Dank der optimalen Trainingsbedingungen im vergangenen Winter haben wir, die Schweizer Freizeitathleten Dominik Högger und Daniel Eberli, die 42.2 Km über den zugefrorenen Baikalsee in Sibiren gut gemeistert. Seit seiner ersten Ausführung vor 13 Jahren haben erst 9 Schweizer der Kälte getrotzt und die Herausforderung angenommen. Zur benötigten Spezialausrüstung gehörten Laufschuhe mit Spikes, mehrere Lagen isolierender Kleider und ein Gesichtsschutz. Die Strapazen haben sich ausgezahlt.
Das Abenteuer hat jedoch bereits Monate vor dem Abflug nach Sibirien begonnen. Wegen der Extrembedingungen in Sibirien prüft der Organisator alle Läufer genau. Neben einem ärztlichen Attest muss auch ein "Läufer-Lebenslauf" eingereicht werden, erst dann kann die eigentliche Anmeldung und der Visa-Antrag für Russland erfolgen. Nachdem wir die Berichte früherer Austragungen und die zu erwartenden Wetterbedingungen studiert hatten, stellten wir die Ausrüstung zusammen und planten ein hartes Marathontraining über die Wintermonate. Wir absolvierten viele Trainingsläufe mit Freunden der Laufgruppe im Schnee und auf blankem Eis. Der zugefrorenen Silsee und die Skateline im Abulatal ermöglichten es, das Rennen mit den Eis-Spikes über mehrere Kilometer zu üben.
Die eigentliche Flugreise in die auf Permafrost-Boden gebaute Stadt Irkutsk war schnell geplant und die Aeroflot hat uns Anfang März über Moskau hingebracht.
Das Leben ist wirklich hart in Sibiren. Das rauhe Wetter zwingt dazu, dass sich praktisch alles drinnen abspielt. Gemüse ist rar und muss von weit her geliefert werden. Die Strassen sind leer und auch die Läden sehen wegen der Verbarrikadierungen und dem Wetterschutz geschlossen aus. Mit dem Bus fahren wir für zwei Stunden über schneebedeckte Strassen zum Baikal See. Da die Busfenster im Nu mit Eisrosen verziert sind, merken wir anfänglich gar nicht, dass wir schon am mächtigsten See der Welt angekommen sind. Beim Aussteigen kriecht die Kälte in jede Ritze und wir schliessen alle Reißverschlüsse. Es schneit stark und die Konturen der verschneiten Seeoberfläche und der Wolken sind fliessend. Grelles Weiss soweit das Auge reicht. Um auf die schneebedeckte Eisfläche zu gelangen, müssen wir zuerst eine "gefrorene Welle" überklettern, welche die dicke Eisschicht millimeterweise gegen das Ufer gedrückt hat. Es ist ein Glücksgefühl, mit beiden Beinen endlich auf dem See zu stehen. Wir sind angekommen.
Das Briefing am Abend vor dem Lauf ist kurz und knapp: Das Eis ist auf den gesamten 42 Kilometern dick und hat zwei grosse Risse, die wir dank Holzplanken überwinden können. Geschichten kursieren, dass letztes Jahr ein Läufer in einen Spalt gefallen sei und den Marathon abbrechen musste. Auch von Erfrierungen an Wangen und Nase wird berichtet, aber die Wettervorhersagen für morgen sind mit -10C eher mild. Noch haben wir die Sonne nicht gesehen, doch morgen sollen sich im Laufe des Tages die Wolken verziehen. Sorgfältig legen wir noch am Vorabend Kleider, Sturmhaube, Schuhe und Brillen bereit und füllen die Kohlehydrat-speicher mit einem Nudelgericht.
