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Laufberichte

Long Live Estonia!

 

Wie komme ich ausgerechnet auf Tallinn? Eigentlich hat das Vorhaben Henny eingefädelt. Ihr Vater hat estnische Wurzeln und sie wollte schon immer in den früheren Ostblock. Heute ist Estland einfach zu bereisen. Es gibt direkte Flugverbindungen aus vielen Städten Deutschlands.  Wer will, kann vorher oder nachher auch noch Helsinki anschauen und mit einer Fähre übersetzen. Grenzen sind da keine gesetzt, denn Estland gehört seit 2004 der Europäischen Union an und ist seit 2011 Mitglied der Eurozone.

Wer gerne Kreuzfahrten macht, reist mit dem Schiff an. Ob es da dann mit einer Teilnahme am Marathon ausgehen kann, glaube ich eher nicht, denn die legen halt morgens an und schippern am gleichen Abend wieder weiter. Die beste Lösung ist, man schließt sich einem Reiseveranstalter an, z. B. Sportreisen Schulz, wie wir das gemacht haben. Da hat man das vielzitierte „Rundumsorglospaket.“

Estland zählt heute rund 1,3 Millionen Einwohner, wovon mehr als 400.000 in Tallinn wohnen. Eesti, so nennen die Einheimischen ihr Vaterland, das der nördlichste Staat im Baltikum ist. Er grenzt im Osten an Russland und im Süden an Lettland. Litauen, der dritte Staat im Baltikum liegt noch weiter südlich. Somit finden wir hier die Außengrenze des Schengener Raumes.

Tallinn ist das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum Estlands. Bis 1918 hieß die Stadt noch Reval. Das Stadtbild zeigt sich so, wie man sich eine Stadt aus dem Mittelalter vorstellt: Stadtmauer, mehrere Tore, viele Türme und Kirchen, im Mittelalter schwer einzunehmen, da der Stadtkern erhöht liegt. Die Ursprünge gehen auf das 11. Jahrhundert zurück, als auf dem heutigen Domberg eine Burg gestanden hat, gleichzeitig der Hafen entstand und daraus sich lebhafter Handel entwickelte. Die Domkirche wurde als Steinbau etwa im Jahr 1219 erbaut.

Am Haupteingang des Gotteshauses findet man eine Steinplatte mit dem Grab des Otto Johann Thuve, ein Gutsbesitzer, der im 17. Jahrhundert einen lüsternen Lebenswandel mit Wein, Weib und Gesang liebte. Beim Sterben überkam ihm jedoch Reue und bat darum, am Eingang des Domes begraben zu werden. Die Kirchenbesucher mussten ja beim Betreten des Gotteshauses nieder knien und so konnte seine Seele gerettet werden, dachte er. Der Volksmund behauptet aber, dass Thuve auch nach seinem Tod den jungen Frauen unter den Rock schauen wolle.

Das Marathonwochenende schaut sehr sportlich aus. Da ist für jedermann etwas geboten. Laufen kann man am Freitag („We Run Tallinn 5 km“) und am Samstag (zehn Kilometer, Schülerläufe), der Hauptakt ist am Sonntag mit dem Halbmarathon und Marathon. Knapp 25.000 Meldungen aus 60 Nationen sind für alle Bewerbe eingegangen, davon 4000 für den Halb- und knapp 3000 für den ganzen Marathon. Die Stadt platzt fast aus allen Nähten. Mit den Startunterlagen bekommt man neben der Startnummer ein paar Gutscheine und als Marathoni ein Funktionsshirt. Den anderen Sportlern wird das Leiberl mit einem gescheiten Nachlass angeboten.

 

 

Die Zeitnahme geschieht vollelektronisch mittels Chip auf der Startnummer. Umkleiden kann man sich, die Kleider werden bewacht und Duschen sind auch in einem Sportzentrum vorhanden. Für den Lauf am Sonntag werden Pacemaker mit Zielzeiten von drei bis fünf Stunden (mit jeweils 15 Minuten Abstand) zur Verfügung stehen.

Unsere Reiseleitung Ines Schmitt versorgt uns noch mit Tipps und berichtet, dass der Lauf 2017 bei Dauerregen  und acht Grad Temperatur kein Vergnügen war. Dieses Wochenende schlägt aber auch hier der Spätsommer zu, für Samstag werden 25 Grad erwartet, der Sonntag wird etwas unbeständiger bei immerhin auch noch 20 Grad. Am Samstag machen wir eine halbtägige Führung mit dem Rad zu einem Fischmarkt in der Nähe des Hafens und besuchen im Anschluss ein Waldgebiet, das nun unter Naturschutz steht und das vor der Wende militärisch genutzt wurde. Am Abend gehen wir in der Nähe des Hotels zum Essen, wo ich mir ein Pale Ale bestelle, das mir als biertrinkender Bayer allerdings zu stark ist (fast acht Umdrehungen Alk!).

