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"Der schönste Marathon der Welt"

11.09.04
Quelle: Bernhard Kern

In Interlaken, für Ausdauersportler das «New York der Alpen», fiel am 11. September zum Auftakt der Herbst-Marathonsaison der Startschuss zum Jungfrau-Marathon. Nach 42 ,195 Kilometern und 1829 Höhenmetern Anstieg endet er auf der Kleinen Scheidegg unter dem Dreigestirn von Eiger, Mönch und Jungfrau. Im Oktober folgen die großen Marathons von München, Berlin und Frankfurt und den Abschluss bildet im November der legendäre New-York-Marathon, das wahre Mekka der Jünger Spiridons.

 

Beim Jungfrau-Marathon sucht man vergebens nach dem bunten Durcheinander von schlanken und fülligen Zeitgenossen, welches sonst üblicherweise die Marathon-Folklore bildet und sich erst nach dem Startschuss allmählich auflöst: «Vorne laufen die Bleistifte.» Hagere Körper prägen hier das Bild, und in der Tat haben die meisten Teilnehmer schon zahlreiche Ausdauerschlachten geschlagen. T-Shirts von Ultra-Langläufen aus aller Welt werden wie bei einem Veteranentreffen zur Schau getragen und künden von überstandenen Strapazen, welche die Vorstellungskraft eines Gelegenheitsjoggers weit übersteigen: Da wurden 78 Kilometer beim Swiss Alpin Marathon in Davos mit über 2100 Höhenmetern bewältigt, in Biel der Nachtschlaf durch einen 100 km-Lauf ersetzt oder beim Marathon des Sables 240 Kilometer lang unter sengender Sahara-Sonne dem Delirium getrotzt. Auf die Frage, ob er schon an einem Stadtmarathon teilgenommen habe, lächelt mich ein 63-jähriger Frankfurter mitleidig an und bedeutet mir, dass ihm ein solch banaler Flachparcours die ersehnten Qualen vorenthalte und er deshalb normalerweise den Triathlon bevorzuge. Dass er sich zum Jungfrau-Marathon herablässt, lässt die hier lockende Selbstkasteiung erahnen.

 

Die erlesene Schar der Flagellanten ist international. Aus allen Kontinenten sind Ausdauersportler angereist, wobei die Deutschen mit mehr als 800 Teilnehmern traditionell das größte Kontingent stellen; selbst aus den USA sind mehr als zwei Dutzend Läufer eingeflogen. Eine 4000-köpfige Meute fiebert vor dem mondänen Grand Hotel Victoria-Jungfrau dem Startschuss entgegen. Noch mehr Läufer verkraftet der Marathon aufgrund der begrenzten Rücktransportkapazitäten der Wengernalpbahn nicht, und so werden die limitierten Startplätze ein halbes Jahr vorher verlost. Tausende von abgewiesenen Läufern müssen sich mit der Hoffnung auf den 10. September 2005 vertrösten. Dann nämlich fällt der Startschuss für den nächsten Jungfrau-Marathon.

 

Dass ein Teil der abgewiesenen Bewerber sich gegen eine Schutzgebühr von 10 Franken in den Kellerkatakomben des Casino-Kursaals auspeitschen lässt, um auf diese Weise wenigstens einen kleinen Ersatz für die entgangenen Qualen zu erhalten, ist ebenso unwahr wie die verbreitete Annahme, bei Marathonläufern handle es sich um eine geistig minderbemittelte Spezies. Studien haben das Gegenteil ergeben und so verwundert es nicht, dass mittlerweile Firmen bei ihren Führungskräften in wachsendem Maße auf Bewerber mit Marathon-Erfahrung setzen, signalisieren doch diese Soft Skills in höchstem Maße die Bereitschaft, auch unter großen Entbehrungen eine schwierige Aufgabe zu meistern.

 

Interlaken liegt im fahlen Morgenlicht, die Jungfrau verbirgt ihr Antlitz hinter einer pechschwarzen Wolke und ein heftiger Platzregen scheucht die 4000-köpfige Marathon-Meute nochmals zurück in die Unterstände. Doch pünktlich zum Start zeigt sich der Himmel einsichtig, und das Abenteuer Marathon nimmt seinen Lauf, zuerst in einer flachen Runde durch die Stadt und anschließend in einer weiteren touristischen Schleife am Brienzer See vorbei zum Lauterbrunnental. Die dampfende Lütschine übertönt das Keuchen der Läufer und hinten in Lauterbrunnen säumt die nahezu vollständig angetretene Gemeinde den Streckenrand, um ihre Helden zu begrüßen: «You are all winners!» Andere Transparente mit schwyzzerdütschen Parolen verbergen dem Sprachunkundigen ihre Botschaft. Ohrenbetäubende Guggemusik treibt die Läufer durch den Ort, welchen Goethe seinerzeit mit der Kutsche erreichte.

