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Laufberichte

Leidenschaft, die Leiden schafft

 

Mein sechster Start beim Bieler 100er steht auf dem Programm. Immer war es einzigartig, nie problemlos. Was an Biel einzigartig, unvergesslich und schmerzhaft ist, könnt ihr hier nachlesen.

Einmal im Jahr einen elend langen Lauf machen, das ist in den letzten Jahren mein Konzept. Wer mal in einen Hunderter rein geschmeckt hat, den wird der Virus nicht mehr loslassen. Werner Sonntags Buchtitel „Einmal musst du nach Biel“ wurde zum geflügelten Wort. Viele belassen es nicht bei EINMAL und kehren, nachdem sie sich hier die 100er-Reife geholt haben, gerne wieder an den Tatort zurück. Einer von ihnen ist Karl-Heinz Kobus, der trotz Dialyse heute zum 33. Mal in Folge am Start ist und immer gefinisht hat. Unvergessen ist sein Beitrag

„Erst Dialyse, dann die 100 km von Biel“


Ich werde zum vierten Mal an den Start gehen und versuchen, wieder durchzukommen, denn nicht jeder wird es schaffen. Die Ausfallquote beträgt je nach den Wetterbedingungen 20 bis 25 Prozent.

Heuer scheint es anfangs gar nicht mal so schlecht zu werden, doch je näher das Event rückt, desto häufiger werden die Gewitterwarnungen. Seitens der Organisatoren wird noch kurz vor dem Start eine Krisensitzung abgehalten, denn dicke Gewitterwolken zeigt das Wetterradar in der Umgebung.

 

Countdown für die 100

 

Gegen 19.00 Uhr fahre ich auf einen Parkplatz beim Kongresshaus, wo die ganze Infrastruktur der Bieler Lauftage zu finden ist. Die Startnummernausgabe ist dort, eine kleine Laufmesse kann man besuchen und einige Sponsoren stellen sich dem Läuferpublikum vor. Für den Erhalt der Startnummern und der Tasche mit den Give-Aways sollte man seine persönliche Startkarte mitbringen, die im Internet eingestellt war. Im Zelt werden noch Nudeln ausgegeben und wer auf Herzhaftes wie Wurst und Fleisch Appetit hat, auch das gibt es zu kaufen. Viel Glück auf dem langen Weg, wünscht noch die freundliche Helferin am Ausgabetisch.

Bevor ich mich noch für ein kleines Nickerchen ins Auto zurückziehe, laufen mir Reporterkollegen Birgit und Norbert Fender über den Weg. Sie läuft und er wird sie vom Velo aus betreuen. Eine interessante Aufgabenteilung. Von meinem Verein will sich Stefan Heckl als Hunderter-Rookie an dem langen Kanten probieren. Er ist entsprechend nervös, zeigt aber eine gesunde Einstellung in den Tagen zuvor. „Es wird Zeit, dass die Sch... endlich losgeht!“

Der Kanonenschlag um 21.30 Uhr für den Start der Begleitradler reißt mich aus der Ruhe. Sie dürfen nicht mit den Läufern in Biel starten, sondern müssen nach Lyss fahren, wo sie sich dann unter die Läufer mischen. Für 25 EUR erhalten sie eine spezielle Startnummer, mit der sie auch die offiziellen Verpflegungsstellen nutzen können. Es gilt der Grundsatz, dass die Radfahrer Rücksicht auf die Läufer nehmen müssen. Etwa 20 Minuten vor dem Start um 22.00 Uhr gehe ich in die Startaufstellung. Blöcke mit jeweiligen Laufzeiten gibt es hier nicht. Jeder weiß, wo es sich hinzustellen hat. Und ein Hunderter wird nicht im Startsprint entschieden.

Was ist mein Plan? Gleichmäßigkeit im Tempo, nicht am Anfang überziehen und sich genügend Zeit für Essen und Trinken nehmen. Bisher habe ich immer für zehn Kilometer genau eine Stunde eingeplant, plus die Zeit für die Verpflegungsaufnahme. Damit dürfte eine Gesamtzeit von unter zwölf Stunden machbar sein. Eine andere Faustformel besagt, dass du für einen Hunderter das Dreifache deiner Marathonzeit benötigst.

Außerdem sollte man sich einen Hunderter auch gedanklich aufteilen: Also vielleicht zwei, drei Stunden einlaufen und im Rennen ankommen, die Marathonmarke überschreiten, Halbzeit bei Kilometer 50, dann von V-Stelle zu V-Stelle sich weiterhangeln und zum Ende jeden Kilometer als Marke hernehmen. Wer dazu im Vorfeld noch einige Marathons und zwei, drei Ultratrainingsläufe gemacht hat, ist ausreichend präpariert. Ich führe zudem noch ein langes Laufshirt und eine Goretex-Jacke mit, damit kann mich ein eventueller Regenguss nicht aus der Ruhe bringen.