Nach dem Frühstück verlassen wir gegen 08.30 Uhr wir das Hotel.  Wir müssen gerade mal zehn Minuten marschieren, dann stehen wir oberhalb des Freiheitsplatzes. Die ersten Läufer stehen schon in den Startboxen, die hier nach Startnummern geordnet sind. Mit meiner 2000er Nummer muss ich weiter hinten anstehen.

 

 

Der Freiheitsplatz ist der Unabhängigkeit Estlands gewidmet und prächtig herausgeputzt. Bereits im 16. Jahrhundert war er Verkehrsknotenpunkt, heute auch noch, denn oberhalb verläuft eine mehrspurige Straße und eine Tram fährt auch vorbei. Der Platz wird auch für viele Freiveranstaltungen genutzt.

An der östlichen Seite sehen wir die evangelisch-lutherische Johanniskirche (Tallinna Jaana kirik), deren Bau am 08.09.1862 begann, am 1000. Jahrestag der Gründung des russischen Reiches. Christoph August Gabler plante und Steinmetz Carl Sensenberg leitete den Bau, der fünf Jahre andauerte. Vor und nach dem Zweiten Weltkrieg gab es zwar Pläne, die Kirche abzureißen, da sie architektonisch nicht zum Platz passte. Doch Gott sei Dank wurde das nicht verwirklicht.

Im Startbereich haben sich jetzt, um 08.50 Uhr, schon die meisten angestellt. Henny ordnet sich weiter hinten ein, ich versuche, mich noch in meinem Block nach vorne zu schieben, gebe dann das aber auf. Der vier Stunden-Pacer ist weit vor mir. Aber ich will mich sowieso einfach nur treiben lassen.

Was der Moderator uns sagen will? Ich verstehe nur Bahnhof. Viele Hinweise in Englisch bekommen wir nicht, nur, dass die Präsidentin Kersti Kaljulaid nicht nur vielsprachig , sondern auch sportlich unterwegs ist. So heißt sie uns in ihrem Begrüßungswort willkommen, wird uns auf die Strecke schießen und dann gleich am Halbmarathon teilnehmen, der um 10.45 Uhr startet. Ich nehme schon mal vorweg, dass die 49jährige den Halben in 1.51 Stunden gelaufen ist. Ich staune nicht schlecht, als ich das in den Ergebnissen recherchiere.

Dann heißt es: „Please Stand Up For The National Anthem.“  Im Block wird es ganz still, einige nehmen die Kappe ab, nehmen wie beim Barras  Grundstellung ein, die rechte Hand geht zum Herz. Die Frau neben mir bekommt sichtbar  Gänsehaut, ich fast auch. Und nur wenige Sekunden nach dem Start höre ich den Startschuss.

Es dauert gefühlt einige Minuten, dann geht es über die Zeitmatten und  meine Zeit läuft.

Auf der Ringstraße an der Altstadt geht es nordöstlich voran. Nach wenigen Minuten sehen wir dann die Estonian National Opera. 1913 wurde das Opernhaus unter der Herrschaft der Russen feierlich eröffnet, am Ende des Zweiten Weltkriegs bei einem russischen Luftangriff fast vollständig zerstört und gleich  nach Kriegsende unter Mithilfe deutscher Kriegsgefangener wieder aufgebaut. Heute befinden sich dort die Nationaloper Estonia und der Konzertsaal von Eesti Konsert. Das Staatliche Symphonieorchester Estlands hat da seinen Sitz.

 

 

Die Ringstraße laufen wir weiter um die Altstadt und sehe links  die Dicke Margarethe. Nein, das ist keine übergewichtige Läuferin, sondern der Wehrturm „Paks Margareeta“ der früheren Stadtbefestigung. Gleich daneben ist die Große Strandpforte, auch Großes Seetor genannt. Die Anlage war der Hauptzugang zum Hafen und entsprechend befestigt.

