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Laufberichte

Water-1oo

17.06.11
Autor: Joe Kelbel

Starkregen! Die haben Starkregen angesagt!

 

„Andy, das bekloppte Schiebedach geht nicht zu!“  „Es gibt Starkregen, mach das Ding zu!“ Andy und ich nehmen fast die komplette Innenverkleidung meiner Karre auseinander, um das Schiebedach irgendwie mit Gewalt zu schliessen. Es ist strahlender Sonneschein, 25 Grad. Aber die Schweizer erzählen was von Starkregen.Unwetterwarnung.  „Die Kurbel! Da muss ne Kurbel sein! Notverschluß! Mach die Klappe dicht!“ Irgendwie ist das Ding dann zu, da fängt es auch schon an zu kübeln.

Kalorienaufnahme im Zelt. Bedröppelte Gesichter schauen nach draussen, wo die Kaskaden von der Zeltplane herabrinnen. „Liebe Läuferinnen und Läufer! Macht euch keine Hoffnung, es ist Starkregen angesagt, es wird empfohlen, um 21 Uhr zum Startplatz zu gehen. Der Weg dauert 15 Minuten, es wird sehr naß werden...“ so spricht der Moderator alle 15 Minuten, wie diese Ansage am Flugplatz: „Bitte lassen sie Ihre Gepäckstücke nicht unbeaufstichtigt!“  Und hier dauernd: „Es gibt Startregen.äh ja.. es gibt Starkregen!“  Mann! Es ist bekloppt, no hope!  Der Moderator benennt 1 Uhr für die Sintflut, ein Läufer hat 3 Uhr gehört, keiner sollte Recht bekommen. Jeder weiss es, und alle fragen: Wann kommt die Flut?

Ich verziehe mich in meinen Kofferraum und lausche den Regentropfen, die auf das Autodach hämmern. Ich döse so dahin, als ein Schwall Regenwasser seinen Weg durch die geöffnete Heckklappe findet und mich aus meinen Träumen reisst: Es gibt Starkregen!

Zurück ins Zelt. Kaum Gespräche. Gespannte Konzentration vermischt sich mit Regenfrustation. Es macht keinen Sinn zu schauen, welche Mittelchen dieser oder jener Läufer benutzt, welche Schuhe, Regenklamotten oder Ausrüstung sich dein Nachbar zurechtlegt.  Jetzt gilt es, das Wissen, welches du dir  in zahllosen Läufen angeeignet hast, präzise umzusetzen, um dein Überleben für die nächste Nacht zu sichern. Doch was macht man bei Starkregen? Das war nicht in meiner Planung, ich hatte den besseren Wetterbericht gewählt.

In wenigen Stunden trete ich meinen vierten 100ter an. Die Meisten hier sind Wiederholungstäter, das macht es aber nicht einfacher. Wir wissen, daß ein kleines Wehwehchen sich in 10, 12 Stunden zur Katastrophe ausweiten kann. Der Regen nimmt die Widerstandkraft der Haut, die nasse Kleidung reibt alles wund, die Kälte der Nacht wird dich an die Grenzen bringen. Wir wissen wie es ist, wenn Magen und Darm die Gefolgschaft verweigern, wenn die Arme kribbeln und die Finger geschwollen wie Bratwürste sind. Wir wissen, wie es ist, in die Nacht hineinzulaufen, wenn der Regenmond sein kaltes  Licht hinter den Wolken verbirgt, wenn sich die unendliche Reihe der Stirnlampen am ewig weit entfernten Horizont mit dem Regen verbindet und du realisierst wie lang diese Nacht sein wird. 

100 km Regen! Wird das mein Water-1oo? Oder ein Waterloo?

Im Festzelt steht die Regenbrühe. Der Umkleidebereich ist mit Rindenmulch ausgelegt, aber viel zu klein. Der Mief zieht vom Toilettenwagen herein. Kein Läufer ist mehr in seinem Campingzelt, die schwimmen weg. Ziemliches Gedränge und prämarathonale Schwüle. Hier und da versuchen einige noch eine Mütze Schlaf zu bekommen. Grausame Wartezeit im Gedränge der transpirierenden Ultrakämpfer.

