Ein Marathon in den Bergen ist etwas ganz Anderes als im flachen Land. Zu der eigentlichen Kilometerleistung kommen die Höhenmeter dazu, welche zum einen mehr Zeit und zum anderen ein gehöriges Maß an Kraft erfordern. Als Gegenleistung bekommt man immer tolle Ausblicke und ein Naturerlebnis, das vor allem im Hochgebirge unvergleichlich ist.
In diesem Jahr steht für Norbert und mich der Brixen Dolomiten Marathon auf dem Programm. Weil uns Südtirol aus Kindheitstagen in schöner Erinnerung ist, freuen wir uns besonders darauf, die Berge hier einmal laufend zu bezwingen. Dass Brixen selbst einiges zu bieten hat, wird uns schon bei der Ankunft bewusst. Ein mittelalterlicher Stadtkern mit beeindruckenden, perfekt erhaltenen Gebäuden einschließlich Dom - ganz nach unserem Geschmack.
Der zentrale Domplatz ist bereits am Freitagnachmittag komplett in Läuferhand. Die große Showbühne, gleich zwei Marathontore und eine kleine Läufermesse mit Startnummernausgaben dominieren das Bild. Der größte Stand ist für den Women’s Run, der noch heute Abend stattfinden wird. Zunächst holen wir aber unsere Startnummern. Die Nummern sind nach den Nachnamen sortiert, so dass bei ungefähr 400 Startern die Ausgabe kein Problem darstellt. Allerdings benötigen ausländische Läufer, wie immer in Italien, ein ärztliches Attest. Es gibt eine gut gefüllte Startertasche mit Nudeln, regionalem Brot, Trinkjoghurt, dem obligatorischen Werbematerial und letzten Infos zum Lauf.
Liegt am Nachmittag der Domplatz noch beschaulich in der Sonne, so ändert sich das gegen Abend hin völlig. Erst vereinzelt, dann immer mehr kommen Mädels jeden Alters auf den Platz. Laut Ausschreibung ist das Leitmotiv des Women’s Run, eine „Veranstaltung unter gleichgesinnten Mädchen und Frauen ohne Wettkampfcharakter und demzufolge ohne Zeitnahme und ohne Startnummern“. Weil der Lauf dieses Jahr unter dem Motto Feuer steht, ist das gesamte Areal in rot getaucht, denn jede Starterin erhält zur Erinnerung an dieses Event ein rotes Shirt. Der Erlös des Laufs, der bereits zum vierten Mal ausgetragen wird, kommt jedes Mal einem anderen karitativen Zweck zugute. Die Kinder der Läuferinnen werden dieses Jahr von den Clown Doktoren des gemeinnützigen Vereins Medicus Comicus betreut, die auch Stimmung auf der Strecke machen.
Gegen 19 Uhr wird es laut. Die Läuferinnen, die sich bereits im Startbereich versammelt haben, werden begrüßt. Unter Anleitung von Animateuren des Fitnessclubs Knackig wird kollektiv aufgewärmt, was den Teilnehmern sichtlich Spaß macht. Und dann geht es auch schon los. Ob ein eigenes Starttor tatsächlich nötig ist, sei mal dahin gestellt, den Mädels ist es vermutlich egal. Wichtig ist nur, die Strecke von 4,2915 km zu schaffen und den Lauf so richtig zu genießen. Weil es sich um zwei Runden handelt, ist es auch für die zahlreichen Zuschauer interessant. Irgendwann sind dann alle im Ziel. Zur Belohnung erhält jeder eine Flasche alkoholfreies Bier. Obwohl wir nur als Schaulustige dabei sind, erinnern mich solche Augenblicke immer an das, was Laufen eigentlich bedeutet: Spaß und Freude an der Bewegung.
