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Laufberichte

Verkehrte Welt im Berliner Norden

 

Ein Hochsommertag in Berlin: Dicht belagerte Strände, Autos parken die Wege zu, Läufer müssen sich ihren Weg durch die Masse der Badenden suchen. So war es letztes Jahr bei der Sommeredition des Berliner Vollmondmarathon. Das sollte uns dieses Jahr nicht widerfahren, dachten sich Etze, Frank-Ulrich Etzrodt, Initiator des Marathons sowie Stammläufer Matze und knobelten eine neue Strecke aus, die Badestrände auf den ersten 15 Kilometern meidet. Die Idee ist einfach, wir laufen anders herum, also diesmal im Uhrzeigersinn.

Der Vollmondmarathon ist nämlich ein Rundkurs entlang der Havel und ihren Seen und führt uns im Berliner Norden durch die Bezirke Reinickendorf und Spandau sowie durch das Stadtgebiet von Hennigsdorf in Brandenburg. In dem wir also „verkehrt herum“ laufen, meiden wir zunächst die Badestellen und kommen erst dann dort wobei, wenn sich die Badenden zum Grillen zurückgezogen haben. Denn gestartet wird erst um 18 Uhr, also ein echter Dämmermarathon. Und mehr als das, denn heute ist Vollmond und die Läufer werden in eine schöne Vollmondnacht hineinlaufen. Vorausgesetzt, sie lassen sich Zeit.

Während des Laufes werden uns 6 Verpflegungsstationen erwarten, wo wir Wasser, Iso, Cola, Salziges und Süßes sowie Obst bekommen werden (in dem Zusammenhang sei der günstige Beitrag von maximal 50 € in der letzten Preisstufe erwähnt). Dies zu organisieren ist nicht einfach, wie mir Evi, Etzes Frau und der gute Geist der Organisation, berichtet, denn die Helfer kommen überwiegend aus dem Freundeskreis der veranstaltenden „Laufgruppe im Saatwinkel“. Und wenn wie diesmal ein Helferpaar ausfällt, dann wird es kniffelig. Aber irgendwie klappt es doch wieder. Und wenn wir gerade vom Helferteam sprechen, dürfen wir natürlich Bruno nicht vergessen. Bruno ist Evis und Etzes Hund und quasi Maskottchen des Vollmondmarathon, viele Läufer kennen ihn schon lange und begrüßen in vertraut.
Dies zeichnet den Marathon aus, eine kleine familiäre Veranstaltung mit vielen Stammgästen, man kennt sich (und Bruno). Manche der zahlreichen einheimischen Teilnehmer haben hier ihr Laufrevier, keiner will sich daher den Marathon auf „seinen“ Strecken entgehen lassen. Dazu zählt auch Andreas, für ihn und mich gehört es beinah zur Pflicht, hier zu starten.  Viele Male haben wir an diesem schönen Lauf schon teilgenommen.

 

 

Wir haben es also nicht weit von seiner Wohnung bis zum Start am Sport Centrum Siemensstadt, sind früh dran und erhaschen noch einen der Parkplätze auf dem Veranstaltungsgelände. Aber auch später wird es nicht zu voll, denn es sind maximal 200 Teilnehmer zugelassen. Dies ist eine Auflage der Landesforstverwaltung Berlin, wie mir Etze verrät. Heute teilen sich diese 200 Teilnehmer auf je 100 Marathonläufer und 100 Halbmarathonläufer auf. Letztere starten eine Stunde später und laufen das letzte Viertel der Marathonstrecke und wieder zurück, so dass wir uns nicht in die Quere kommen. Wobei Marathon und Halbmarathon etwas untertrieben ist, denn ersterer hat knapp 46 km und letzterer knapp 23 km. Verkehrte Welt. Das ist nicht „Schikane“, sondern einer Baustelle zu verdanken, die einen längeren Umweg erforderlich macht. Auf der anderen Seite hätte es auch einige Abkürzungsmöglichkeiten gegeben, um die zusätzlichen Kilometer teilweise zu kompensieren. Es klagt aber niemand darüber, die schöne Landschaft etwas länger genießen zu dürfen als sonst.

