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Laufberichte

Welt unter der Welt

04.12.10

„Habe nun, ach, Philosophie, Juristerei…“ Nein, das gehört jetzt nicht hierher, den Goethe spare ich mir für morgen in Weimar auf.

An den Festbänken in der Tiefe sitzen heute Marathonis, entledigen sich ihrer wärmenden Schichten, ratschen, nehmen flüssige und feste Stärkung zu sich, massieren ihre Waden oder lenken sich sonst irgendwie ab. Es liegt eine besondere Anspannung in der Luft, die Anspannung vor dem Start erscheint mir höher als bei so genannt normalen Marathons. Trotzdem bewegen sich die Teilnehmer nur zögerlich in den Startbereich. Es ist unverhofft kühl in diesem Bereich und die sommerlichen Laufkleider laden nicht zum Verweilen ein.  Es sind nicht alle in Sträflingskleider gehüllt wie die eine Läuferin. Die Nummer auf ihrer Brust ist aber keine Registriernummer, es ist ihr Geburtsdatum. Vor dem Start wird ihr ein Blumenstrauß zum runden Geburtstag überreicht. Es ist ihr Tag – der Tag der Nicole.

Für alle Bergleute ist heute ein viel wichtigerer Tag. Es ist Barbara-Tag, der Tag der Heiligen Barbara, ihrer Schutzpatronin. Die Blumen können weggelassen werden, die Kirschzweige sollen aber heute geschnitten werden, damit sie an Weihnachten blühen.

 

Ab in den Stollen

 

 

Was mir blüht, werde ich bald erleben. Der Countdown zum Start ist im Gang, als Startzeichen ertönt ein Gong. Bei Queen’s Bohemian Rhapsody ist es der Schluss, hier ist es der Ersatz für einen Schuss. Statt eines Schusses aus der Pistole gibt es einen Schuss Salz auf die Zunge. Wie das Feld sich in Bewegung setzt, erfüllt sich die Luft wie bei einer Stampede im Wilden Westen mit Staub. Von bloßem Auge nicht zu sehen, kann ich ihn kosten. Wie viel davon in der Luft ist und wie fein er ist, bringt das Blitzlicht der Kamera auf den Bildern an den Tag.

Wenige Meter nach dem Start ist in der dritten Kurve eine der beiden Verpflegungsstationen aufgebaut, womit ich erahnen kann, was mich diesbezüglich erwarten wird. (An dieser Stelle konnte man auf der anderen Gangseite Eigenverpflegung hinterlegen.)

Es geht noch zwei oder drei weitere Male scharf ums Eck, dann muss der innere Kompass schon die Segel streichen. Ich bin orientierungslos und werde später auf die Flatterbänder angewiesen sein, damit ich bei den diversen Abzweigungen den richtigen Stollen erwische. Ob ich in diesem Labyrinth mit der Ausdehnung des Straßennetzes einer mittleren Stadt (z.B. Erfurt)jemals wieder den Weg zurück finden würde, wage ich zu bezweifeln. Im Moment kann ich mich noch an die Masse halten, welche, kaum in Gang gekommen, zu stocken beginnt. Es ist hügelig in dieser Landschaft und anders als im Gelände übertag, fällt die Orientierung schwer. Es fehlen die Bezugspunkte mittels derer ich die Steigung und ihre Dauer abschätzen könnte.

Ich versuche mich vom Anstieg nicht ins Gehen fallen zu lassen und bin mir dabei nicht sicher, ob ich diesen Vorsatz lange werde halten können. Der zweite Verpflegungsposten markiert ungefähr die Hälfte der Runde und bietet Wasser, Tee, Cola und verschiedene Arten marathonistischer Festnahrung.  Noch hält sich das Durstgefühl in Grenzen, doch das Wissen um die extreme Trockenheit der Luft lässt mich prophylaktisch zur doppelten als gefühlt notwendigen Menge Flüssigkeit greifen.

Vorne und hinten an mir sind noch zahlreiche andere Läuferinne und Läufer. Viele tragen Stirnlampen, andere gleichen wandelnden Christbäumen. Ich frage mich, wie die breiten Gänge wirken, wenn sie nur vom Grubenlicht ausgeleuchtet sind.