Für uns beginnt der Spaß am nächsten Morgen. Für einen Bergmarathon ist eine Startzeit von 7 Uhr 30 nichts Ungewöhnliches. Es ist der Tatsache geschuldet, dass mit einer durchschnittlichen Laufzeit von 6 Stunden bei einer Bergankunft die Läufer auch rechtzeitig wieder ins Tal gebracht werden müssen. So auch hier in Brixen. Weil die Möglichkeit besteht, Equipment an die Wechselpunkte der Staffeln zu schicken, ist etwas Planung unumgänglich. Norbert überlegt, Hikingstöcke mitzunehmen, die aber erst für das letzte Teilstück zugelassen sind. Also wird das Säckchen beschriftet und beim entsprechenden Wagen abgegeben. Der Fahrer verspricht, die Stöcke separat zu deponieren, damit sie später schnell gefunden werden. Dann geben wir noch eine Tasche mit Wechselkleidung für das Ziel am dafür vorgesehenen LKW ab. Der Bon dafür war an der Startnummer dran.
Zusätzlich habe ich, wie immer, einen Trinkrucksack mit Gels und Früchteriegeln und zusätzlich eine leichte Jacke und den Regenumhang dabei. Da es bereits 19 °C hat, befestige ich auch die Armlinge am Rucksack. Weil ich ungern eine Mütze trage, habe ich sie Zuhause gelassen. Nun war es allerdings gestern so heiß, dass ich doch gerne einen Sonnenschutz mitnehmen würde. Gott sei Dank hat Klaus die nagelneue Mütze von Marathon4you für mich im Gepäck. Auch die kommt vorsorglich an den Rucksack. Trailschuhe sind vorgeschrieben und werden bei entsprechender Witterung auch kontrolliert. Norbert läuft, wie immer, ohne Firlefanz, hat aber seine Windjacke bei den Hikingstöcken deponiert.
Punkt 7 Uhr 30 ist Start. Dass der Startschuss erst ertönt, als bereits die Ersten die Zeitmessmatte überquert haben, trägt zur allgemeinen Erheiterung bei. Wir verlassen den Domplatzes Richtung Nord- Westen. Es geht durch ein mit alten Fresken bemaltes Tor und dann scharf links die Fußgängerzone entlang, bis wir zum „Ansitz von Lachmüller“ kommen. Hier geht es rechts. Hinter einer hohen Mauer liegt die Brixener Hofburg. Seit der Verlegung des Bischofssitzes nach Bozen im Jahre 1973 beherbergt sie das Diözesanmuseum und das Diözesanarchiv.
Zweimal links und es geht in der Gegenrichtung zurück. Wir erreichen den Eisack und laufen ein Stück an dessen Ufer entlang. Er ist Südtirols zweitgrößter Fluss, entspringt am Brenner und mündet hinter Bozen in die Etsch. Nach km 3 überqueren wir zunächst den Eisack und gleich anschließend die Rienz, die hier nach ein paar Metern in die Eisack mündet. Es geht aufwärts und wir verlassen den Ort. An der ersten VP hat sich das Feld bereits so weit auseinandergezogen, dass man sich die Getränke aussuchen kann.
Von der Straße aus geht es auf einen breiten Waldtrail, der uns wellig bergauf führt. An einem kleinen Weiler bei km 6 stehen ein paar Zuschauer. Ein Helfer passt auf, dass wir hier den Einstieg zum Trail nicht verpassen. Es geht nun stetig bergauf. Plötzlich kommt Norbert von hinten. Wegen Knieproblemen musste er am Anfang gleich gehen. Er hat aber mittlerweile einen Laufstil gefunden, mit dem er schmerzfrei laufen kann. Wir verabschieden uns nochmals, dann er zieht davon.
Auf einmal öffnet sich der Wald und gibt eine weite Wiesenlandschaft frei. Der Weg wird breiter und flacher. Ich atme erst einmal durch und genieße den schönen Blick auf das Tal und die bunten Blumen auf der Wiese. Mich erstaunt, dass etwas oberhalb große Rasensprenger am Arbeiten sind. Ich wusste nicht, dass die Almwiesen künstlich bewässert werden.
Am nächsten Weiler haben Zuschauer auf einem Bänkchen Platz genommen und feuern uns an. Da kommt auch schon die zweite VP. Der Weg führt weiter nach oben und aus den Läufern sind längst Geher geworden. Unter uns kann man ganz Brixen sehen. Etwas weiter oben liegen zwei Fotografinnen auf der Lauer. Eine von Ihnen meint: „Bitte kurz rennen für das Foto!“ Fast alle tun ihr den Gefallen. Hinterher sehe ich, dass sie sich für die Bilder ein fantastisches Panorama ausgesucht hat. Hätte ich mich hier nur mal umgedreht.