Auf dem Startgelände bekommen wir unsere Startnummer und müssen 3G bestätigen, also Genesen, Geimpft oder Getestet. Zur Not steht auch ein Testzelt bereit. Maskenpflicht besteht anders als im letzten Jahr nicht mehr. Der Plausch mit alten und neuen Bekannten wie Sonja, Sandra, Tom, Hans-Joachim, nicht zu vergessen Günter Hallas, Sieger des ersten Berlin-Marathons, und vielen weiteren vertreibt die Zeit bis zum Briefing. Neben der Streckenbeschreibung „immer links am Wasser lang“ (pardon, diesmal rechts) und der teilweise auch persönlichen Begrüßung der Teilnehmer folgt die Spendenübergabe, wie im letzten Jahr wieder an die Schutzgemeinschaft Deutscher Wald. Davon wird nicht nur in Setzlinge, sondern auch in Waldpädagogik für Kinder und Jugendliche investiert. Damit auch sie wie wir den Wert des Waldes, den wir ja heute auch durchlaufen, schätzen lernen. Gerade im Hinblick auf die Klimaveränderungen ist ein intakter Wald wichtig, wie uns Etze sehr emotional mitgibt.

 

Entgangene Grillfreuden am Kanal

 

Und dann folgt pünktlich um 18 Uhr der Start. Bruno lässt sich nicht mehr halten und will mitlaufen, entscheidet sich nach einigen Schritten dann aber lieber doch auf dem Sportplatzrasen zu faulenzen. Dies hätte wohl der eine oder andere von uns auch lieber gemacht – jedenfalls höre ich „mein erster langer Lauf seit langem“, „dieses Jahr noch nicht länger als 30 km“ usw. – zumal es heute wie vor einem Jahr auch zu später Uhrzeit mit 28 Grad noch sehr warm ist. Tatsächlich rennen aber fast alle wie wild los, und ich habe Mühe dranzubleiben.

 

 

Wir laufen zunächst am „Berliner-Spandauer Schifffahrtskanal“ entlang. Der Kanal wurde Mitte des 19. Jahrhunderts unter der Regentschaft der Hohenzollern gebaut, wird daher auch Hohenzollernkanal genannt, und verband auf dem Schifffahrtwege die damals noch selbstständige Stadt Spandau mit der damaligen preußischen Hauptstadt Berlin. Der erste Teil unserer Strecke folgt in westlicher Richtung im Bogen dem alten Kanalarm, der zum Anleger und Freizeitparadies wurde, nachdem der Kanal ausgebaut und begradigt wurde. Wir folgen dem Uferweg und queren Parkwiesen, auf denen zahlreiche Grills qualmen und einen verführerischen Duft verbreiten. Aber nicht nur auf der Wiese, sondern auch auf dem Wasser wird gegrillt, Grillboote gibt es gleich um die Ecke zu mieten.

Etwa bei km 4 treffen wir dann auf die Havel und folgen ihr ein wenig in südlicher Richtung bevor wir über die Insel Eiswerder und die schöne Eiswerderbrücke das westliche Havelufer erreichen, welchem wir etwa 17 km nördlich folgen werden. Aber zunächst gibt es bei km 7 Wasser an der ersten Versorgungsstelle (die weiteren Stationen haben dann das volle Programm).

 

Abendstimmung am westlichen Havelufer

 

Gleich zu Beginn einer meiner Lieblingsorte, rechts am Kai alte ausgediente Schiffe, teilweise als Hausboot umfunktioniert und links zwei alte Lagerhäuser, die zu Lofts umgebaut werden. Über die Jahre meiner Teilnahmen konnte ich die Entkernung, den Roh- und Ausbau gut verfolgen, nun scheinen die Gebäude kurz vor der Vollendung zu stehen. Diese Stelle ist exemplarisch für die nächsten km durch die Spandauer Hafenstadt, ein Labyrinth von Kanälen, Kais und Buchten, die von ehemals sehr umfangreichen Hafenanlagen zeugen, während die dazugehörigen Hochbauten entweder modernen Siedlungen weichen mussten oder eben einer neuen Verwendung zugeführt wurden.

Unser Kurs führt dann auch zick-zack durch das Hafenstadt-Labyrinth. Zwar ist die Strecke durch orangefarbenen Bodenmarkierungen und Flatterbänder gut ausgeschildert, aber dennoch bedarf es einiger Aufmerksamkeit, um den Markierungen zu folgen. Bei meiner ersten Teilnahme habe ich mich genau hier verlaufen, mittlerweile verfüge ich aber über eine gute Streckenkenntnis und kann zwei Läufer vor mir warnen, als sie eine Abzweigung übersehen. Kennt Ihr das Gefühl, wenn Ihr Eure Hausstrecke einmal ausnahmsweise andersherum läuft? Fühlt sich komplett neu an, oder?

