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Laufberichte

All runners are beautiful

 

Prag, von seinen Bewunderern mit den Attributen „magisch“, „hunderttürmig“ und „golden“ versehen, war über Jahrhunderte ein Zentrum europäischen Lebens und gleicht mit seinen Gotik-, Barock- und Jugendstilfassaden einem Geschichtsbuch aus Stein. Die heute 1,2 Millionen Einwohner zählende Moldau-Metropole, Standort der ersten mitteleuropäischen Universität und der ältesten gotischen Synagoge Europas, ist auch bekannt als Wirkungsort der Komponisten Dvořak und Smetana sowie des Schriftstellers Franz Kafka. Nach einem eher verhaltenen Tourismus zu Zeiten des sozialistischen Regimes hat sich die Stadt seit der „Samtenen Revolution“ von 1989 zu einem wahren Hotspot entwickelt und zieht massenhaft Reisende, Investoren und die Bohème aus allen Teilen der Welt an -  und im Mai Marathonläufer vieler unterschiedlicher Nationen, diesmal auch uns.

Die Hauptstadt der Tschechischen Republik ist gut zu erreichen. Von München aus sind mit dem Auto knapp 400 km zurückzulegen. Wir fahren gleich zum Ausstellungsgelände (Výstaviště Praha), wo bereits am Samstag zwei Läufe über 4,2 km angeboten werden: ein Walk with Dogs und ein Familienwalk. Stolz zeigen Eltern und Kinder ihre Medaillen vor. In den schönen Ausstellungshallen aus dem Jahre 1891 gibt es einige Verkaufsstände sowie Infostände von Marathons, vor allem aus Italien. Die Startnummernausgabe geht ohne Wartezeit vonstatten. Auf den Wangen der jungen Helfer prangen Abziehbilder der tschechischen Flagge. Auch auf vielen Autobahnabschnitten sind alle paar hundert Meter große tschechische Fahnen zu bewundern.

Der durchsichtige Starterbeutel enthält einige Pröbchen, im Teilnahmepreis enthalten sind außerdem eine Weste mit dem Schriftzug des Veranstalters Run Czech (Slogan: „All runners are beautiful“) und eine Informationsbroschüre in sieben Sprachen. Das Veranstaltungshemd und die Pastaparty kosten extra. Unser Begleiter Hugh, mit dem wir 2012 schon hier gelaufen sind und der uns diesmal eigentlich nur begleiten wollte, hat sich überraschenderweise auch angemeldet. Jetzt wird uns klar, warum der Radsportler und Paralympics-Teilnehmer von Seoul während der letzten Wochen wieder ein solch hartes Lauftraining absolviert hat.
Marathontag

Die Taschenabgabe auf dem zentral gelegenen Wenzelsplatz kann leicht mit zwei U-Bahnlinien erreicht werden. Die Nummern werden erst vor Ort auf die Beutel geschrieben. Viele Teilnehmer aus aller Welt sind unterwegs, gut erkennbar an den Nationalfahnen auf der Startnummer mit integriertem Einwegchip.

 

 

Von hier führt der Weg in die Gassen der Altstadt. Die einzelnen Startblöcke stehen in der gesamten Celetná und sogar kurz vor dem Pulverturm noch in eine Seitenstraße verlängert. Die frühere „Zeltergasse“ war der Krönungsweg der böhmischen Könige. Auf dem Platz vor dem Ständetheater befinden sich noch viele mobile Toiletten. Hier sollte man zuschlagen, da sich im Startraum keine Gelegenheit mehr dazu bietet. Die Teilnehmer der schnelleren Blöcke können kurz vor dem Startbogen noch WC-Häuschen aufsuchen. Man sollte sich vorher schlau machen, anhand des Infohefts oder der vielen Infotafeln. Gespannte Aufregung in unserem Block. Verzweifelte Versuche, im engen Gässchen noch einen GPS- Satellitenfix für die Uhr zu bekommen. Informationen zum Lauf erschallen in unzähligen Sprachen über die Lautsprecher.

Punkt 9:00 Uhr dann der Start. Unter den Klängen von Bedřich Smetanas „Die Moldau“ geht es los. Auch wer den Namen des Musikstücks nicht kennt, weiß nach den ersten Tönen, dass er nun in Prag ist. Der Startbogen liegt auf dem dem Altstädter Ring, der aber keine Ringstraße, sondern ein zentraler Platz in der Mitte der Altstadt ist. Viele gotische Gebäude liegen hier - eines davon wirkt ausgesprochen venezianisch - und bei Touristen großer Beliebtheit erfreut sich die Prager Rathausuhr, die aber zurzeit eingerüstet ist.

