert.  Der Himmel zieht sich zu, es regnet jetzt heftiger.

Am kleinen Fluss Rodalb ist wieder ein Verpflegungspunkt. „Alb“ ist keltisch und heisst Fluss. „Rod“ weist auf eine Rodung hin, oder auf den roten Sandstein. Während meines stillen Laufes denke ich an eine andere Zeit, an die der Jäger, die hier vor 600.000 Jahren Schutz in den Höhlen und unter den Überhängen fanden. Bei km 12,5 geht es  über den nördlichen Stollen des Beinahe-Nato-Hauptquartiers. Gerade springt eine Lüftungsanlage des Bunkers an und ein wenig weiter ein Reh über die Laufstrecke.

Zahllose Felsentrails führen nun zur Bärenhöhle, der Bärenquelle, der keltischen Burg, den Brudersteinen, den Amboßfelsen und sonstigen Urgesteinen. Für diesen Marathon sind aber nur 650 Höhenmeter vorgesehen, deswegen geht es nicht dort hinauf. Alle Steigungen  sind gut laufbar. Ich gebe mir heute Mühe, mache keine Pausen, schon gar nicht für Fotos, denn zu sehen gibt es: Jawoll, nichts! Dafür sind die VP´s super ausgestattet. Ich könnte jetzt eine Banane, einen Musliriegel, oder einen Apfel fotografieren (manche kennen die Dinger ja nicht), aber so habe ich damals auch laufen gelernt: wir hatten ja nix.

Die Feuerwehr bietet lückenlose Überwachung der Laufstrecke, als wäre dies ein IAAF Gold Lable Road Race, oder so. Bei km 16 sind wir zurück am Forsthaus Beckenhof, laufen weiter nach Norden bis ins Lamsbachtal. Nach einer Schleife an der Pferdepension Hommbrunnerhof geht es hinauf zum Lambacherhof.  Ich bin der erste Läufer, deswegen bekomme ich riesigen Ablaus. Wirklich!

„Die“ Fumbach, so wird dieser ewig lange Anstieg und der grausige Weg genannt, seitdem in den 60er Jahren hier drei Kinder verschwanden. „Der Waldmensch von Pirmasens“, so  bezeichnete die Zeitung den barfüssigen, bärtigen Höhlen- und Bunkerbewohner, der damals dringend tatverdächtig war.  Er wurde dann doch unter dem Jubel der Bürger von Pirmasens freigesprochen. Es bleibt eines der großen, ungelösten Kriminalrätsel Deutschlands. Alle Kinder verschwanden freitags, heute ist glücklicherweise Sonntag.

Gefunden wurde: Nichts, keine Knochen, gar nichts. Nur eine angebliche Hundeleiche im Eisweiher. Der Waldmensch G. J. , der sich vielleicht nicht nur von Beeren ernährt hatte, soll immer noch leben. Er müsste jetzt 84 sein. Da habe ich jetzt keine Angst, ich kann mutmaßlich doch noch schneller die Fumbach hinauflaufen, als er.

Rechts sind urige Sandsteinhöhlen, das jahrtausendealte Laub verschüttete die Eingänge. Bei Ausgrabungen würde man vielleicht auch kleine Knochen aus jüngerer Zeit finden. Ich finde meinen Laufrhythmus nicht, mein Bein macht seit dem Start Probleme. Aus zahllosen Stockwerken glotzen mich dunkle, schmale Höhlenschlitze an, das geht hoch bis zur vermeintlichen Baumgrenze, wo der schwache, weinende  Himmel  nur noch zu erahnen ist. Habe das Gefühl, ich werde beobachtet.

Die Fumbach ist sonderbar.  Überall Absperrungen wegen Schusswaffengebrauchs,  riesige Holzstapel, dichtes Gestrüpp und die unheimlichen Sehschlitze der Höhlen, die wie Flakbunker oder Plattenbauten auf mich hinuntergrinsen. Die Wege verwandeln sich in überwucherte, schmale Trails.

Ich bin seit Stunden alleine unterwegs. Wahrscheinlich, weil alle hinter mir sind. Da höre ich von oben seltsame Laute, die ich nicht einordnen kann. Erst viel später, als ich oberhalb eine Schleife laufe, sehe ich, dass hier im dichten Dschungel ein Tierheim ist. Die Schilder sind tief in die Rinde der Bäume eingewachsen. Hatte man hier vielleicht irgendetwas verfüttert, was man nicht mehr finden durfte?  Am Weg jedenfalls stehen große Müllcontainer, locken mit Verwesungsgerucht fette Viecher an.

Doch zunächst gibt es bei km 24 wieder eine Schleife. Die beginnt an der Kreuzung, an dem der VP steht. Von rechts kommen Marathonläufer. Die rufen schon 10 Meter vorher, was sie gerne trinken und essen würden. Ich möchte erstmal die Speisekarte. Was ich gerne trinke, ist eigentlich klar. „Nächstes Jahr habe ich bestimmt ein paar Flaschen für dich dabei“ sagt mir das lustige Mädel, das sich heute Morgen bei der Ausgabe der Startnummern meinen Namen gemerkt hat. Ich komme also unbedingt zurück, zunächst erstmal, wenn ich 36,5 km bewältigt habe.