Laufen und Staunen ist angesagt. Ich lasse diese unwirklich wirkende Wirklichkeit auf mich einwirken und laufe diese zweite Hälfte in flottem Tempo. Lange Geraden, aber nicht Ebenen, prägen diesen Abschnitt. Zuerst wieder leicht ansteigend, dann zunächst leicht, später spürbarer abfallend, ermuntert die Strecke zum Beschleunigen. Ich lasse es rollen und finde es toll, dass ich dabei sein kann.

Es geht um ein paar Ecken, wird heller und den Zuschauern nach zu schließen kann es nicht mehr weit sein bis zum Start- und Zielbereich. Noch etwas ist ein deutliches Anzeichen dafür. Nach einer dieser Kurve kommt ein massiver Temperaturabfall, mehr noch als hätte jemand die Türe eines Großgefrierschranks offen gelassen. Dieses Erlebnis erspart lange Beschreibungen des Vorgangs des Schockgefrierens.  Wir sind wieder in der Nähe des Schachts. Nicht gefrier- aber ausgetrocknet komme ich nach wenig mehr als einer halben Stunde an der Zielpassage vorbei und bin froh, dass ich weiß, dass unmittelbar danach Flüssiges gereicht wird.

In der zweiten Runde nimmt mir der erneute Anstieg automatisch Tempo raus, zudem will ich jetzt mehr Fotos der Örtlichkeiten schießen. Die Leichen der ausrangierten Grubenfahrzeuge haben es als Motive in sich. Schade, dass die Lichtverhältnisse nur Bilder einzelner Exemplare zulassen. Sie stehen nämlich so im Stollen wie wenn es vor langer Zeit zu einem Stau gekommen ist, der sich nie mehr aufgelöst hat. Sie sind weiß zugedeckt, es ist optisch kein großer Unterschied zu den während der letzten Tage auf den Parkplätzen übertage stehen gebliebenen Autos. Bloß, das Weiß ist nicht Schnee, sondern sein Feind auf der Straße, Salz.

In bin beeindruckt von der enormen Breite und Höhe der Gänge, durch welche uns die Strecke führt. Nur an einem Ort sind Abstützmaßnahmen auszumachen, ansonsten sind die Gewölbe selbsttragend. Der Boden ist gut zu belaufen. Der harte Untergrund ist meist mit sandigem Staub und Steinchen bedeckt. An einigen Stellen schimmert das Salz wie Eis zwischen dem feinen Schotter hervor, mit meinen Schuhen habe ich aber nur an wenigen Stellen ungenügende Haftung und rutsche.

Auf der zweiten Streckenhälfte ziehe ich schwungvoll weiter, mir ist aber klar, dass ich dieses Tempo nicht werde halten können.

In der dritten Runde halte ich weiter Ausschau nach Besonderheiten dieser unterirdischen Welt und merke dabei nicht, dass ich auf Gerhard auflaufe. Er ist etwas aufmerksamer, ruft mir zu und bleibt vorderhand mein Laufpartner. Im Wohlfühltempo – inklusive Gehpausen an den steileren Stellen – ziehen wir unsere Kreise und unterhalten uns dabei angeregt.

In der fünften Runde lässt sich Gerhard zurückfallen, um sich mit Musik zu versorgen, mit welcher er die weiteren Kilometer bewältigen will. Alleine ziehe ich weiter und lasse Ruhe auf mich wirken. Irgendwann überholt mich Gerhard sehr schwungvoll. Sein Ohrendoping ist voll eingefahren.

Auf mich allein gestellt nehme ich die Einflüsse der Umgebung auf meinen Körper plötzlich viel stärker wahr. Die Temperatur empfinde ich – vom Start- und Zielbereich abgesehen – als angenehm. Ich habe mich auf eine stickige Wärme eingestellt. Nichts ist davon zu spüren. Besonders auf der zweiten Streckenhälfte spüre ich den sanften Luftzug im Stollen. Am meisten spüre ich ihn an den Ohren und zwar akustisch. Windgeräusche vom Radhelm alleine können es nicht sein, dafür bin ich zu langsam unterwegs.

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Informationen: Untertage-Marathon
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