 

 

Auf der breiten Prachtstraße Pariser Straße geht es Richtung Moldau. Viele Zuschauer säumen schon jetzt die Straße mit ihren noblen Geschäften. Sie wurde erst zum vorletzten Jahrhundertwechsel angelegt, als das jüdische Ghetto abgerissen wurde. Keine 500 Meter weiter kommen wir an die Moldau. Diese ist mit 430 km der längste Fluss Tschechiens und mündet weiter stromabwärts bei Melnik in die Elbe. Viele Hotelschiffe haben Prag angelaufen. Der Fluss ist noch 20 km stromaufwärts schiffbar und weiter oberhalb gibt es viele Stauseen, deren Wasserkraftwerke die Schwankungen im Stromverbrauch ausgleichen können.

Die folgenden drei Kilometer werden das erste touristische Highlight des heutigen Laufs. Deshalb sollte man  sich hier vielleicht noch nicht mit Positionskämpfen beschäftigen, sondern schauen und genießen. Und noch etwas gibt es hier erstmals: Kopfsteinpflaster, welches uns heute noch öfter unter die Schuhe kommen wird.

Hier auf der kürzesten Moldaubrücke hat man schon diese fantastischen Ausblicke auf die Prager Burg, die Hänge der Moldau und zur Linken die Karlsbrücke, über die schon viele schnelle Läufer auf dem Weg zurück sind. Vor uns auf dem Hang ein Metronom in Großversion, an dessen Stelle sich früher ein Stalin-Denkmal befand. Bei Kilometer eins laufen links unter uns die Führenden vorbei. Wir sind in Malá Strana, der Kleinseite, einem Stadtteil unterhalb der Burg mit einem sehr eigenständigen Charakter: Wesentlich kleinere und wahrscheinlich romantischere Häuser warten hier auf uns. Am Kleinseitner Ring,  also auch ein Platz, die große gotische Nikolauskirche, dann Linksknick auf eine leicht abwärts führende Straße mit barocken Gebäuden. Die vielen Geschäfte sind auf den touristischen Bedarf ausgerichtet.

In diesem Viertel befinden sich viele ausländische Vertretungen, so auch die Deutsche Botschaft, in der Hans-Dietrich Genscher am 30. September 1989 die rund 3.500 DDR-Flüchtlinge darüber informierte, dass ihre Ausreise ... Auch in der damaligen Tschechoslowakei brach kurz darauf die kommunistische Herrschaft zusammen, dank der „Samtenen Revolution“ im November 1989.

Vor uns ein wunderschönes Brückentor und dann sind wir auf der weltberühmten Karlsbrücke, deren Bau   1357 begonnen wurde. Zwischen unzähligen Heiligenfiguren, die, wie ein Hinweisschild warnt, nicht bestiegen werden dürfen, geht es dahin. Die auf 16 Pfeilern ruhende Brücke ist über 400  Jahre lang und die einzige Verbindung zwischen Altstadt und Kleinseite. Sie ist heute früh nur den Läufern vorbehalten. In kleine Aussparungen gekauert, schieße ich meine Fotos.

 

 

Irgendwo befindet sich auch die Statue des heiligen Nepomuk,  der auf Befehl des Königs von der Mitte der Brücke gestürzt wurde, weil er das Beichtgeheimnis der Königin nicht brechen wollte. Dieser Umgang mit unliebsamen Mitmenschen ist wohl, historisch gesehen, eine Prager Spezialität: Andersdenkende wurden von Brücken geworfen, aus dem Fenster gestürzt (wobei das manchmal nicht direkt zum Tode führt, speziell wenn es Erdgeschossfenster sind, aber der „Prager Fenstersturz“ löste 1618 den Dreißigjährigen Krieg aus) oder erdrosselt.
Vor uns das östliche Turmbauwerk. Menschenmassen erwarten uns, da der Start nur wenige Hundert Meter entfernt ist und viele internationale Sportler ihre Familie dabei haben. Judith und Hugh sind leider schon auf und davon. Hier gibt es auch ein Museum mittelalterlicher Folterinstrumente. Aber im Moment geht es uns prächtig, das Gefühl von Folter stellt sich später ganz von selbst ein.

