„… dann könnt Ihr Euch nicht verlaufen“. Letzte Hinweise von Etze, Frank-Ulrich Etzrodt, dem Veranstalter der Berliner Vollmondmarathons. Ja, es gibt nicht nur den weltbekannten Berlin-Marathon im September, sondern auch zwei weitere, beinah unbekannte läuferische Kleinode in Berlin. Jeweils zu Ostern und im Sommer, immer zum Vollmond. Mögt ihr die berlin-brandenburgische Wald- und Seenlandschaft statt Großstadtdschungel? Mögt ihr ruhige Läufe, einfach nur genießen, meist schweigend, weil kaum ein Mitläufer zu sehen ist? Statt Massenveranstaltungen? Mögt ihr Läufe in familiärer Atmosphäre und wollt ihr nebenbei noch Gutes bewirken? Dann seid ihr hier richtig, an der Havel, in Berlin-Tegel und –Spandau.
Bereits zum vierten Mal in Folge finden Andreas und ich uns am Karsamstag am Hohenzollernkanal in Berlin zur Osteredition des Vollmondmarathons ein, heute fünfte Auflage, womit wir also nur die erste Auflage verpasst haben. Während sich die Teilnehmer bislang immer im Gemeinschaftshaus der Kleingartenanlage am Hohenzollernkanal versammelten, treffen wir uns dieses Jahr am Ruderleistungszentrum. Vorteil: hier gibt es Duschen, bislang war nach dem Lauf Katzenwäsche angesagt. Außerdem wird der Lauf dadurch länger, 43,59 km sind es nun, quasi noch ein Vorteil, welchen wir auf den letzten Metern des Laufes aber vielleicht nicht so recht zu schätzen wissen werden…
Wir werden wie alle anderen Läufer persönlich von Etze und seiner Frau Evi begrüßt. Zur Einstimmung ertönt „Conquest of Paradise“ von Vangelis. Kommt den Ultras unter Euch bekannt vor? Richtig, ist auch die Hymne des Swissalpine Davos. Etze zählt auch zu den Finishern (des K78) und hat sicher von dort die Idee mitgebracht. Gleiches gilt für den Rennsteig, daher wird auch das Rennsteiglied gespielt, passend zu meinen heutigen Laufshirt. Die Anmeldeformalitäten sind schnell erledigt, so dass wir Läufer uns noch am bereits aufgebauten Zielbuffet bedienen, auf einem Stuhl bequem machen oder „Bruno“ streicheln können. Bruno? Etzes Hund, der zur Veranstaltung dazugehört wie Start und Ziel. Dann folgt die obligatorische Einweisung von Etze, der wir gerne zuhören.
Hohenzollernkanal, oder besser Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal, Tegeler See, Borsighafen, große Malche, Havel, Havelsee, Heiligensee, Nieder-Neuendorfer See, Havelkanal, Teufelseekanal. Aalemannkanal, Maselakekanal, Maselakebucht, diese Gewässer werden wir passieren. Etze hat Recht, tatsächlich haben wir überwiegend Blickkontakt zum Wasser, was meist auf der linken Seite zu finden ist. Verlaufen ist also schwer. Berlin wird auch als wasserreichste Hauptstadt der Welt bezeichnet. Ob das stimmt, keine Ahnung, jedenfalls hat die Grachtenstadt Amsterdam weniger Wasserfläche als Berlin.
Und Venedig hat weniger Brücken als Berlin. Eine Reihe davon benutzen wir heute: nämlich an der Neheimerstraße, auf dem Borsigdamm, die Sechserbrücke, die Brücke an der Sandhausener Straße, der Ruppiner Straße, die Brücke der deutsch-sowjetischen Freundschaft, über den Teufelseekanal, den Aalemannkanal, an der Eiswerderstraße, an der kleinen Eiswerderstraße, über den Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal. Also elf in Summe, im Durchschnitt mit 6 Höhenmeter pro Rampe, macht 66 Höhenmeter in Summe, mehr nicht, der Rest der Strecke ist mehr oder weniger topfeben. Also kein geeignetes Training für den Rennsteig in 4 Wochen. Übrigens gibt es auch Fähren hier, z.B. eine zwischen KM 14 und 31, aber abkürzen gilt nicht.
Was gibt es sonst noch zu sehen: Wald, auch hier hat Berlin einiges vorzuweisen und sticht zum Beispiel locker München aus. Wir durchlaufen die Jungfernheide, die zumindest hier keine Heidelandschaft ist, sondern Wald, den Tegeler Forst und den Spandauer Forst. Der Wald besteht oft aus Kiefern, wegen des eher sandigen Bodens haben diese anspruchslosen Bäume sich hier durchgesetzt. Ich mag diese Bäume, insbesondere den Kiefernduft im späteren Frühjahr. Den wir aber heute nicht riechen können.
