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Laufberichte

Dingle-Marathon: Love at first sight

03.09.22 Special Event
 

Manchmal geschieht es wie im wahren Leben: Es ist Liebe auf den ersten Blick. Du siehst etwas und weißt, dass Du da hinwillst. Hin musst.  So geschehen vor einigen Jahren, als ich die Drohnenaufnahmen des berühmten bunten Läuferlindwurms sah, der auf einer atemberaubend schönen Küstenstraße unterwegs war. Weil die in Irland liegt, wo ich noch nie war, und ich ohnehin von einem Laufbericht angefixt war, blieb nur eine Frage offen: Wann? Jetzt, wo der hinterhältige virale Showstopper kaum noch Wirkung entfaltet, ist es endlich soweit.

Nun liegt Dingle – wir unterscheiden beim Namen zwischen Halbinsel und Stadt, besser Städtchen – um es vorsichtig auszudrücken, etwas abseits. Im äußersten Südwesten Irlands liegend, ist es Teil der Grafschaft Kerry. Da klingelt es bestimmt bei dem einen oder anderen, denn die Butter namens Kerrygold ist im wahrsten Sinne des Wortes in vieler Munde. Vielleicht ist auch bekannt, dass die Heimat einer bekannten irischen Nicht-mehr-ganz-so-Billigfluglinie ebenfalls Kerry ist. Noch steht die Verbindung vom rheinland-pfälzischen Regionalflughafen Hahn, der sich gleichermaßen stolz wie unzutreffend mit dem Beinamen „Frankfurt“ schmückt, daher geht die Reise gleichermaßen preiswert wie flott als Direktflug innerhalb von zwei Stunden über die Bühne.

Am Kerry Airport angekommen, gilt es aber noch knappe 60 km zum endgültigen Ziel zurückzulegen. Die Mietwagenpreise sind astronomisch hoch, zudem stehen Linksverkehr und dazu auch noch auf der falschen Seite angebrachte Lenkräder nicht im Zentrum meines Interesses. Umständliche und dazu seltene Busverbindungen lassen mich bei einem Shuttleservice im Kleinbus zu erträglichem Tarif zuschlagen. Ohne Wartezeit treffe ich kaum eine weitere Stunde später am Ort meiner Begierde ein und bin, wie nicht anders zu erwarten, direkt begeistert.

 

 

Von meiner Unterkunft, natürlich einem B&B (Bed and breakfast), sind es keine zehn Gehminuten zum idyllischen Hafen, zu dem mich natürlich mein erster Erkundungsgang führt. Hier findet die Startnummernausgabe für die ausländischen Teilnehmer zwischen 13 und 22 Uhr statt, Nachzügler können aber auch noch morgen zwischen 7 und 8 Uhr zuschlagen. Toller Service für die Iren: Die haben alles schon im Vorfeld per Post zugesandt bekommen. Einen netten Devotionalienverkauf bieten sie auch, daher schlage ich trotz schon vollen Rucksackes zu. Mein gewisser Hang zum Anglophilen – optisch ähnelt das Irische in meinen Augen dem Britischen durchaus – ist dem einen oder anderen bekannt, und so schwelge ich im Gewirr der vergleichsweise kleinen, knallbunten Häuser, die an anderer Stelle bei mir Augenkrebs auslösen würden. Wie könnte es anders sein? In Ermangelung einer Pastaparty sinke ich Fish & Chips-gestärkt in Morpheus Arme.

Der nächste Morgen bereitet mir erst einmal wenig Vergnügen, denn wie schon am Vorabend ist es kräftig am Regnen. Was wir im germanischen Westen seit Wochen flehentlich erbitten, kommt hier natürlich zur Unzeit, zumal die Vortage auch hier Bombe waren. Was hilft's? Wenigstens auf dem Fußweg zum Start bleibt der Himmel dicht. Schön ist es, mal wieder einen Start in dichtem Menschengewirr zu erleben. Zugläufer für 3:30, 3:45, 4:00, 4:15 und 4:30 Stunden haben sich in die Menge der späteren rund 1.600 Erfolgreichen über die Halbmarathon- und Marathondistanz eingereiht, und schon breitet sich wieder feinster Landregen aus. So ein Mist aber auch! Sabine Schneider, die den ersten Dingle-Bericht auf unserer Seite verantwortet hat, tippt auf U2 vor dem Start, aber aus den Lautsprechern quillt nur wildes, undefinierbares Rhythmusgestampfe. Es ist 9 Uhr, nix wie weg.