Jetzt überqueren wir eine Straße. Zuschauer feuern mich an. Aber meinen die überhaupt mich? Ohne dass ich es gemerkt habe, kommt der Führende des Staffelwettbewerbs von hinten. Die Staffeln sind eine halbe Stunde später gestartet. Ab jetzt kommen immer wieder schnellere Läufer von hinten. Aber nicht nur Staffelläufer überholen mich. Auch Marathonis kommen vorbei. Bin ich bald die Letzte? Der Ton eines Alphorns liegt in der Luft. An der nächsten VP hinter km 9 steht der Bläser und entlockt seinem Instrument diese wunderbar tiefen Töne, die einen magisch anziehen.
Bei km 10 habe ich eineinhalb Stunden auf der Uhr. Das passt bisher ganz gut. Carabinieri sichern den Übergang über eine Straße. Hier in der Kurve ist es unübersichtlich und ich bin froh, den folgenden kleinen Trail unbeschadet zu erreichen. An der Umlaufgondel in St. Andrä befindet sich der erste Staffelwechsel, eine Zeitnahme für den Marathon und die erste Vollverpflegung. Im Gegensatz zu den letzten ruhigen Kilometern ist hier der Teufel los. Ich mache erst mal Pause und sichte das Angebot. Auf Äpfel, Riegel und Rosinen verzichte ich, dafür schiebe ich ein paar der leckeren Kekse in den Mund. Erst hinterher überlege ich, ob Mürbteigplätzchen mit und ohne Marmelade wirklich die richtige Läufernahrung sind. Mir hat es jedenfalls nicht geschadet. Dazu noch Tee und Iso. So kann es weiter gehen.
Jetzt müssen wir aber erst einmal steil eine Wiese hinauf. Hier haben Kinder Zeichnungen angefertigt, auf denen man Läufer freudig über die Berge sprinten sieht. Ich kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Von hinten kommen schon wieder Staffelläufer, die trotz des steilen Geländes immer noch im Laufschritt unterwegs sind. Selbst wenn ich nur 10 Kilometer laufen müsste, könnte ich dieses steile Stück nicht rennen. Alle Achtung! Während ich langsam nach oben komme, empfängt mich zum ersten Mal der Ausblick auf die weiter hinten gelegenen, mit Schnee bedeckten Gipfel. Leider nur kurz, denn es geht in den Wald. Hinter der Trametschhütte unterqueren wir mehrfach die Seilbahn. Die nächste VP folgt bereits bei km 15. Es ist schon ziemlich warm und daher angebracht, viel zu trinken. Hinter km 16 steht ein Streckenposten auf dem Weg. Das heißt, ein Abzweig naht. Dieses Mal geht es auf einem Singletrail bergab. Trotz der vielen Wurzeln freuen sich meine Beine über die willkommene Abwechslung. Rasant geht es nach unten, so dass ich sogar zwei Läufer überholen kann.
Wir verlassen den Wald. Nun führt eine Straße durch eine Landschaft, wie sie typischer nicht sein könnte: rechts saftige Wiesen, soweit das Auge reicht und links ein tiefes Tal mit hohen Bergen im Hintergrund. Dazwischen immer wieder kleine Gehöfte. Die Bauen sind dabei, Heu einzufahren, denn dunkle Wolken hängen über den Bergen. Der Wetterbericht hatte gegen Nachmittag vor Gewitter gewarnt.
Nach der VP bei km 18 folgt der Staffelwechsel bei km 20 in Afers. Auch dort gibt es eine VP, allerdings nicht direkt am Wechselpunkt, sondern etwas oberhalb. Sie scheint nur für Marathonläufer gedacht zu sein. Ich bleibe bei Keksen und Äpfel; die schöne Aussicht gibt es gratis dazu. Es geht erneut bergab. Beim 21,097 km Halbmarathon-Schild bin ich bereits dreieinviertel Stunden unterwegs bei einem Gesamtzeitlimit von 8 Stunden.