Wir verlassen die Ringstraße nach Nordwesten in den Stadtbezirk Kalamaja, zu Deutsch Fischermaie. Der Name deutet schon darauf hin, dass wir nun im Gebiet zwischen Zentrum und Küste unterwegs sind. Die Straßen werden ein wenig enger, so dass wir etwas aufmerksamer laufen müssen. Ich kann auf den 4.15 Stunden-Tempomacher auflaufen und gehe vorbei. Wir sehen viele historische Holzhäuser, teilweise schon renoviert, teilweise noch im Urzustand. Die estnische Bohème lässt sich in diesem Künstlerviertel gerne nieder.

Nach ungefähr einen halben Stunde sind wir am Baltischen Bahnhof über den der Zugverkehr des ganzen Landes läuft. Es gibt aber auch einige Verbindungen nach Moskau, Sankt Petersburg und Riga. Es hapert allerdings etwas an der Schnelligkeit, weshalb der Este lieber in den Fernbus steigt. Etwa alle fünf Kilometer gibt es Getränkestellen mit Wasser und Iso. Zu Essen gibt es Bananen, Orangen, Zucker, Rosinen, Brot und Salz. Zwei oder dreimal wird auch Gel angeboten, aber erst in der zweiten Hälfte des Marathons. Nach einer knappen Stunde sehe ich zum ersten Mal eine Kilometermarke, nämlich die Zehn. Scheinbar ist hier nicht jeder Kilometer ausgeschildert oder ich habe es übersehen.

In den Stadtteilen Pelgulinn, Pöhja-Tallinn und Merimetsa sammeln wir Kilometer um Kilometer. Zuschauer gibr es nicht sehr viele und man muss sie auch etwas animieren, wenn man angefeuert werden will. Dann macht sogar die Politsei (so schreibt man das hier) mit. Nach einer Stunde rennen wir am Hauptgebäude derselben vorbei. Ach ja, große Straßen sind mit Sattelscheppern abgesperrt, um die Läufer zu schützen.

Die Ostsee kommt in Sichtweite. Man kann gleich mehrmals die Läufer vor und hinter einem sehen, denn in diesem Grüngürtel läuft man auf parallelen Wegen hin und her. Praktisch für die Zuschauer. Auf der anderen Seite sehe ich dann vorneweg die Polizei fahren mit dem führenden Marathoni, schon einige Kilometer voraus.

 

 

Kilometer 15, wir verlassen die Straße und biegen in das estnische Freilichtmuseum ein, ein großes Waldstück, in dem14 Bauernhäuser einen Eindruck davon vermitteln, wie die Menschen hier vom 18. bis ins 20. Jahrhundert gelebt haben. Wir sehen Kirche, Kneipe, Schulhaus, Mühlen, einen Feuerwehrschuppen, Dorfladen und Windmühlen. An einer unterhalten uns zwei einheimische Musiker live mit handgemachter Musik. Die drei, vier Kilometer Strecke in dem Park sind Naturwege, aber gut zu belaufen.

 

Kilometer 20, da bin ich 1.55 Stunden unterwegs, sub 4 Stunden wird eine enge Geschichte. E ist noch ein weiter Weg. Wir kommen wieder an die Stelle, von der aus ich den Führenden gesehen habe. Jetzt sehe ich den Besenradler, der einen Läufer vor sich her treibt. Naja, so schlimm ist es nicht, der Radler hält Abstand. In Tallinn können auch langsamere Läufer ohne Stress finishen, für den Marathon ist erst nach sieben Stunden finito. Da kann man ja fast gehen.

 

In dem Grüngürtel zwischen den Stadtbezirk Pöhja-Tallinn und der Ostsee sammeln wir einige Kilometer auf parallelen Wegen. Bei Kilometer 25 ergattere ich ein Gel, einen Push kann ich jetzt gebrauchen. Kurz vorher werden wir aus einem Gartenschlauch geduscht. Da sich die Sonne mittlerweile verzogen hat, weiche ich aus und bleibe trocken. Stampfende Musik hilft uns weiter.

Auf den nächsten zwei Kilometern führt der Kurs nun in einen Park und steigt dabei etwas an. Die paar Höhenmeter bekommen wir im Anschluss zurück, ein wenig kann ich es rollen lassen. Im Stadtbezirk Kopli laufen wir dann auf die Estnische Maritime Akedamie zu, die zur Technischen Universität in Tallinn gehört. Alles, was mit der Seefahrt zu tun hat, wird hier gelehrt. Kilometer 30 passiere in nach 2.50 Laufzeit. Die Zeit wird hier von Geräten genommen, die fast ausschauen wie die gefürchteten Geschwindigkeitsmesser, Matten am Boden gibt es nicht.