Wieder über die Moldau, hier also mal mit dem optimalen Blick auf die Prager Burg, das größte geschlossene Burgareal der Welt, und den 1344 begonnenen, aber erst 1929 fertiggestellten St.-Veits-Dom, in dem Böhmens König Karl IV. und etliche seiner Nachfolger begraben liegen.

Bei Kilometer 4 ist unsere beeindruckende Runde abgeschlossen. Die nun folgenden vier Kilometer stromabwärts zeigen uns ein nicht ganz so spannendes Prag. Viel Musik, Cheerleader und einige Zuschauer versuchen dieses Manko wettzumachen und puschen uns voran. Irgendwie bleiben wir auf breiten Straßen am Rande von Wohnvierteln, immerhin mit Blick auf den Fluss. Mein persönliches Highlight ist eine Familie, die auf dem Balkon ihres nagelneuen Eigenheims steht und uns mit dem Plakat: „Only 35 km to go“ empfängt. Dann geht es wieder auf die andere Seite der Moldau und zurück Richtung Zentrum, alle 500 Meter mit Musikunterhaltung.

Bei Kilometer 10 dann die zweite große Verpflegungsstelle, mit Wasser, Iso-Getränk, Bananen, Orangenstücken und Salz sowie Zucker, ebenso Schwämme vom Titelsponsor Volkswagen. Bei den großen VP-Stellen stehen auch immer vier Toiletten.

Vor uns wird gerade ein Eisenbahnviadukt erneuert. Den Arbeitern bereitet es an diesem Sonntag viel Spaß, uns zuzusehen. Die Moldau wird breiter, die Anzahl der Schiffe nimmt zu. Auch sogenannte Botels (schwimmende Hotels) liegen vor Anker. Ein vierhundert Meter langer Tunnel bringt Abwechslung und dann wartet der zweite Wow-Abschnitt auf uns:

Bei km 12,5 geht es zum bekannten Altstädter Ring, wo uns im Start-/Zielbereich eine riesige Menschenmenge  erwartet. Noch sind auch die Führenden unterwegs. Durch den Startkanal, der ja eigentlich der „Königsweg“ ist, geht es auf den Pulverturm zu, für eine Krönung die falsche Richtung. Wie ich las, haben einige Oberhäupter der österreich-ungarischen Doppelmonarchie darauf verzichtet, sich traditionsgemäß auch in Prag krönen zu lassen, was einen gewissen Unmut erzeugte. Der schöne 65 Meter hohe Pulverturm markiert den Beginn der Neustadt. Er wurde 1757 bei der preußischen Belagerung im Siebenjährigen Krieg schwer beschädigt und verfiel allmählich, bis er 120 Jahre später restauriert wurde, im Stil der damaligen Zeit. Dahinter, am Platz der Republik, warten wieder junge Pragerinnen auf uns und machen Stimmung. Über die breite Fußgängerzone zum Mustek, dem Ende des Wenzelplatzes. Von dem sehen wir nur wenig, zu groß ist die Menge der Schlachtenbummler.

 


Ich komme mit einem jungen Läufer ins Gespräch. Er erkundigt sich, warum ich so viel fotografiere. Selber läuft er heute seinen ersten Marathon und ist dann auch schnell auf und davon, während ich mich mit einem Beispiel modernerer Architektur beschäftige: Tančící dům ist der Spitzname eines 1996 fertiggestellten Bürogebäudes des tschechischen Architekten Vlado Milunić in Kooperation mit seinem kanadisch-US-amerikanischen Kollegen Frank O. Gehry. Das beschwingt wirkende „Tanzende Haus“, mit dem eine von einer Fliegerbombe verursachte Baulücke geschlossen wurde, nennen die Einheimischen auch „Ginger und Fred“, nach dem berühmten Hollywood-Tanzduo Ginger Rogers und Fred Astaire.
Ich glaube, die schönsten Blicke auf die Stadt hat man von der Prager Burg von den Brücken über die Moldau. Erstere Alternative wäre eher für einen Urban Trail geeignet, sodass sich die Veranstalter des heutigen Laufs an die Brücken halten.