Dazwischen urbanes Leben, da ist Berlin unbestritten die Nummer 1 in Deutschland: Wir durchlaufen Tegel, Tegelort, Konradshöhe, Heiligensee, Stolle Süd, Henningsdorf, Nieder Neuendorf, Spandau, Hakenfelde, Haselhorst. Meist aber gefällige Wohnsiedlungen, nur in Tegel und Spandau merken wir etwas von der Großstadt.
… können wir auch, wie ich eingangs erwähnte. Wie das? Indem Etze den Überschuss der Veranstaltung einem gemeinnützigen Zweck zuführt. Gleich nach der Einweisung folgt die symbolische Scheckübergabe an die Initiatorin des Projektes „Frühstück für Schulkinder“. Für mich also nach der Brocken Challenge bereits die zweite karitative Veranstaltung dieses Jahr. Dass überhaupt etwas übrig bleibt, angesichts des relativ kleinen Startgeldes von 40 €, Nachmeldungen kosten 10 € mehr, grenzt an ein Wunder und ist nur zu erklären durch die Tatsache, dass die insgesamt sieben Verpflegungsstationen von Etzes Freunden gestellt werden. Dort gibt es alles, was man braucht: Cola, Wasser, Tee, Schokolade, Kekse und vieles mehr. Zu Etzes Freunden zählt auch Günter Hallas, Sieger des ersten Berlin-Marathons, und, wie mir Günter erzählt, Kleingartennachbar von Etze. Alles sehr familiär hier. Günter läuft immer noch Marathon, ich habe ihn letztes Jahr beim Berlin-Marathon getroffen, heute nimmt er aber nur einen Teil der Strecke unter die Füße.
80 Teilnehmer wollen heute Gutes tun, etwa 25 mehr als in den Jahren zuvor, aber noch immer zu wenige, meine ich. Also bitte: Vielleicht habt ihr Lust, nächstes Jahr dabei zu sein. Auch Sigrid Eichner, die Weltrekordlerin in Punkto gefinishter Marathons – sie nennt die unglaubliche Zahl 2.161 - lässt sich heute überzeugen. Wer Gutes bewirkt, bekommt auch Gutes zurück, hier sind es Medaillen, stilecht im Osterlook mit Hase und Osterei. Aber die gibt es natürlich erst hinterher, wir sind ja noch nicht einmal gestartet. Dazu müssen wir erstmal gemeinsam zum Start gehen und queren dabei den Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal. Blauer Himmel und blaues Wasser, dazwischen saftiges Grün, machen Lust auf das Kommende.
10 Uhr, Zeit für den Start. Heute gibt sich die für den Wahlkreis zuständige Bundestagsabgeordnete die Ehre und ergreift die Pistole. Der Startschuss fällt - zum Glück, denn die letzten Jahre versagte die Pistole aufgrund des feuchten und kühlen Wetters. Dieses Jahr ist es warm, bis zu 21 Grad und sonnig, beinah optimales Laufwetter. Die Strecke habe ich euch schon beschrieben, Wasser, Brücken, Wald, Siedlungen.
Wir laufen zunächst 2 km den links liegenden Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal entlang. Diese Namensgebung stammt aus der Zeit, als Spandau noch eigenständig war, was allerdings auch schon fast 100 Jahre zurückliegt. Rechts erkennen wir durchgängig Kleingartenanlagen - ein schöner Anblick. Jetzt im Frühling ist alles in voller Blüte. Die Kleingärtner müssen übrigens ein besonders entspannter Menschenschlag sein, denn direkt über ihnen liegt die stark frequentierte Einflugschneise des Flughafens Berlin-Tegel.
Dieser asphaltierte Abschnitt am Kanal ist gut zum Sortieren und zum Tempo finden, das Teilnehmerfeld ordnet sich schnell nach den läuferischen Fähigkeiten. Allerdings werden wir kurz an einer Fußgängerampel aufgehalten, die Rot zeigt. Die Strecke ist nicht abgesperrt und wir müssen uns an die Verkehrsregeln halten. Dann verlassen wir den Kanal und laufen durch den Forst Jungfernheide, linkerhand die Havel, oft mit schönen Sandbuchten. Ich habe euch die Vielzahl der Gewässer und Seen, die wir heute berühren, bereits genannt. Aber eigentlich handelt es sich „nur“ um die Havel (und ihre Seitenkanäle), die hier so wunderbar mäandert und damit immer wieder neue Blickwinkel ermöglicht.