 

 

Nur einmal im Jahr ist die Küstenstraße, über die weite Teile der ersten Marathonhälfte führen wird, gesperrt, und das ist exakt heute und nur für uns Läufer der Fall. Der Hafenbereich und damit auch schon das Städtchen als solches haben wir, das sind alle Läufer gemeinsam, unter dem Applaus der gar nicht so wenigen Fans schnell hinter uns gelassen und streben am Wasser auf die steinerne Milltown-Brücke zu. Diese führt die Straße R559 nach Slea Head aus Dingle und über den Milltown River heraus.

Regenwolkenverhangen ist die Szenerie, was aber meiner guten Laune keinen Abbruch tut, denn genau hier wollte ich ja hin. Und die Verhältnisse sind halt, wie sie sind. Erste Kerrygold-Produzentinnen weiden das saftige Gras ab, das auch wir zuhause anstatt der derzeitigen Steppenlandschaft gerne hätten. Der erste VP mit vorgelagertem, lautstarkem DJ bietet ausschließlich Wasser, das allerdings in recht dickwandigen Plastik-Halbliterflaschen, was mein diesbezüglich grünes Herz deutlich beleidigt. Riesige Müllberge nicht ansatzweise ausgetrunkener Behältnisse sind die Folge. Das wird sich etwa alle drei Meilen wiederholen.

Wenigstens ist es mit zwölf Grad nicht unangenehm kalt, in Bewegung bin ich mit je einem Lang- und Kurzarmshirt richtig gekleidet. Wir passieren die Woodlands bei  Burnham und den Ort Ventry, anglisiert aus dem irischen Fionntrá, was „der weiße Strand“ bedeutet. Aufgrund dieses langen Sandstrandes ist Ventry ein beliebtes Touristenziel. Es ist ein sog. Gaeltacht-Dorf. Gaeltacht ist die Bezeichnung für Regionen in Irland, in denen Irisch offiziell die vorherrschende Sprache ist, was wir im weiteren Verlauf deutlich vor Augen geführt bekommen werden, denn Schilder in englischer Sprache werden Mangelware sein.

7 Kilometer westlich von Dingle sind wir jetzt, als der Himmel endgültig seine Schleusen öffnet. Es regnet „cats and dogs“, und wenn es nicht so ätzend wäre, müsste man darüber lachen. So wild hatte ich mir den Wild atlantic way nicht vorgestellt, zumindest nicht heute.

 

 

Ventry verlassend, wendet sich der Kurs westwärts und passiert das Dunbeg Fort (irisch An Dún Beag – „das kleine Dun“). Dies ist, so werde ich aufgeklärt, ein eisenzeitliches Fort, das bis ins Mittelalter genutzt wurde und in Art eines Promontory Forts hinter einer Abtrennung aus vier sukzessive entstandenen Erdwällen und fünf Gräben auf einer Landzunge der Dingle-Halbinsel liegt. Es ist ein irisches Nationalmonument. Im Januar 2018 wurden große Teile des Forts durch einen Sturm mit anschließendem Hangrutsch zerstört, das Gelände ist seitdem nicht mehr zugänglich.

Danach beginnt es doch tatsächlich aufzuklaren, was mir extrem gelegen kommt, denn jetzt beginnt der spektakuläre Teil des Kurses mit Aussichten wie aus einem Hochglanzkalender.

Fahan oder Glenfahan heißt ein Platz nahe Slea Head, wo eine Anzahl von Bienenkorb- bzw. Bienenstockhütten, engl. beehive hut, ir. clochán (plur. clocháin, von cloch „Stein“) zu bewundern sind, allerdings leider nicht von der Strecke aus. Diese Gebäude  stellen  meist runde Kraggewölbebauten aus Trockenmauerwerk dar. Die teilweise noch erhaltenen Hütten wurden in der Eisenzeit und in der frühchristlichen Zeit, vereinzelt noch in der Neuzeit, errichtet und sind als Reste einer oder mehrerer monastischer Gründungen oder Eremitagen anzusehen. Vor einer uneinsehbaren Linkskurve werden wir vor der „rough road“ gewarnt. Die entpuppt sich als ein die Straße querender Wasserlauf über Kopfsteinpflaster. Irgendwie hat man es geschafft, diesen für den heutigen Lauf (fast) trockenzulegen. „Breathtaking“, also atemberaubend, ist häufig auch der äußerst lohnende Blick zurück über steile Wiesen, schroffe Küsten und die bunte Läuferschar.

Traumhaft ist der Blick über die blaue See auf die vorgelagerten Inseln, den jetzt ebensolchen Himmel und die grünen, weitestgehend baumlosen Wiesen voll schmackhafter Schafe und willkommener Milchproduzentinnen. Ich möchte nicht wissen, was auf dieser häufig recht schmalen Straße an einem schönen Sommertag  verkehrstechnisch los ist. Gut, dass man die heute komplett gesperrt hat, so kann ich  mich ganz dem visuellen Genuss hingeben.