Die letzten Minuten verlaufen im Flug. Während einige noch aufgeregt mit Bekannten reden, sind andere in sich gekehrt oder hoch konzentriert. Wir erhalten noch letzte Informationen auf Deutsch und Französisch, bevor der Moderator den Count Down mit einem „Machet's es guat und toi, toi, toi“ einleitet.

 

Machet's es guat

 

Es wird eine warme Nacht werden, denn beim Start hat es noch gut 20 Grad. Kurze Hosen und Shirts dominieren, jedoch haben viele einen Laufrucksack umgeschnallt oder eine Jacke um die Hüfte gebunden. Die letzten Sekunden werden herunter gezählt, dann erlöst ein Schuss die Anspannung unter den rund 1000 Hundertkilometer-Läufern. Der erstmals angebotene Nacht-Erlebnislauf nach Aarberg wurde vor einer Stunde gestartet, rund 300 Teilnehmer gingen auf die Strecke. Mit einer halben Stunde Verzögerung beginnen die Marathonis und Halbmarathonis ihr Tages-, äääh Nachtwerk und um 23.00 Uhr gehen die Staffeln (jeweils zu fünft) sowie die Partnerläufer (zwei Sportler) auf den Kurs.

Genau zum Startschuss reißt vor mir jemand seine Hände hoch. Los geht’s zum 57. Bieler Hunderter. In wenigen Sekunden überschreite ich die Startlinie. Als Fotograf mit einer einfachen Kamera in der Nacht brauchbare Bilder zu schießen, ist nicht einfach. Ich nutze dafür die Startrunde, da es nicht ganz finster ist und die Straßenbeleuchtung noch ein wenig helfen kann. Landschaftsaufnahmen sind während der Dunkelheit unsinnig, so muss ich mich halt auf Zuschauer, Mitläufer und das Personal bei den V-Stellen beschränken. Viele Neugierige stehen am Rand der Strecke und geizen nicht mit Applaus.

Ja, der Bieler Hunderter ist hier in der Schweiz Kult. Wenn du das Finishershirt im Urlaub in den Schweizer Bergen spazieren trägst, wirst du garantiert von den Eidgenossen angesprochen und beglückwünscht.

Nach 3,5 Kilometer, noch in Biel, können wir bei der ersten Tankstelle zugreifen: Wasser, Gatorade mit Orangen und Zitronengeschmack, Sport Tee und Cola stehen im Angebot. Später kommen noch Bouillon, Riegel, Gel, Bananen, Äpfel, Orangen, Brot, Salzstangerl und Linzertörtli dazu. Wer was Isotonisches auf Hopfenbasis haben will, der muss nachfragen oder betteln gehen.

Verlaufen ist fast unmöglich, denn rund 1000 Helfer hat man aufgeboten und viele Markierungen sind angebracht, diese sind dann außerhalb von Orten auch beleuchtet. Die ersten und letzten fünf Kilometer sind einzeln markiert, sowie dazwischen jeder fünfte.

 

Hinaus in die Nacht

 

Nach der Brücke über den Niedau-Büren-Kanal verlassen wir die 50000 Einwohner zählende Stadt Biel, in der als einzige Stadt die deutsche und die französischen Sprache gleichberechtigt sind. So sieht man Straßenschilder in zwei Sprachen und auch alle Ansagen in Bus und Bahn sind in beiden Sprachen zu hören. Häufig passiert es auch, dass einer in Deutsch fragt und in Französisch die Antwort bekommt.

Bei Kilometer fünf prüfe ich mein Tempo und befinde es für gut. Ich bin ein wenig über den Sechs-Minuten-Schnitt für einen Kilometer. Ein längeres Stück mit rund 70 Höhenmetern müssen wir in Port belaufen. Die alten Haudegen, und das sage ich mit Ehrfurcht gegenüber der älteren laufenden Generation, haben jetzt ihr Tempo deutlich zurückgenommen. Es ist nicht falsch, sein Tempo genauso bedächtig zu wählen. Denn was du jetzt an Kraft hinausschießt, wird hinten drei- und vierfach fehlen. Daher fallen schon viele Läufer ins Marschtempo. Ich nehme die Steigung noch im langsam joggend. Oben bietet sich eine schöne Aussicht auf das beleuchtete Biel.

Sehr steil führt der Abstieg hinunter nach Jens, ein kleiner Ort. An der V-Stelle hat sich wohl die halbe Bevölkerung versammelt und macht Stimmung. Zehn Kilometer liegen hinter mir. Zwei nach elf zeigt das Zeiteisen, ich bin voll im Plan. Dann verlassen wir Jens, wir laufen durch die Felder. Anfangs ist der Untergrund betoniert und asphaltiert, später wird es ein befestigter Naturweg. Die vielen Läufer wirbeln Staub auf, den du besonders mit eingeschalteter Beleuchtung gut sehen kannst. Ja, eine Birn am Hirn ist ein Ausstattungsstück, das du besonders am Ho-Chi-Minh-Pfad brauchen wirst.

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Informationen: Bieler Lauftage
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