Von der Almstraße werden wir auf einen Wiesenweg geleitet, der bergauf an einem kleinen Gehöft endet. Die Schafe haben es sich gemütlich gemacht und lassen sich von den vorbei schnaufenden Läufern nicht stören. Gleich gibt es die nächste VP. Ein kurzes Stück auf Asphalt wird wieder von Wiese abgelöst. Immer wieder folgt auf Steigung ein Gefälle. Ich dachte, wir müssen hinauf; davon ist aber im Moment nicht die Rede.
An einer spitzen Linkskurve haben es sich die Helfer auf der Leitplanke gemütlich gemacht. Dort geht es nun weiter bergauf. Schon von weitem sehe ich erneut einen Streckenposten. Im Näherkommen erkenne ich den winzigen Trail, der hier steil nach oben führt. Jetzt geht es richtig zur Sache. Etwa 2 Kilometer folgen wir einem wirklich schönen, schmalen, aber gut zu laufenden Singletrail nach oben. Dann verlieren wir die hart erarbeiteten Höhenmeter auf einem breiten Waldweg nach unten. Es erwartet uns die nächste VP.
Bis hinter km 26 gehe ich auf diesem breiten Weg bergauf. Mittlerweile bekomme ich richtige Probleme: aber nicht mit der Hitze oder den Bergen, nein – hunderte von Fliegen verfolgen mich schon längere Zeit. Gut, dass ich die Mütze habe, so ist es nicht ganz so nervig. Ich muss mich aber zusammenreiße,n um diese Plagegeister auszublenden. Sie machen mich sonst verrückt.
Ein Streckenposten weist uns nun nach rechts mitten ins Nichts. Den kleinen Pfad kann ich erst gar nicht erkennen. Ein Meer von weißen und gelben Blüten, vermutlich Wollgras und Trollblume, weisen auf feuchten Untergrund hin. Bevor wir nasse Füße bekommen bringt uns ein Steg auf die andere Seite des Moors.
Ein Schild kündigt den Bergpreis in 500 m Entfernung an. Der erste Läufer und die erste Läuferin, die dort auf der Rossalm ankommen, erhalten 350 Euro extra. Außerdem kommt hier die nächste VP. Als ich jedoch zehn Minuten später dort ankomme, stockt mir fast der Atem. Geislerspitzen und Peitlerkofel sind zum Greifen nah. Auf der anderen Seite läuft das Tal zwischen sanften Hügeln weiter. Sind es schneebedeckte Berge oder Wolken? Ich kann es nicht unterscheiden. Der Applaus der Helfer weckt mich aus meinen Träumen. Einer begrüßt mich: „Auf der Alm ist das Schlimmste bereits vorbei.“ Ich will es mal glauben. Dann stärke ich mich ausgiebig.
Weiter geht es auf einem schmalen Pfad nach oben. Die Almwiese steht in voller Blüte. Tausende weißer, gelber und roter Pünktchen, und ich mitten drin. Ich versuche die letzten noch vereinzelt blühenden Alpenrosen zu fotografieren. Da geht es um eine Kurve und ich stehe in einem ganzen Meer von Alpenrosen. Der ganze Hang ist voll davon. Gut, dass eine Läuferin vor mir ist, dadurch muss ich mich nicht so auf den Weg konzentrieren. Wobei, verirren kann man sich hier nicht. Der schmale Pfad ist die einzige Möglichkeit, den Hang zu queren. Allerdings ist er manchmal so ausgesetzt, dass er zum Abgrund hin mit einem Geländer gesichert ist. Darüber bin ich sehr froh. Wegen meiner Höhenangst kann ich die Aussicht leider nicht genießen. Links scheint es ziemlich steil hinunterzugehen. An einer Brücke steht ein Helfer. Das ist doch hoffentlich nicht gefährlich? Nein, die Holzbrücke ist stabil. Waren seither immer noch Kiefern rechts und links, kommen wir hinter km 29 auf offenes Gelände, und der Weg verläuft weitgehend flach am Hang entlang. An einem Viehgatter steht ein Helfer und öffnet das Tor. Ich bedanke mich bei Ihm. Vermutlich soll er einfach nur kontrollieren, dass keiner hier den falschen Weg nimmt.