Es geht nun mal kurz über die Moldau nach Smíchov, das erst 1922 eingemeindet wurde. Unter uns die Laufstrecke bei km 30, schon gut genutzt. Wir müssen zurück auf eine 10 km lange Schleife. Hier gibt es nicht nur viele Zuschauer, sondern auch interessante Begegnungen. Erst die 3:15-Pacer, dann an der nächsten Abzweigung die 4:00-Pacer mit Judith im Schlepptau. Dann sehe ich Hugh, der sich freut, nun zu wissen, wo Judith platziert ist. Ich bilde quasi das Schlusslicht der Münchner Laufgruppe.

 

 

Wir sind im Stadtteil Vyšehrad und biegen bei Kilometer 17 in ein Seitental ein. Ich mag diese Ecke. Seit meinem letzten Besuch sind viele der einfachen Stadthäuser schön renoviert worden. Grün ist es hier auch und das Spannendste ist über den Häusern die riesige Brücke Nuselský most, die eine sehr wichtige Einfallstraße trägt. In einer Höhe von 42 Metern überquert sie mit  485 Metern Länge das Tal. Fertiggestellt im Jahr 1973, wurde sie augenscheinlich vor kurzem renoviert. Das Besondere an diesem Bauwerk ist der Betonhohlkörper. In ihm war die Führung einer Straßenbahnstrecke geplant. Nun verläuft dort eine U-Bahn, die eigentlich etwas zu schwer dafür ist. Aber das Politbüro wollte es so. Hoffen wir mal, dass im Rahmen der Renovierung auch einige Verstärkungen angebracht wurden.

 „Maria auf dem Rasen“ ist ein nettes kleines Kirchlein am Wegesrand. Hier findet gerade deutlich hörbar ein Gottesdienst statt. Einige Familien mit Kleinkindern sind draußen geblieben, alle weiblichen Gläubigen tragen Kopftuch. In Auftrag gegeben wurde der Bau vom seltenen Typ der Einstützenkirche durch Karl IV im Jahre 1360. Auch hier zeigt sich, dass Prag viele sehenswerte nicht-touristische Ecken hat. Leider habe ich es eilig  und werde vorerst nicht erfahren, wie eine Einstützenkirche im Inneren aussieht.

Eine fast 2,5 Kilometer lange Begegnungsstelle wartet auf uns. Bei km 21,1 gibt es eine Wechselstelle für die Zweierstaffel. Mit verhältnismäßig wenigen Grüppchen gestaltet sich dieser eher unauffällig. Dort sehe ich auch noch mal Judith und stelle fest, dass ich die fast 20 Minuten Rückstand nicht mehr aufholen werde. Mir gefällt es hier. Schön grün, einiges an Zuschauern und immer wieder Blicke auf die Moldau. Plavecký stadion Podolí heißt ein großes Schwimmbad mit Hallen- und Freibad. Wie ich später aus der TV-Übertragung des Hubschraubers sehe, ist das Freibad schon gut besucht. Die Moldau mit ihrem ziemlich braunen Wasser lädt eher nicht zum Baden ein.

Da der Prag Marathon das Gold Label der AIMS trägt, sind  eine gute Versorgung und eine perfekte medizinische Betreuung garantiert. Außerdem führt die Verpflichtung von Topläufern zu Startpreisen, die schon am oberen Ende des Gewohnten liegen. Dass Prag wegen dieses Labels als „Goldene Stadt“ bezeichnet wird, kann auch nur mir in den Sinn kommen. In Wirklichkeit entstand der Name wohl im 14. Jahrhundert. Karl IV ließ einige der Dächer von Kirchen vergolden. Die existieren heute nicht mehr, da das Gold eingeschmolzen wurde.  Aber der Name blieb bestehen. In der Burg gibt es immer noch das berühmte Goldmachergässchen, wo einst Alchimisten künstlich Gold hergestellt haben sollen. In dieser von Touristen sehr gern besuchten Straße mit ihren winzigen Häusern lebte  von 1916 bis 1917 der Schriftstelle Franz Kafka.

Einige Kinder formen aus den blauen VW-Schwämmen das Wort „Diesel-Software“ äh nein „Jedém D..“.  Leider keine Ahnung, was das werden soll. Und endlich bin ich auf dem Weg zurück. Ein großer kubischer Kasten entpuppt sich nicht als Theater, sondern als ein Museum zur Wasserwirtschaft. Oft sind mir bereits die schönen Kanaldeckel aufgefallen. Die zeigen ein Stadtwappen, welches mit seinen drei Türmen ein wenig an das von Hamburg erinnert.