Die neue Örtlichkeit (Seeland) ist gut gewählt. Wenige Meter vom HBF entfernt. Zeltplatz ist einmalig, man könnte auch baden gehen, tut man jetzt eh. Beim Coop gibt es die beste Wechselstube der Stadt, das ändern wenig an dem unglaublichen Wechselkurs von 1,18. Die Nachmeldung, die Nudeln und das Bier sind für Euro-Leute verdammt teuer geworden. Das verstärkt die bedröppelte Stimmung.

Um 21 Uhr machen wir uns auf, Richtung Innenstadt, nicht weit, gut zu finden.Es regnet nicht mehr, aber es wird auch nicht gelacht. Komische Stimmung. Pater Tobias fragt mich, ob es heute Nacht regnen wird. Ich sage ihm, dass er wohl bessere Verbindungen hat als ich.

Ganz eigenartige Stimmung.Unsicherheit, Kleidung, Creme, bin ich richtig ausgerüstet? Es wird schnell dunkel. Ich erwische noch Dieter Baumann, der heute seinen ersten 100ter läuft. Der mittlerweile 46-Jährige hatte 1992 an den Olympischen Sommerspielen von Barcelona in seiner Parade-Disziplin 5000 m Gold geholt. Der Zahnpastawitz wäre unangebracht, niemandem ist zum Lachen, eine ganz, ganz dicke emotionale Wolke hängt über dem Starterfeld. Es ist Starkregen angesagt, und jeder Läufer spürt es: Diesmal ist es nicht nur die Nacht der Nächte, es ist Water-1oo! Aber aus Respekt vor dieser Nacht macht sich niemand in die Hose.

Exakt bei km 1 machen wir Bekanntschaft mit diesem Elemet, welches uns die Nacht begleiten wird. Wasser, jede Menge Wasser!

Noch kann ich den Fotoapparat in meiner Hand schützen. Innenstadt, Nidau, Port, Bellmund, Jens, ich seh nichts mehr, die braunen Reste einer Kuhherde vermischen sich mit Unmengen Wasser und spritzen mir ins Gesicht. Flatsch-Flastsch. Die braunen Suppe leuchtet silbern im Schein der Strinlampen. Der Geruch von Freiheit und Weidegrund liegt über der Läuferschar. Dank meiner Stirnrlampe kann ich den tiefsten Pfützen ausweichen. Es gibt kein nächtliches Tap-Tap, es gibt ein demoralisierendes Platsch-Platsch. Kappelen: Platsch-Platsch. Es dröppelt auf dem Kopf. Das ist Waterboarding der feinsten Art!

Meine Schuhe fühlen sich komisch an. Die Innensohlen rutschen auf dem Wasserfilm nach hinten raus. Alle paar Kilometer muss ich anhalten. Schuhe mit klammen Fingern öffnen, Sohlen reinschieben. Was hier abgeht,  kann ich  nicht mehr in Buchstaben fassen.

Krämpfe. Die Kälte macht mich fertig, die Muskeln wollen nicht mehr. Ich habe eine kurze Hose und T-Shirt an, mehr nicht. Umkehren? Aufgeben? Nie! Niemals! Wenn es einen Ausdruck für „Joe ist fertig“ gäbe, dann wäre er hier angebracht. Was da jetzt in meinen Beinen für ein blitzendes Schmerzdurcheinander gibt, das ist nicht aus dieser Welt.

Mich sieht keiner, ich bin hier allein in der Masse der Leidenden. Meine Verdauungsvorrichtung rebelliert. Erstaunlich, wie man sich mit seinen Mitläufern per Luftgeräusche verständigen kann, alle sprechen die gleiche Sprache! Doch Vorsicht! Ich erinnere mich an diesen Film mit Lois de Funès, wo die beiden Kohlsuppe gegessen hatten und dann die Außerirdischen landeten....

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