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Laufberichte

''Ohne mein Gewehr laufe ich keinen Meter''

18.11.07
Autor: Klaus Duwe

Letzte Woche fanden die Schweizer Marathonmeisterschaften in Tenero statt, am Sonntag ging es in Frauenfeld schon wieder um Meisterehren über die Marathondistanz - diesmal mit dem Schießprügel. Der Waffenlauf, eine Schweizer Spezialität stand auf dem Programm.

 

„Käse, Uhren, Bankgeheimnis“, würde ich spontan auf die Frage nach echt Schweizer Spezialtiäten antworten. Als Läufer kann ich eine weitere hinzufügen: Waffenlauf. Vor über 90 Jahren, am 24. September 1916 gab es in Zürich den ersten, aber erst 1934 schlug mit dem Frauenfelder Militärmarsch die eigentliche Geburtsstunde des Waffenlaufes. Neben einigen Klassikern waren dies lange Zeit die einzigen Laufveranstaltungen in der Schweiz. In den 70er und 80er Jahren hatten sie ihren Höhepunkt, einzelne Veranstaltungen hatten weit über 1000 Teilnehmer, es wurden sogar Meisterschaften ausgetragen. Seither sind viele Veranstaltungen aus der Terminliste verschwunden, die Teilnehmerzahlen sind rückläufig.

 

König der Waffenläufe war und ist der Frauenfelder, ältester und einziger über die Marathondistanz. Mit viel Liebe und Engagement wird er am Leben gehalten. Längst hat man die Läufe für ausländische Teilnehmer geöffnet, Frauen zugelassen und zivile Laufschuhe erlaubt. Kleiderodnung heute: leichter Tarnanzug und die 6,2 kg schwere Packung (Rucksack mit Gewehr).

 

Abenteuerliche Gestalten sind es, die am frühen Sonntagmorgen in der Frauenfelder Stadtkaserne einrücken. Bunte Tücher, Mützen und Schuhe peppen die olivfarbenen uniformen Klamotten auf. Auch die Rucksäcke (schweizerisch: Packung) haben kaum mehr was vom Original. Rückenteil und Schulterriemen sind individuell mit Schaumstoff gepolstert, einzig das Gewicht muss stimmen: 6,2 kg für die Läufer, 5 kg für die Läuferinnen. Bewaffnet sind sie entweder mit dem Sturmgewehr (das sind die Soldaten, die noch aktiv an Schießübungen teilnehmen und ihre Waffe zu Hause verwahren) oder mit einem altertümlichem Karabiner.

 

Die meist älteren Herrschaften kennen sich. Dem lauten Hallo folgt ein unverständlicher Wortschwall aus Schwyzer Dytsch. Es sind aber auch einige Soldaten des österreichischen Bundesheeres und auch solche mit der schwarz-rot-goldenen Briefmarke auf den Ärmeln zu sehen.

 

Nach dem Zmorgebuffet mit Kaffee, Gipferl, Brötchen und Marmelade treten die Waffenläufer vor dem Gebäude zur Jubilarsehrung an. Georges Schugula schießt heute mit seinem 350. Waffenlauf den Vogel ab. ''Ohne mein Gewehr laufe ich keinen Meter'', meint er. Mit Marschmusik geht es zum Marktplatz, wo die große Startkanone in Position gebracht wird.

 

Ihr müsst euch das mal anschauen. Normalerweise startet man doch in Blocks mehr hinter- als nebeneinander. Hier stehen fast alle 250 Läuferinnen und Läufer  in einer Reihe entlang einer Linie, die quer über den Marktplatz gezogen ist. Als um 10.00 Uhr der Schuss knallt, rennen alle wie verrückt pfeilförmig auf das Ende des Platzes zu, um sich auf der anschließenden Straße eine gute Position zu sichern. Die Überraschung: der Start gelingt unfallfrei. Klar, dass das Spektakel viele Zuschauer anzieht.

 

Außer dass man sich kalte Füße holt, passiert jetzt eine halbe Stunde nichts. Solange will man den bepackten Waffeläufern vor den Zivilläufern Vorsprung lassen. Der Triumph des ersten Zieleinlaufs soll einem Waffenläufer vorbehalten sein. Um 10.30 Uhr erfolgt nach der gleichen Zeremonie der Start der über 200 Marathonis.

 

Zeit zum Einlaufen bleibt nicht, es geht gleich bergauf. Umso schneller wird die   Wohlfühltemperatur erreicht. Nach vier Kilometern sind die Handschuhe bereits überflüssig. Die ruhige Nebenstraße wird von aufmerksamen Streckenposten verkehrsfrei gehalten. Die Läufer drücken auf’s Tempo. Auf dem einen Kilometer langen Gefällstück nach Matzingen verliere ich den Anschluss an das Feld und sehe hinter mir nur noch drei Läufer, der Abstand zu den vorderen vergrößert sich zusehends. Ich kenne das, es beeindruckt mich nicht, schon gar nicht veranlasst es mich zu einer Anpassung meines Tempos. Abgerechnet wird am Schluss.