Vor uns eine gewaltige Mauerbastion: Der Vyšehrad, der Standort einer Burganlage, die nach der Prager Burg Hradschin entstand. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Peter-und-Paul-Kirche mit ihren heutigen Doppeltürmen fertiggestellt, die schon von weitem zu sehen ist. Den Sonntag nutzen augenscheinlich viele Menschen für einen Ausflug dort hinauf.

Unten an der Moldau dürfen wir den Felsen des Vyšehrad durch einem kurzen Tunnel aus dem Jahr 1910 unterqueren. Der wird auch von einer Straßenbahn genutzt, wenn nicht gerade der Marathon stattfindet.

Bei Kilometer 25 kommt uns mit acht Kilometern Rückstand die Straßenreinigung entgegen. Die kehren mal richtig auf und hüllen uns in eine Staubwolke. Ich rechne mir inzwischen aus, dass mir dank 7-Stunden-Zeitlimit ein Schnitt von vier Stundenkilometern reichen würde. Noch positiver kann man gar nicht denken.
Weitere Kilometer werden nun auf der anderen Moldauseite zurückgelegt. Die Begegnungsstelle ist kürzer, aber das Ambiente hat nun wieder einen eher industriellen Charakter. Die vielen Musikanten stehen vor der heißen Sonne geschützt im Schatten von Werbezelten für das alkoholfreie Birell-Bier. Leider wird dieses Getränk auf der Strecke nicht ausgeschenkt. Ein Läufer mit einem Stoffstorch auf dem Kopf kommt mir entgegen. Den hatte ich schon mal bei einer Veranstaltung  in Italien gesehen. Es handelt sich um den Salesianer-Priester Pavel Čáp, der halt an manchen Sonntagen Marathons läuft. Ein kleinwüchsiger Läufer wird von entgegenkommenden Mitstreitern oft angefeuert. Ich bin mir nicht sicher, ob das heute noch politisch korrekt ist, und lasse es besser bleiben.

 

 

Die Genussstrecke erwartet uns ab km 30: Wunderschöne 100 Jahre alte, repräsentative Stadthäuser an der Moldau. Die Most Legií (Brücke der Legionen) führt uns über die Schützeninsel zur Altstadtseite. Hunderte Tretboote sind auf der aufgestauten Moldau unterwegs. Vor uns leuchtet das goldene Dach des Nationaltheaters in der Sonne. Das Projekt eines unabhängigen tschechischen Nationaltheaters wurde durch Spendengelder finanziert. Anlässlich des Besuchs von Kronprinz Rudolf wurde das noch nicht ganz fertiggestellte Theater am 11. Juni 1881 vorzeitig eröffnet, und zwar mit der Uraufführung der bereits Anfang der 1870er Jahre eigens komponierten Smetana-Oper „Libuše“.

Vor uns die Karlsbrücke, an der wir nun unter dem Jubel der inzwischen angekommenen Touristen entlang laufen. Eine deutsche Begleiterin versucht, in Korkschlappen das Tempo „ihrer“ Läuferin mitzugehen. Erst als ich sie auf das falsche Schuhwerk hinweise, lässt sie abreißen und kann gemächlich den halben Kilometer zum Ziel hinübergehen. Wir hingegen laufen am Rudolfinum  vorbei, einem im Stil der Neorenaissance errichteten Konzert- und Galeriegebäude. Die gerundete Fassade lehnt sich an das Vorbild der Dresdner Staatsoper an. Von 1920 bis 1939 befand sich hier der Sitz des Abgeordnetenhauses der Tschechoslowakei. Diese wurde am 31.12.1992 auf Beschluss der Bundesversammlung aufgelöst. Seitdem gibt es zwei Staaten innerhalb der Europäischen Union. Während die Slowakei den Euro schon lange eingeführt hat, hält Tschechien an der Krone als Währung fest,  was viel Kopfrechnen erforderlich macht. Und der 50-Kronen-Schein, den ich von zu Hause mitgebracht habe, ist auch schon lange nicht mehr gültig. Ihn ersetzt jetzt eine schicke zweifarbige Münze.                  

Für uns geht es nun auf die von km 4 bekannte Schleife. Jetzt sind es lockere acht Kilometer bis zum Ziel. Locker allerdings nur für den, der noch zulegen kann.  Für mich wird es da schon etwas schwerer. Dafür haben wir jetzt glatten Asphalt als Untergrund.  Versorgungstechnisch kann man nicht klagen. Auch die Erste-Hilfe-Stationen sind nun besetzt. Und dann die beiden Cheerleader-Gruppen. Unglaublich, wie lange die durchhalten. Fast ohne Pause.