Ah, da kommt, worauf ich schon einige Zeit gewartet habe, denn der Kurs erreicht Slea Head (ir. Ceann Sléibhe, dt. Bergspitze), eine Landzunge im westlichsten Gaeltacht-Teil der Dingle-Halbinsel. Ein weißes Kruzifix mit der Abbildung Jesu Christi und der Mutter Gottes markiert einen Aussichtspunkt, der einen weiten Ausblick auf die Dingle Bay bis hin zu den Blasket-Inseln bietet. Diese, irisch: Na Blascaodaí, sind eine Gruppe kleinerer, heute unbewohnter Inseln vor Dunmore Head, der Westspitze der Dingle-Halbinsel. Von diesen 12 Inseln waren die fünf größeren bewohnt. Die mit Abstand größte ist die Great Blasket Island (Irisch: An Blascaod Mór), ein Vogelparadies. 1982 verunglückte aufgrund eines Motorschadens in einem Sturm am nahegelegenen Dunmore Head das gerade fertiggestellte spanische Containerschiff Ranga auf seiner Jungfernfahrt von Vigo nach Reykjavík und strandete an der felsigen Küste. Reste des langsam zerfallenden Wracks waren noch jahrelang zu sehen.

 

 

Die km vergehen, kaum dass sie mir auffallen, denn die Aussichten sind einfach wunderbar. Wir folgen der Nordküste, entlang des  Coumenoole Strandes, der schon so manchen Film optisch bereichert hat. Schon von weitem kann ich sie sehen, die lange Reihe Busse, die etwa an km 19 stehen, um die Halbmarathonläufer nach Dingle zurückzubringen. Siebzehn sind es noch, die da warten, entsprechend groß ist offensichtlich die Zahl der noch hinter mir liegenden Halblinge.

Dann ist sie erreicht, die Streckenteilung in Dunquin village, einem kleinen Ort mit 159 Einwohnern. Hier ist der äußerste Westen Irlands, und, abgesehen von einigen kleineren Inseln, der westlichste Ort der Britischen Inseln. In Dún Chaoin befindet sich auch der westlichste Pub Europas. Die irische Bezeichnung Dún, anglisiert auch Doon, mit der Bedeutung „Befestigung“ geht hier auf eine ausgegangene bronze- oder eisenzeitliche Anlage aus Trockenmauerwerk zurück. Wir sprachen bereits darüber.

“Marathonläufer nach rechts!”, so lautet der Hinweis, als die Halbdistanzläufer neben mir in deren Ziel sprinten. Zwei Stunden und acht Minuten sind nach meinem Überqueren der Zeitmeßmatte vergangen. Von Dún Chaoin/Dunquin aus schlagen wir den Rückweg nach Dingle ein, allerdings durchs Landesinnere. “Busse nach links, Läufer nach rechts!” werden wir angewiesen, denn unseren weiteren Laufweg müssen auch die Busse nehmen. Mir geht Michael “Bully” Herbig in seinem herrlichen Film (T)Raumschiff Surprise nicht aus dem Sinne: “And power to the left, and power to the right”. Wahrscheinlich würde er analog dem Schuh des Manitou auch diesen Film heute in Anbetracht der allgegenwärtigen politischen Korrektheit nicht mehr so drehen (dürfen).

 

 

Kaum verliert die Strecke an spektakulärer Schönheit, sie ist eine einzige Augenweide. Die ganze Zeit schon achte ich auf meinen Schritt, denn ich habe mir zum ersten Mal ein Laufschuhpaar mit der dicken Sohle geleistet, um zu sehen, ob ich einen Unterschied bemerke. Ich kann jetzt schon resümieren, dass das Gefühl letztendlich für mich kein anderes gewesen sein wird, als ich es von flachen Sohlen gewohnt bin. Wir passieren eine Töpferei mit mannshohen Tonskulpturen, zwei Dudelsackbläser machen mir Beine. Weg von der See kommen wir am Dorf Ballyferriter (irisch: Baile an Feirtéaraigh, was „Ferriters Townland“ bedeutet) vorbei. Einem Gaeltacht-Dorf, in dem laut der Volkszählung von 2002 etwa 75 % der Bevölkerung der Stadt täglich die irische Sprache spricht. Es ist nach der normannisch-irischen Familie Feritéar benannt.