 

Die Strecke geht immer rauf und runter, längere flache Passagen gibt es auf der ersten Hälfte nicht. Die Anstiege, es sind auch einige recht giftige dabei, addieren sich auf 520 Meter, davon sind 370 auf der ersten Hälfte. Es ist kalt, 3 Minusgrade werden angezeigt. Langeweile gibt es nicht. Es geht durch Felder, Wiesen und Obstplantagen, immer wieder werden schmucke Bauernhöfe passiert und in der Ferne sieht man trotz des Nebels ganz schemenhaft die Berge. Vom frühen Wintereinbruch hat auch der Thurgau „profitiert“, die Landschaft zeigt sich im weißen Winterkleid. Hinter einem großen  Feld tauchen die weißen Giebel einer kleinen Ortschaft auf. An den markanten Kirchtürmen, der eine ist schlank und hat einen spitzen Giebel, der andere ist breit und wuchtig, erkennt man, dass es Wängi ist.

 

Kilometer 9 ist erreicht und es beginnt ein ungefähr 3 Kilometer langer Abschnitt mit 150 Metern Höhenunterschied. Die A 1 (Zürich – St. Gallen) wird überquert und nach ungefähr 14 Kilometern wird Eschlikon erreicht und die zweite Verpflegungsstelle. Wasser, Rivella, warmer Tee, Bouillon, Iso und Bananen werden angeboten. 


Bei Kilometer 15, noch in Eschlikon, geht es zuerst unter der Bahnlinie durch, dann steil bergauf und schließlich parallel zur Bahn im ständigem Auf und Ab weiter. Ich komme nach Sirnach. Je weiter östlich uns die Strecke führt, desto winterlicher wird nicht nur die Landschaft. Stellenweise ist Vorsicht geboten, denn schnee- und eisfrei sind die Wege nicht. Aber ist es schön, besonders im anschließenden Waldstück kommt man sich richtig verzaubert vor.

 

Jetzt überhole ich die ersten Waffenläufer, meist aus der Kategorie „alte Haudegen“. An Heini Hasler hätte mein Spieß aus der Bundeswehrzeit seine helle Freude. Er trägt keinerlei „unformfremde“ Stücke, sogar genagelte Schuhe hat er an. Spontan kommt ein Mann mit einer Flasche Wein aus dem Haus gerannt und schenkt dem Kameraden ein. Der ist ein Kostverächter und unter Zeitdruck steht er auch nicht.

 

Erwähnt werden muss bei dieser Gelegenheit unbedingt das Engagement der Bevölkerung. Nein, es stehen nicht massenweise Zuschauer an der Straße. Aber vor fast jedem noch so einsamen Bauerhaus stehen ein paar Leute und klatschen, oft haben sie Erfrischendes oder Wärmendes für die Aktiven parat. Dabei liegen ihnen „ihre“ Waffenläufer natürlich besonders am Herzen. Nicht selten wird vor den Kneipen gefeiert, auf dem Grill liegen dicke Würste und in der Luft der Duft von Bier und Schnaps.

 

Inzwischen hat sich die Sonne gegen den Nebel durchgesetzt. Wesentlich wärmer wird es dadurch nicht, es bleibt bei Null Grad. Aber die Seele blüht auf, das Laufen macht richtig Spaß.

 

Ich erreiche Wil und dort zunächst den Stolz der ganzen Region, die Sägekettenfabrik von Stihl. Wie kommt ein Sägenhersteller in den Thurgau, hier gibt es doch kaum Wald? Tja, jetzt nicht mehr. Andreas Stihl wurde in Zürich geboren, den Grundstein zu seinem Unternehmen legte er aber in Stuttgart. Vor 30 Jahren wurde das Wiler Werk errichtet. Mit fast 10.000 Mitarbeitern insgesamt erwirtschaftet Stihl  heute über 2 Mrd. Euro.

 


Die festlich geschmückte Fußgängerzone mutet schon weihnachtlich an. Es sind so viele Menschen unterwegs, wie an einem verkaufsoffenen Sonntag. Der Waffenlauf ist hier eine echte Attraktion. Außerdem starten am Hofplatz fast 1000 Läuferinnen und –Läufer zum Halbmarathon nach Frauenfeld. Als ich den Hofplatz „hinten herum“ durch das Schnetztor erreiche, ist das meiste vorbei, die Aktiven auf der Strecke und die meisten Zuschauer beim Mittagessen. So kann ich ungestört die uralten, historischen Häuser mit ihren Laubengängen und kunstvollen Fachwerken bewundern.

 

Die Strecke steigt in der in der Folge etwas an, aber nach einer Cross-Einlage geht es bis nach St. Margarethen (km 27) abwärts. Insgesamt ist die zweite Hälfte wesentlich einfacher zu laufen, 370 der insgesamt 520 Höhenmeter liegen im ersten Streckenabschnitt. Jetzt ist auch jeder Kilometer markiert, zuvor waren die Kilometerangaben in 5km-Abständen.