Was jetzt beginnt, ist eine wunderschöne Strecke. Vorbei am Gemers- und Seibelsbachbrunnen, Felsen und Farnen. Verschiedene Schleifen werden gelaufen, dann den Langenbach hoch und runter. Zu sehen gibt es nichts, ich mache sogar Fotos von roten Brommbeeeren und Pferden. Optimales Lauf- , aber nicht Fotorevier.
Mir gefällt jetzt die Einsamkeit. Ab und zu steht irgendwo ein Streckenposten, den riecht man wegen des Zigarettenqualms schon von weitem: „An die Einsamkeit gewöhnste dich!“ Und steckt sich an der glimmenden Fluppe die nächste an.

Die Laufstrecke ist nicht matschig, es liegt genug zerbröselter Sandstein rum. Mal ist er gelb, mal blutrot, mal gibt es Heidekraut und Ginster mit tiefschwarzen Samenschoten, mal fette Farnwedel oder goldige Goldruten. Irgendein Flattermann hämmert an Bäumen rum. Es gibt also genug zu futtern, Wildschweine haben den Mittelstreifen in langen Linien aufgepflügt, sodass ich meine Füße plazieren muss.

Hier fühle ich mich wohl. Der Wald ist nicht zu dunkel, manchmal gibt er Blicke über waldige Hügel frei, manchmal gibt es hohe Kiefern, unter denen ich mich besser fühle, als unter dichten Buchen. Der schwarze Hollunder lockt mit fetten Fruchtständen, Kindheitserinnerungen. Der rote, den ich suche, ist seltener. Entlang der Bäche blüht das rosa Springkraut, das in der Medizin als Brechmittel genutzt wird und mir Atemnot beschert. Die Bäche selber werden durch eigenartige Konstruktionen in verschiedene Bereiche aufgeteilt. Vielleicht züchtet man Wasserkäfer, denn wer weiß, was die Leute hier essen.

Endlich bin ich wieder am VP bei km 36,5 und werde von meinem Startnummernausgabe-Schatz empfangen. Ich frage noch nach, wieviele Läufer vor mir sind. Es seien nur zwei, das könnte stimmen.

Bei 37 geht es durch´s Wohngebiet, dann wieder uriger Wald, dann wieder Wohngebiet, und sehr, sehr viele Verpflegungsstellen. Es gibt wieder etliche, kurze, flache Steigungen, alles ok. Auch die Trailabschnitte sind nicht schlecht.

Bei km 41, direkt nach dem Altersheim, sieht man dann aber doch alt aus. Ich sehe noch das Schild „Rettungszufahrt“, dann falle ich in den Gehmodus. Rechts die Messehallen 4 und 3. Wo ist 6?  Ein Ordner sagt zu mir sinngemäß, weil ziemlich pfälzerisch: „Lass dich links fallen, dann kann dir nix mehr passieren!“

Da ist es wieder: „Das Nichts!“ Also lasse ich mich fallen, einfach die Auffahrt hinunter.
In der ersten Halle ist wirklich nichts, ein bisschen Musik vielleicht und jede Menge Absperrungen, als hätte es hier im Permzeitalter Zuschauer gegeben. Dann noch ein Durchgang, ich laufe durch die nächste Halle, die Zielhalle, werde angekündigt wie ein Boxchampion im Bademantel, der gerade tänzelnd aus der Kabine kommt und die Fäuste drohend vor´s Gesicht hält. Beinahe hätte ich noch demonstrativ über die Absperrung gespuckt, aber ich bin auch so ein Held!

Alles, was auf den Bierbänken sitzt, applaudiert. Das sind schon recht viele, die hätten ja auch mal aufspringen können!  Kleine Kurve noch, Medaille und ab zur Theke. Schon sitze ich und warte, wer nach mir ins Ziel kommt. Ich warte lange, es gibt keine offizielle Schlusszeit, keinen Druck, keinen Zwang, keinen Cut-Off, einfach: Nichts! Man hat hier in der Pfalz viel Zeit. Das ist super, das gibt den Läufer Ruhe, das zeichnet diesen Lauf aus. Nachdem der letzte Marathoni durch ist, passiert hier: Nichts mehr! 

Meine Empfehlung: Bei einer Startzeit von 10:30 sind Kind und Kegel eventuell rechtzeitig wach. Du schickst dann den Anhang per Shuttlebus hinauf auf die Felsensteige und läufst locker diesen Marathon. Trefft Euch nach sagen wir mal 6,5 Stunden in der Zielhalle, weil die Laufstrecke unglaublich hart ist, ungewöhnlich fordernd, einsam und überall wilde Tiere und Dornengestrüpp. Wildschweine und Waldmenschen, die kleine Kinder fressen, und diese grausame, steile Fumbach! Mensch. Das ist kein normaler Marathon! Wenn Kegel fragt, wieviel Du getrunken hast und was Du gelaufen bist, dann sagst Du: „NIX“ und gibst ihr einfach wortlos die Autoschlüssel.

Wie sagte der Streckenposten: „An die Einsamkeit gewöhnst du  dich!“

 

Informationen: Pfälzerwald-Marathon
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