Nach einigen Kilometern wandelt sich das Bild, Kleingartenanlagen und Uferparks treten anstelle der Stadtbebauung. Eine kleine Gemeinheit dann am Aalemannkanal:  Statt über die Brücke zu laufen wie bei früheren Austragungen, dürfen wir den Stichkanal entlang und auf der anderen Seite wieder zurücklaufen, was uns einen Zusatzkilometer einbringt. Zum Glück gibt es am folgenden Teufelssee-Kanal keinen Uferweg, sonst hätten wir diesen Stichkanal wohl auch noch hin- und retour laufen müssen, so aber dürfen wir diesen Kanal auf dem schönen Oberhavelsteg überqueren. Danach erreichen wir durch ein kleines Waldstück die Bürgerablage. Hier wurden keine Bürger abgelegt, sondern ursprünglich von Flößern Holzstämme, wobei der Verkaufserlös den Bürgern zugutekam. Nachdem der Holztransport auf dem Wasser beendet war, entstand hier eine Badestelle, so dass die Bezeichnung Bürgerablage eigentlich ganz gut passt. Jetzt am Abend ist hier nicht mehr viel los, auch wir können uns hier nicht ablegen, bekommen jedoch unsere zweite Verpflegung bei km 15.

 

 

Von hier ab laufen wir etwa 8 km auf dem Mauerweg, denn wir verlassen Spandau und erreichen das Gebiet von Hennigsdorf in Brandenburg. Hier verlief die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten mitten auf der Havel, das westliche Ufer war Staatsgebiet der DDR, das östliche gehörte zu West-Berlin. Daran erinnert heute nicht mehr viel, nach einem kurzen Waldstück sehen wir linkerhand neue, teilweise mondäne Wohnbebauung und rechter Hand Steganlagen. Nur die Breite des freigehaltenen Uferstreifen lässt auf die ehemaligen Grenzbefestigungsanlagen schließen und natürlich der Grenzturm Nieder Neuendorf.

Der Mauerweg soll daher an die Geschichte der Berliner Mauer erinnern und folgt der ehemaligen Mauer auf etwa 160 Kilometer, immer wieder mit orangefarbenen Stelen an Opfer oder besondere Begebenheiten erinnernd. Wir erreichen auf dem Mauerweg ein Industriegebiet mit dem seit einem Jahr zum Alstomkonzern gehörenden Bombardierwerken Hennigsdorf. Seit über 100 Jahren werden dort Schienenfahrzeuge mit wechselvoller Geschichte gebaut, sicher mehr als ein Dutzend Eigentümer haben die Geschicke bestimmt. Dies interessiert mich weniger als die schönen im Freigelände abgestellten Züge, diesmal rot-weiße der Österreichischen Bundesbahnen ÖBB. Dann ist es nicht mehr weit bis zur nächsten Versorgung an der Hennigsdorfer Havelbrücke, betreut von Wolfgang, dem Veranstalter des Berliner Müggelsee-Halbmarathon, ebenfalls ein schöner Landschaftslauf, der im Oktober stattfindet.

 

Lauf in die Nacht der Nächte

 

So langsam setzt nun die Dämmerung ein, während wir, angekommen am nördlichen Wendepunkt der Strecke, die Havelbrücke überqueren. Bald darauf sind wir zurück in Berlin, wie unschwer anhand des Schildes erkennbar ist, welches an die Überwindung der Teilung erinnert. Wir laufen weiter an der Havel lang, nun südwärts, sehen diese aber eine Zeitlang nicht, weil uns Wohnbebauung im Ortsteil Heiligensee die Sicht versperrt.

Dann erreichen wir einen weiteren meiner Lieblingsorte, Alt-Heiligensee, ein langgezogenes Angerdorf, wie man es häufig in Berlin und Brandenburg findet. Noch heute sind in der Metropole Berlin viele damalige Angerdörfer als Ortskerne erhalten, ländliches Idyll in einer manchmal hektischen Großstadt. Gerne würde ich mehr davon zeigen, aber das Tageslicht lässt nach und die Lichter an alten Backsteinbauten, modernen Wohnhäusern und herrschaftliche Villen gehen an.
Zwischen den nur noch als schwarze Silhouetten wahrnehmbaren Bäumen ist die Havel nun wieder sichtbar und hebt sich in tiefem Blau ab. Ruhe breitet sich aus, nur unterbrochen von fröhlichen Gesprächen und klirrendem Besteck auf den Restaurantterrassen an der Strecke. Oder von den Partyschiffen auf der Havel. „Over the Rainbow“ klingt es melodisch zu uns herüber. Jetzt ist es hier fast noch schöner als bei Tag und ich freue mich auf die Passage durch den Ortsteil Konradshöhe an der Havel, denn dort können wir einige Kilometer direkt auf dem Promandenweg laufen. Zunächst erwartet uns aber bei km 28 die nächste Verpflegung, nun schon im Schein der Lampen.