Nachdem wir bei km 6 den Forst Jungfernheide verlassen haben, sehen wir plötzlich auch rechts Wasser, es ist der Borsighafen, ehemals Hafen der von August Borsig 1837 gegründeten Maschinenbauanstalt, später als Borsigwerke einer der führenden Lokomotivenbauer Deutschlands und sicher der bedeutendste Industriebetrieb des Stadtteils Berlin-Tegel. Mit Krieg und Teilung ging die Industriekultur Berlins verloren und so sind auf dem Werksgelände heute die Borsighallen zu finden, ein großes Einkaufszentrum sowie moderne Wohnhäuser. Das Hafenbecken wird seitdem auch als Freizeithafen genutzt.
Unversehens erreichen wir bei km 7 die Greenwichpromenade, wo auch Fahrgastschiffe ablegen. Hier gibt es sogar ein richtiges „Kreuzfahrtterminal“. Fast niederländisch mutet ein riesiges Tulpenbeet an der Promenade an. Eine kurze Pause an der ersten Verpflegungsstation ermöglicht noch einen kurzen Blick auf Tegel, das, bevor es verstädtert und industrialisiert wurde, jahrhundertelang ein Fischerdorf am See war, wovon die vielen Hochhäuser nichts mehr erahnen lasssen.
Über die „Sechserbrücke“, einem Baudenkmal, queren wir die Einfahrt des alten Hafens, heute von modernen Einfamilienhäusern gesäumt. Vom urbanen Tegel kommen wir in den Tegeler Forst. Gleich fallen mehre Yachthäfen auf. Bei km 9 passieren wir die ehemalige Borsig-Villa auf der Halbinsel Reiherwerder, heute das Gästehaus des Auswärtigen Amtes und daher leider durch einen hohen Zaun abgesperrt und für die Öffentlichkeit nicht zugänglich.
Schließlich erreichen wir die Siedlung Tegelort. Mehrere schöne Ufergaststätten laden zum Verweilen ein, sind aber leider noch geschlossen. Nicht schlimm, die zweite Verpflegungsstation ist bald erreicht. Von nun an laufen wir 8 km nordwärts durch beschauliche Siedlungen, immer wieder mit Ausblick zur Havel. Erste Sonnenanbeter sind auch schon vorzufinden.
Inzwischen ist Tegelort in Konradshöhe übergegangen und dieses wiederum in Heiligensee, benannt nach dem Heiligensee, der bei km 18 durch einen schmalen Fließ mit der Havel verbunden ist, weswegen wir eine der wenigen Rampen hoch laufen müssen. Dies bereitet uns aber keine Probleme, dann schon eher der Belag, der oft auch aus unebenen Steinplatten oder Kopfsteinpflaster besteht, nicht einfacher zu laufen als vorher die manchmal etwas sandigen Waldwege. Bald erreichen wir die dritte Verpflegungsstelle kurz vor km 21. Hier ist immer besonders gute Stimmung und das Standpersonal hat die vom Veranstalter eingeplante Versorgung meist noch etwas aufgestockt.
Nicht weit ist es bis zur Stadtgrenze, die lange Zeit auch Staatsgrenze war, wie uns ein Hinweisschild zur deutschen Teilung zeigt, und zur Halbmarathonmarke. Dann erreichen die Stadt Hennigsdorf in Brandenburg, von der wir allerdings nicht viel sehen. Wir überqueren die Havel und schlagen die südliche Richtung ein. Ab hier laufen wir knapp 10 km auf dem „Mauerweg“, ein kleiner Vorgeschmack auf den August, wenn ich den 100 Meilen langen Mauerweglauf in Angriff nehme. Allenthalben sind Stelen und Hinweisschilder aufgestellt, die an die Opfer der Mauer erinnern, auch einzelne Wachtürme sind erhalten.
Eine Zeitlang geht es der Uferpromenade entlang, bevor wir rechter Hand das Werksgelände von Bombardier Transportation sehen, ebenfalls ein Hersteller von Schienenfahrzeugen wie Borsig. Das Werk Hennigsdorf hat eine wechselhafte Geschichte hinter sich. Gegründet als Werk der AEG wurde dies nach dem Krieg enteignet und war als LEW Hennigsdorf einer der führenden Schienenfahrzeughersteller der DDR. Nach der Wende wieder an AEG zurückgefallen, ging es durch Verkauf an Daimler über und schließlich weiter an Bombardier. Immerhin wird hier im Gegensatz zu Borsig noch produziert, nachdem eine zeitlang unklar war, ob nicht eine Schließung drohe. Zwischen km 23 und 26 laufen wir fast 2 Kilometer am Werksgelände entlang, um dann zur vierten Verpflegungsstelle gelangen, von er aus es über die Brücke der deutsch-sowjetischen Freundschaft und den Havelkanal hinweg weitergeht.