Am nächsten Morgen werden wir mit Hoovercafts und Kleinbussen zur Startlinie gefahren. Es ist schon ein seltsames Bild, all die bunt vermummten Läuferinnen und Läufer aus aller Herren Länder zu sehen. Es sind viele Russen und Asiaten im Teilnehmerfeld. In einem Zelt versuchen wir uns hüpfenderweise warm zu halten, bis es dann um 10 30h endlich losgeht. Aus einem Handmegaphon wird auf Russisch bis drei gezählt und die Sportler rennen aufs offene Eis. Der Weg ist mit roten Fähnchen gut markiert und die Organisatoren haben mit einem kleinen Pistenfahrzeug den Schnee platt gedrückt. Da die Muskeln anfänglich noch sehr kalt sind, kommt es an ungewohnten Stellen zu Verspannungen. Nach einem anfänglichen Spurt merken wir schnell, dass wir das Tempo drosseln müssen und versuchen uns an die GPS Uhr zu halten. Die Spezialschuhe mit Spikes (Salomon Snowcross) greifen toll und wir kommen gut voran.
Natürlich wäre es entspannter, mit einem T-shirt und Shorts an einem warmen Ort auf dieser Welt einen Marathon zu bestreiten. Doch genau weil wir die Strapazen auf uns nehmen, öffnet sich dieser bizarre Ort für uns und wir dürfen Sibirien sehen und erleben. Der Blick in die endlose Eis- und Schneewüste ist atemberaubend und gibt uns immer wieder Kraft, die Tiefs auf den nächsten 42 km wegzustecken. Beim Start ist das andere Ufer mit den hohen Bergen noch nicht zu erkennen. Erst nach 15 km können wir bestätigen, dass der See wirklich rundum von hohen Bergen umsäumt ist.
Eine Navigation oder das Einschätzen von Distanzen ist in dieser grellen, konturenlosen Umgebung unmöglich. Auch die Geräuschkulisse ist einzigartig: Zweimal rumpelt die Transsibirische Eisenbahn am Ufer vorbei, ansonsten ist es still. Wir hören nur Schnee unter unseren Schuhen knirschen und das harte Kratzen der Spikes auf dem Eis. Ab und zu fahren, von einer schwarzen Dieselwolke begleitet, Schnee-Motorräder und Hoovercrafts an uns vorbei und stellen sicher, dass wir keine medizinischen Probleme haben. Die Verpflegungsposten alle sieben Kilometer bieten Tee, Wasser, getrocknete Früchte, russische Schokolade und Käsewürfel. Wir sind froh, dass wir unsere Sportgels dabei haben. Damit sie nicht einfrieren, halten wir sie in einer Tasche unter der Isolationsschicht warm.
Für die Halbmarathonstrecke ist genau in der Mitte des Sees das Ziel. Die Läufer werden da empfangen und mittels Hoovercraft zum Hotel gebracht. Wir sind froh, dass wir für den Marathon trainiert haben, so haben wir doppelt so lange Spass. Wie immer wird es ab km 30 zäh, doch dann kommt das Ziel im kleinen Fischerdorf Listwjanka in Sichtweite. Wegen der guten Sicht wird man getäuscht. Man meint, gleich im Ziel zu sein. Wieder verlassen wir uns auf die GPS Uhren und warten geduldig mit dem Schlusssprint.
Auf der gesamten Strecke sind natürlich keine Zuschauer, aber im Ziel wird kräftig geklatscht. Mit erhoben Händen rennen wir zeitgleich nach 4 Studen 25 Minuten über die Ziellinie und lassen uns danach gleich in den frischen Schnee fallen. Euphorisch und um ein grosses Abenteuer reicher, gehen wir mit kleinen Schritten zum Hotel, um nicht auszukühlen.
Den Organisatoren gehört ein grosses Lob. Sie haben den Marathon in dieser harschen Umgebung perfekt durchgeführt. Einziger Wermutstropfen ist, dass die Finischermedallien "verloren" gegangen sind. Das Finisher T-shirt werden wir umso lieber tragen.
Auch heute, während ich diese Zeilen schreibe, kann ich einfach die Augen schliessen und die Eiswüste des Baikalsees sehen und spüren. Die Bilder aus dem kalten Sibirien sind wohl auf ewig in unseren Köpfen und Herzen gespeichert.