Noch immer ist es recht warm und der Kreislauf so manchen Teilnehmers mag daher nicht mehr recht mitspielen. „Heute ist nicht mein Tag“ ruft mir ein Mitläufer zu, als ich mich nach ihm erkundige, und lässt sich hier mit dem Auto abholen. Auch mein Kreislauf gab mir schon vor einigen Kilometern zu verstehen, etwas langsamer zu machen. Also war ich rechtzeitig in einem Wechsel aus schnellem Gehen und langsamem Laufen übergegangen und stelle damit zumindest sicher, in gutem Zustand ins Ziel zu kommen. Dazu noch einmal einen kräftigen Schluck nehmen, zum Glück kommt hier auch gerade Cola-Nachschub an, ein wenig Wassermelone, und dann geht es weiter.

 

 

Auf dem Promenadenweg in Konradshöhe sagen sich dann nicht „die Füchse gute Nacht“, obwohl es stockdunkel ist, sondern sie suchen im Abfall nach verwertbarem Futter. Tom, mit dem ich jetzt unterwegs bin, hat eine Erklärung dafür: „Wir sind ja in Reinickendorf“. Er macht mich dann auch auf den über dem westlichen Havelufer aufgehenden Vollmond, der wunderschön rot leuchtet, aufmerksam. Gerne hätte ich jetzt ein Stativ dabei…

Kurze Zeit später gesellt sich Sandra zu mir. Letztes Jahr im Sommer lief sie noch mit, hatte aber leider einen Ermüdungsbruch im Fuß und ist jetzt im Aufbautraining, nur nichts übertreiben. Wir hatten uns verabredet, gute 14 Kilometer sind es noch bis zum Ziel, die aber wie im Flug vergehen werden. Auch für Tom und Sandra ist das hier ein Heimspiel und so kann ich meine Kenntnisse über Gegend weiter verbessern. Wir laufen nun durch den stockfinsteren Tegeler Forst, nur die Lichterkegel unser Stirnlampen erhellen uns den Weg. Vorbei am nach vielen Jahren wiedereröffneten Strandbad Tegelsee und an der Halbinsel Reiherwerder, vom Auswärtigen Amt in Beschlag genommen. Dann erreichen wir die vorletzte Verpflegungsstelle.

Daran anschließend die Sechserbrücke. Endlich klärt sich Dank Sandra das Rätsel um den Namen auf: Wer die Brücke passieren wollte, musste einen „Sechser“, also mit einer 6-Pfennig-Münze zahlen.  Es schließen sich an die Greenwich-Promenade von Tegel, wo auch die Ausflugsschiffe anlegen und die Jungfernheide, welche hier keine Heidelandschaft, sondern ein Waldgebiet ist. Hier fühlen sich nicht nur Füchse wohl, sondern offensichtlich auch Wildschweine, wie uns eines zeigt, welches wenige Meter vor uns den Weg quert. Bald erreichen wir die Kleingartenkolonie Saatwinkel am Hohenzollernkanal, nun ist es nicht mehr weit. Das zeigt auch die orangefarbene Bodenmarkierung „Zum Ziel“ im Schein unserer Stirnlampen. Nun noch ein 2 Kilometer am Kanal entlang, dann ist es vollbracht.

 

Zurück aus der Nacht

 

Schon von weitem strahlen uns die Flutlichter des Sport Centrum an, nach der langen Dunkelheit kehren wir wieder ins Licht zurück.  Auch Bruno hat auf uns gewartet und läuft uns begrüßend entgegen. Von Evi bekommen wir dann noch die Medaillen umgehängt, bevor wir uns von ihr und Etze verabschieden. Danke an Euch und an das gesamte Helferteam der „Laufgruppe im Saatwinkel“.

 

 

Für mich war es ein wenig wie die Nacht der Nächte, dem Klassiker in Biel, nicht so lang, aber mit einer tollen Atmosphäre und einem traumhaften Vollmond.

Wie es übrigens auf der zweiten Streckenhälfte bei Tag aussieht, könnt Ihr meinem letztjährigen Bericht entnehmen.
Zuhause in meinem Garten sitzend reflektiere ich den Lauf und weiß, ich muss wiederkommen. Und das ist gar nicht verkehrt.

 

 

Informationen: Berliner Vollmond-Marathon
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