Wir erreichen Nieder-Neuendorf, der zugehörige Havelteil heißt logischerweise Nieder-Neuendorfer See. Ein schöner breiter Uferstreifen trennt die moderne Wohnbebauung rechts von der Havel links. Diesen Ausblick konnten die Einwohner nicht immer genießen und schon gar nicht die Badestellen an der Havel nutzen, denn die Sicht und den Zugang versperrte fast drei Jahrzehnte die Mauer. Heute ist hier alles ruhig, friedlich und aufgeräumt, ein als Museum dienender Wachturm erinnert an die Schrecken der Zeit.
Für mich ist es beinah zu ruhig hier, denn die weite Sicht nach vorn und nach hinten zeigt keinen anderen Läufer außer mir. Durch einen kleinen Wald, zum Spandauer Forst gehörig, erreichen wir wieder Berliner Gebiet am Jagdhaus Spandau bei km 30. Es ist ein beliebtes Ausflugslokal, der Biergarten ist schon geöffnet und sehr belebt. „Glückwunsch dem Rennsteigläufer“, werde ich gegrüßt. Ich wundere mich über das fachkundige Publikum und laufe weiter.
Dominika macht heute ihren ersten Marathon und noch nie so weit gelaufen ist wie bis hier. Darauf ist sie zu Recht stolz, Glückwunsch. Nach Durchquerung einer schönen Parklandschaft erreiche ich bei km 31 die vierte Versorgung. Hier betreut das gleiche Team, welches uns schon bei km 13 versorgte. Nach dem letzten Läufers packten sie dort zusammen, wechselten mit der erwähnten Fähre das Ufer und bauten ihren Stand wieder auf. Ganz schön stressig, dies rechtzeitig vor den herannahendem ersten Läufer zu schaffen.
Durch einen anschließenden Kleingarten, auch hiervon gibt es unzählige an der Strecke, erreichen wir bei km 33 das städtische Spandau. Für die nächsten sieben Kilometer ergibt sich ein völlig anderes Bild als bisher, denn Spandau liegt an der Mündung der Spree in die Havel und war früher ein wichtiger Umschlagplatz. Aber mit dem Niedergang der Industrie wurden auch die Häfen nicht mehr benötigt. Einige Reste sind noch zu sehen, zum Beispiel kleine Werften für Yachten. Meist aber sind an den Kais Grünanlagen entstanden oder neue Wohnbebauung. Das Wohnen in den modernen Häusern mit Blick aufs Wasser ist sicher nicht ganz billig. In Berlin steigen die Immobilienpreise und Mieten aufgrund des großen Zuzugs bekanntlich ja enorm.
Ich erreiche km 35. Jeder Kilometer ist übrigens markiert, die Tafeln zeigen ein schönes Foto mit dem Sonnenuntergang an der Havel. Wer den erleben will, muss an der Sommeredition teilnehmen, denn diese startet am Abend.
Bei km 37 fallen mir einige entkernte Hafen-Lagerhäuser auf, sicher steht eine Umwidmung in Lofts bevor. Sodann geht es über eine schöne alte Eisenbrücke auf die Insel Eiswerder, auch hier wurden Industriegebäude in Wohnungen umgewandelt. Nachdem wir die Insel wieder verlassen haben, erreichen wir die letzte Verpflegungsstelle auf der Strecke.
„1, 2, 3, Deins Udo 250“ steht in großen farbigen Buchstaben auf dem Boden. Schon vorher waren auf der Strecke ähnliche Sprüche zu lesen. Gemeint ist sicher Udo aus Augsburg, der mit der Startnummer 250 in der AK 65 heute den ersten Platz belegt. Die Startnummer ist wohl ein Hinweis darauf, dass er heute seinen 250. Marathon absolviert hat. Glückwunsch dazu und zum hervorragenden Ergebnis.
Jetzt geht es nur noch einen schönen Pfad dem Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal entlang, erst auf der rechten Seite und nach der letzten Brücke auf der linken Seite. Diese Passage kennen wir schon. Noch 2 km bis zum Ziel, das wie erwähnt nicht an der Marathonmarke liegt, sondern 1300 m dahinter. Etze wartet dort schon auf uns und nimmt die Zeit, hier noch handgestoppt und ohne Hektik. Nach einem Zielfoto mit Etze geht es zurück zur Basis am Ruderleistungszentrum, wo wir die Medaille von Evi erhalten.
War das ein schöner Tag heute. Ein vorgezogener Sommertag. Ein Lauf, der mit viel Liebe und Herzblut organisiert wird. Eine Gemeinschaft von Läufern und Veranstalter, die zu Recht die Bezeichnung Lauffamilie verträgt.
Vielen Dank Evi, Etze und Eurem Helferteam. Ich bin nächstes Jahr wieder dabei. Ihr auch, nicht wahr?