Die neu zugezogene Familie steht noch immer auf dem Balkon. Bei dem Schild „only 35 km to go“ ist die „3“ durchgestrichen. Da rufe ich doch mal ein lautes Lob hinauf. Trotz der Anstrengung macht es immer noch Spaß, da viele Mitläufer unterwegs sind. Auf zur letzten Moldauquerung des heutigen Laufs.

Der Fluss fließt gemächlich dahin. Vom Augusthochwasser 2002 war auch Prag sehr stark betroffen: Aus dem Zoo mussten 1000 Tiere in Sicherheit gebracht werden. Ein Elefant ertrank. Die Altstadt wurde durch Flutmauern geschützt. Die U-Bahn lief aufgrund eines fehlerhaften Hochwasserschotts zu zwei Fünfteln voll und war erst Monate später wieder betriebsbereit. Das Viertel Karlin, durch das wir nun kommen, musste evakuiert werden. Ich freue mich auf eine Cola bei km 40, die ist aber inzwischen vergriffen. Egal.

 

 

Der bekannte Tunnel besitzt ein kurzes Stück ohne Trennmauer zur Gegenrichtung. Dort kommt uns eines von diesen laut röhrenden Autos entgegen. Ich werde nie verstehen, was das für Leute sind, die so was brauchen. Marathonlaufen, das ist doch was ganz anderes. Und dann noch mal auf Kopfsteinpflaster. Wir biegen auf die Pariser Straße ein. Noch einmal sehe ich einige bekannte Gesichter unter den Zuschauern. Der blaue Teppich empfängt uns. Ein Mitstreiter rast an mir vorbei. Das lasse ich mir nicht bieten. Ich schließe auf. Er gibt Gas. Zusammen überqueren wir die Zeitmessung. Ich sehe Sternchen. Aber ich bin eine Sekunde schneller.

Unglaublich, wie viele Läufer immer noch eintreffen. Trotzdem kann ich kurz verschnaufen und noch ein paar Fotos machen, werde nicht gleich weiter gescheucht. Eine schöne Medaille, dann sehe ich Judith und Hugh, die heute lange auf mich gewartet haben. Wir beschreiten, in silberne Alufolie gehüllt, letztmalig den Königsweg. Verpflegung auf dem Platz vor dem Ständetheater. Es gibt auch alkoholfreies Radler mit Fruchtgeschmack. Am Wenzelsplatz sorgt ein Grohe Duschtruck für Erfrischung.

Highlight des heutigen Tages ist sicher der Sieg von Galen Rupp aus den USA in 2:06:07, der  zweitschnellsten von einem US-Amerikaner gelaufenen Zeit. Mich würde wirklich mal interessieren, was diese Topläufer über uns Vier-Stunden-Läufer so denken.

Für Marathonläufer ist Prag ein Top-Tipp für ein verlängertes Wochenende. Eine wunderschöne Stadt mit erschwinglichen Preisen. Dazu ein schöner, sehr gut organisierter Stadtmarathon mit viel Stimmung.

Bedingt durch unzählige Brückenüberquerungen kommen immerhin wenig spürbare 100 Höhenmeter zusammen. Die Laufstrecke weist einen großen Anteil an Kopfsteinpflaster auf, garniert mit hervorstehenden Katzenaugen sowie Straßenbahnschienen und Weichen jeder Couleur. Das Startgeld liegt im oberen Bereich.

 

Marathon Sieger:
 1  RUPP GALEN          USA    02:06:07
 2  LEMMA SISAY          ETH    02:07:03
 3  CHEMLANY STEPHEN KWELIO    KEN     02:09:42

Siegerinnen:
1 KITUR BORNES JEPKIRUI    KEN     02:24:19
2  LJIRA BELAYNESH          ETH     02:25:13
3  GOBENA AMANE          ETH     02:27:43

6.953 Marathon Finisher, darunter:
260 Deutsche
31 Österreicher
11 Schweizer
419 Italiener
287 Chinesen
187 Slovaken
3.356 Tschechen

270 zweier Staffeln

 

 

 

 

 

 

 

Informationen: Prague Marathon
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