Für den Kopf wird es langsam anspruchsvoll, denn lange Geraden bestimmen den Streckenverlauf zunehmend. Hinter dem netten Dörfchen können wir schöne Blicke auf Murreagh werfen, einer der vielen Sandstrände rund um den Hafen von Smerwick. Hier soll man großartige Sonnenuntergänge erleben können, alleine mein Vorwärtsdrang hält mich von einer Überprüfung dieser Behauptung ab. Unvermittelt werde ich nach links geleitet, andere Läufer kommen mir entgegen. Richtig, die Begegnungsstrecke hatte ich völlig verdrängt, sie gleicht auf zweimal anderthalb km den zu 42,195 km fehlenden Teil bis Dingle Town aus. Erst auf dem Rückweg, der kontinuierlich bergab führt, merke ich, dass es auf dem Hinweg nicht unwesentlich aufwärts gegangen ist, ein gutes Zeichen für meine körperliche Verfassung.

Die ist auch im folgenden Streckenabschnitt gefragt, denn man hatte uns vorgewarnt: Ein stramm aufwärts führender Teil bei etwa Meile 22, man solle dafür sorgen, noch genug Sprit im Tank zu haben. Den habe ich und stelle fest, daß Fish & Chips als praemarathonale Kalorienzufuhr genauso wenig leistungsmindernd sind als weiland Joes unvergessene Ente cross. „Keep pushing, guys, half the hill is done!“ tönt der DJ von vorhin, der seinen Wirkungskreis mittlerweile hierher verlegt hat.

 

 

Der höchste Punkt ist erreicht, jetzt soll es nur noch abwärts gehen. „Mach Dir keine Gedanken“, lacht die attraktive Läuferin in Gelb, „ich muss jetzt mal ein paar Schritte rückwärts gehen, die Beine schmerzen so sehr.“ Immer wieder, und das empfinde ich als sehr erfreulich und beweist die Verbundenheit der Anrainer mit „ihrem“ Lauf, gibt es etliche private, kleine VP mit Getränken und Snacks, freundlicher Applaus inklusive. Weit am Horizont kann ich schon die Dingle Bay erahnen, aber zwischen ihr und mir liegen noch optisch elend lange Geraden. „Be the force with you“, gibt mir der lichtschwertbewaffnete Jedi-Ritter auf Stelzen mit auf den Weg. Sie ist es.

 
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Kerzengerade verläuft der Weg nach Dingle. Erfreulicherweise läuft es unverändert flüssig, es gelingt mir, etliche Mitstreiter einzuholen, ein wie immer motivierendes Momentum. Sogar die 4:20 Std., die ich schon lange nicht mehr gelaufen bin, erscheinen in Reichweite. Die ersten Häuser tauchen auf, Polizeisperren erleichtern den restlichen Weg. Schon bin ich auf der bruchsteinernen Brücke über den Milltown River, dem ersten markanten Punkt unseres heutigen Ausflugs. Beifallbegleitet spule ich die letzten paar hundert Meter ab und bin nach 4:16 Std. und 416 Höhenmetern im Ziel.

 

 

„Der volle Marathon bietet eine Menge herausfordernder Abschnitte, ist aber eine enorm lohnende Leistung“, hatte man uns im Vorfeld mit auf den Weg gegeben. Das kann ich nach dem Lauf vollauf bestätigen. Die Zielverpflegung bietet mit u.a. Sandwiches und Tortillas gleichermaßen Ungewöhnliches wie Leckeres, dafür gibt’s leichte Abzüge beim Flüssigen: Zum Wasser gibt es keine Alternative. Die gibt es auch nicht zum Restprogramm. Dank des inzwischen perfekten Wetters entfällt die anfangs befürchtete Notwendigkeit zum fluchtartigen Verlassen des Zielgeländes, daher gibt’s für Euch noch etliche Zieleinlauffotos von Läufern in unterschiedlichster Verfassung und ebensolchen   Gemütszuständen.

Mit einer durchaus spektakulären Medaille und einem Langarm-Finishershirt bewaffnet trete ich schließlich den geordneten Rückzug zur heißen Dusche an. Dieser leider nur kurze Laufauflug war mal wieder so ganz nach meinem Geschmack.

 

Streckenbeschreibung:

Rundkurs, zur Hälfte an der atemberaubend schönen Steilküste, zur anderen Hälfte im Landesinneren inkl. 416 Höhenmeter. Offizielles Zeitlimit 6:00 Std., gewertet wurde auch noch nach 7:30 Std., der HM noch nach über 4 Std.


Startgebühr:

75 € plus 7% Gebühr.

 

Weitere Veranstaltungen:

Halbmarathon auf der ersten Hälfte des Marathonkurses.

 

Streckenversorgung:

Wasserstationen etwa jede dritte Meile, Vollversorgung an Meilen 9 und 21.

 

Auszeichnung:

Medaille. Gravurmöglichkeit gegen Bezahlung.

 

Leistungen/Logistik:

Langarm-Funktionsshirt (für Marathonläufer in der Startgebühr enthalten)

 

Zuschauer:

Innerorts durchaus ordentlich.

 


 
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