Ein mehrere Kilometer langes Begegnungsstück, das uns auf der Halbinsel Paljassaare nochmals bis zur Ostsee führt, folgt.  Anfangs sehen wir links  Schwerölindustrie, man kann sie auch riechen. In den vielen kleinen Häusern leben noch Russen, die die größte Minderheit in Estland stellen. Auf halber Strecke können wir nochmals Gel zu uns nehmen,  dann geht es kurz vor Kilometer 35 wieder zurück.  Auf der See sehe ich zwei große Fähren auf dem Weg von und nach Helsinki.

 

 

 

Wir stoßen wieder auf die Halbmarathonstrecke, wo sich die Tempi beider Felder ziemlich gleichen. So profitiert der Marathoni vom Kurzstreckler und umgekehrt. Jeder kann den anderen ziehen, oder sich ziehen lassen. Kilometer 40, es wird knapp mit den vier Stunden Laufzeit, bei der Nettozeit könnte es sich mit sub vier ausgehen, ich muss aber Gas geben.

Am Bahnhof gelangen wir wieder auf die Ringstraße. Noch ein Kilometer. Unser Weg dreht nach rechts in die Altstadt. Britische Soldaten feuern ihre Kameraden an, andere haben das blau-schwarz-weiße Shirt mit ihrer khakifarbenen Tarnhose kombiniert.

Es geht durch das Viru-Tor, das im 14. Jahrhundert als Teil der 2,35 Kilometer langen Stadtmauer errichtet wurde. Im Mittelalter umfasste die Stadtmauer mindestens 40 Türme, so genau weiß man das nicht mehr. Auf Kopfsteinpflaster steigt die Strecke an, viele müssen gehen. Ich muss rennen, obwohl ich aus dem letzten Loch pfeife. Durch eine Gasse hindurch sehe ich kurz das Rathaus, das zusammen mit dem Zentrum der Altstadt zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört. An der Olden Hansa, einem Restaurant, geht es immer noch hoch. Die Freiplätze der Wirtschaft sind alle besetzt. Die Wirtschaft war das frühere Packhaus, ein Speicher im Mittelalter. Die Steigung lässt nach und wir werden empfangen, zuerst von einem modernen blauen Tor mit der Aufschrift „vivit estonia“ und dann von der St. Nikolaj-Kirche, die im 13. Jahrhundert von Kaufleuten errichtet wurde. Ist es bekannt, dass der Heilige Nikolaus Schutzpatron für Fischer, See- und Kaufleute ist? Wenn nicht, dann hamma wieder was glernt.

 

 

Ein paar Meter weiter wollen Mädels in Tracht abgeklatscht werden, dann bin ich im Ziel. 4.01 und ein paar Sekunden brutto, netto 3.59 Stunden, das passt. Es dauert nicht lange, dann kommen die auf der Laufreise neu gewonnenen Freunde ins Ziel, wie Ramona Starke, Hans Günther Hartmann, Herlinde Lebitsch und Karl Wolfgang Baumgarten. Henny bringt mir etwas ganz Spezielles ins Ziel: Eine Bierdose, allerdings leer getrunken. Heute bin ich diesbezüglich trocken geblieben.

 

Streckenbeschreibung:
Eine Runde, flach, schnell zu belaufen.

Startgeld:
Beim Marathon je nach Meldedatum zwischen 40 und 70 EUR. Läufer über 60 Jahren erhalten darauf noch 20 Prozent Nachlass!

Zeitnahme:
Einmalchip in der Startnummer. Zwischenzeitnahme alle zehn Kilometer.

Auszeichnungen:
Medaille (je nach Laufstrecke in unterschiedlichen Größen), Urkunde im Internet, Finisher-Shirt.

Verpflegung:
Auf der Strecke alle fünf Kilometer mit Wasser und Iso, dazu Bananen- und Orangenstücke, Zucker, Brot, Salz, vereinzelt Gel. Im Ziel erhalten wir zwei Flaschen mit Getränken, dazu einen Schokoriegel, mehr nicht, das war nicht nur für mich etwas dürftig.

Zuschauer:
Zahlreich bei Start und Ziel, sonst nur sporadisch.

 

Ergebnisse Marathon

Männer:

1.    Roman Fosti, SPARTA SS, 2.24.06
2.    Ülari Kais, 2.31.05
3.    Aleksandr Kuleshov, TREENINGPARTNER, 2.35.11

Frauen:

1.    Daisy Langat, 2.33.47
2.    Kaia Lepik, TÄPPSPORTLASED, 2.52.20
3.    Amane Sedi Chewo, 2.55.11

2489 Finisher

 

 

Informationen: Tallinn Marathon
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