 

Der Anstieg nach Lommis (km 30) ist kurz und nicht schwer, da ist der Hügel, über den der Weg nach Stettfurt (km 35) führt, schon deutlich beschwerlicher. Inzwischen kann ich neben Waffenläufern auch den einen oder anderen Marathoni, der sein Pulver verschossen hat, überholen. Manchmal kommt es zu harter Gegenwehr, letztendlich behalte ich mit meinem sturen Dauerlauf, berauf, bergab, immer die Oberhand.

 

Schnaps- und Zuckerwasser soll müde Läufer munter machen, glaubt man dem Fachpersonal an der Getränkestelle bei Weingarten. Auf ausdrücklichen Wunsch gibt es den Schnaps auch unverdünnt.

 

Die Strecke verläuft meist oberhalb der Orte mit schönen Ausblicken bis in die Berge. Ich muss mich wundern, in den Siedlungen und Ortschaften sind auch jetzt immer ein paar Leute, die die Läufer anfeuern.

 

Hinter Stettfurt (km 35) kommen wir auf die Straße nach Frauenfeld, die wir heute in anderer Richtung schon gelaufen sind. Damit ist klar, zwei knackige Steigungen stehen uns noch bevor. Als die ersten Häuser  von Frauenfeld erreicht werden, fehlen aber noch 2 Kilometer zu einem Marathon. Also geht es nicht geradeaus und abwärts in die Stadt, sondern noch einmal aufwärts und ins Grüne. Erst den letzten Kilometer kann man es dann bequem bis zum Zieleinlauf hinter der Kaserne rollen lassen.

 

Etliche Zuschauer und der Sprecher, der die Finisher vorstellt, bilden das Empfangskomitee. Per Handschlag werden die Glückwünsche übermittelt und schon ist man im Verpflegungsbereich.

 

Als Auszeichnung oder Belohnung stehen zur Auswahl: Medaille, ein Glas Frauenfelder Bienenhonig oder Bargeld (10 Franken). Schon mal so was erlebt?

 

Selbstverständlich gibt es in der Kaserne warme Duschen. Aber nicht nur das. Waffenlauf ist nicht nur Sport, sondern auch Geselligkeit. Also trifft man sich in der Kantine zum großen Voressen. Was ist das – isst da einer vor und alle gucken zu?

 

Früher, als die Menschen noch körperlich hart arbeiteten und sich entsprechend ernährten, gab es auf dem Land recht üppige Menüs und mehrere Gänge mit Fleisch. Dazu gehörte als Voressen meist ein Ragout aus Rind- oder Schweinefleisch. Heute gibt es auf dem Land kein Fest ohne Voressen. Und Waffenlauf ist ein Fest.

 

Teilnehmer:

229 Finisher Waffenlauf
198 Finisher Marathon
897 Finisher Halbmarathon
+ Jugendlauf

 

Die Platzierten und Schweizer Meister/in im Waffenlauf

über die Marathondistanz

 

Männer

1. Wieser Patrick, 1979, Aadorf                    2:49.20,8 (2025)
2. Berger Marc, 1981, Fribourg                     2:56.07,5 (2911)
3. Hasler Bruno, 1971, Rickenbach b. Wil 2:58.05,3 (3012)

 

Frauen

1. Widmer Monika, 1977, Matzingen            3:25.48,5 (1901)
2. Balmer Marianne, 1960, Davos Platz      3:39.32,4 (1906)
3. Harder Judith, 1960, Bern                          3:49.25,2 (1902)

 

Marathonsieger

 

Männer
1. Ryabkov Nikolay, 1979, Adliswil                 2:41.05,8 (7186)
2. Weiss Richard, 1965, Münchwilen TG     2:42.46,6 (7136)
3. Stoll Roland, 1977, Weinfelden                  2:48.45,2 (7183)

 

Frauen
1. Balz Deborah, 1979, Grub SG                     3:00.49,9 (7220)
2. Helfenberger Claudia, 1966, Arnegg         3:03.30,1 (7196)
3. Dieterle Barbara, 1981, D-Konstanz          3:14.05,3 (7209)

 


Streckenbeschreibung
Sehr abwechslungsreicher und landschaftlich schöner Rundkurs durch Felder, Wiesen und kleine Ortschaften. Insgesamt 520 HM, davon 370 auf der ersten Hälfte. Höhepunkt sind die Startplätze Frauenfeld (Waffenlauf und Zivil-Marathon) und Wil (Halbmarathon).

 

Auszeichnung
Medaille, Geld oder Honig

 

Verpflegung
 Rivella, Marathon, Tee, Bouillon, Wasser, Bananen, Kuchen, Schokolade, Brot


Logistik
Stadtkaserne ist gleich beim Bahnhof. Parkmöglichkeiten in der Nähe. In der Kaserne Startunterlagen, Duschen und Kleiderdepot.


Zeitnahme
Datasport, manuell

 

Informationen: Frauenfelder Marathon
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