 

Um insgesamt auf die Marathondistanz zu kommen, drehen die Läufer noch eine Ehrenrunde hinein in das steile Trogtal, vorbei am Fuß des 300 Meter hohen Staubbachfalles. Der deutsche Dichterfürst gönnte sich anlässlich seines Geburtstages einen Spaziergang zu diesem Naturwunder. Sein «Gesang der Götter über den Wassern» geht unter im Lärm der Kuhglocken, welche die Einheimischen schwingen, um die Läufer anzuspornen. Noch steht diesen nämlich das Schlimmste bevor, wurden doch bisher erst 250 Höhenmeter seit Interlaken überwunden. Auf den nächsten 17 Kilometern sind weitere 1400 Höhenmeter zu meistern, und so stellt sich nach 26 Kilometern in Lauterbrunnen der Weg brutal auf. Nur noch die Elite überwindet die 400 Meter hohe «Wenger Wand» im Laufschritt, alle anderen schalten herunter auf Eilmarschtempo. Auch rund 200 Niederländer erleben Jahr für Jahr diese «Muur van Wengen» als ihr Fegefeuer. Dies nimmt kaum Wunder, wenn man sich vergegenwärtigt, dass einzig die heimischen Deiche bleiben, um sich für die Anstiege hier zu wappnen.


Von nun an werden am Streckenrand alle 250 Meter und nicht mehr wie im Tal alle Kilometer signalisiert. An den reichlich platzierten Verpflegungsständen werden Kraftriegel oder Bananen verschlungen, und je nach Vorlieben Becher mit Wasser, Bouillon oder Elektrolytgetränke geleert. Immer häufiger ertönen auch Schmerzlaute aus den Sanitätszelten, wo Masseure verhärtete Muskeln kneten und Krämpfe zu lösen versuchen. Im autofreien Dorf Wengen wird der Parcours flacher und das dichte Spalier der Zuschauer nötigt zum Laufschritt, obwohl die Waden mittlerweile zu Beton verhärtet sind. Immer noch sind 1000 Meter an Höhe zu erkämpfen. (Südkurier-Leser stellen sich am besten einen Lauf von St. Gallen auf den Säntis vor, um die Dimensionen des Jungfrau-Marathons und die damit verbundenen Torturen zu erahnen).

 

Spätestens auf der Wengeralp wird jedoch klar, warum Läufer diese Veranstaltung zur schönsten Marathonstrecke der Welt» kürten, denn im Angesicht der bizarren Gletscherwelt wachsen dem Körper neue Kräfte zu. Die Wengernalpbahn karrt die Zuschauer aus Wengen eine Etage höher und vereitelt so den Läufern ein Verweilen oder gar Entrinnen. Auf der grünen Almwiese lagert malerisch ein Alphorn-Ensemble zwischen sorgfältig ausgebreiteten Schweizerflaggen. Die Frage drängt sich auf, wie in den überfüllten Waggons die sperrigen Alphörner wieder talwärts geschafft werden.

 

Die Piste des Lauberhornskirennens wird gequert und später beginnt der extrem steile Anstieg über eine Seitenmoräne des Eigergletschers. Zum Laufschritt fehlt nun fast allen die Kraft, und während der Sieger nach 2:59 h das Ziel erreicht und längst geduscht hat, reihen sich Tausende von Läufern zu einer endlos anmutenden Perlenschnur aneinander. Eine zierliche Japanerin verneigt sich mit vor dem Gesicht gefalteten Händen vor jedem vorbeidefilierenden Läufer und flötet ihm ein aufmunterndes «kondizion!» zu. Immerhin ein knappes Dutzend ihrer Landsleute nehmen aktiv am Lauf teil, anstatt wie die Mehrheit aus dem Land der aufgehenden Sonne in den Eisgrotten des Jungfraujoches die Schweizer Naturwunder zu bestaunen.

 

Mitfühlende Wanderer haben eigene Getränkeflaschen bis hier hoch geschleppt und laben Bedürftige. In seiner letzten Phase gemahnt dieser Wettkampf an Passionsfestspiele. Endlich gerät das obere Ende der Moräne ins Blickfeld, wo ein Dudelsackbläser in zünftigem Schottenrock den höchsten Punkt der Strecke musikalisch würdigt. Der letzte Kilometer führt hinunter zur Kleinen Scheidegg und erlaubt dem geschundenen Körper im Laufschritt die Ziellinie zu überqueren und dem applaudierenden Publikum die Leichtigkeit des Laufens vorzugaukeln.

 

Fünf Stunden sind vorüber und noch immer ist weit mehr als die Hälfte der Teilnehmer auf der Strecke. Die letzten benötigen sechseinhalb Stunden, und nur erstaunlich wenige steigen unterwegs aus, ein weiterer Beweis, dass Marathon-Novizen diese Veranstaltung aus gutem Grunde meiden.

 

Mit einer silbernen Eigernordwand-Medaille um den Hals hinken oder wanken die erfolgreichen Athleten zum Lokschuppen, um ihr Gepäck abzuholen und dann unter einer heißen Dusche zum ersten Mal wieder nach Stunden die Wonnen des gewöhnlichen Lebens auszukosten.

 

Anschließend heißt es nur noch dem ausgedörrten Körper literweise Flüssigkeit zuzuführen und überwältigt das Naturwunder gegenüber anzustarren: Die Weiße Spinne hockt giftig in der düsteren Eigerwand, der Mönch zieht sich seine Wolkenkapuze übers Gesicht und die Jungfrau gleißt in reinem Licht. Wenn sich wenige Stunden später die Nacht herabsenkt, wird hier oben wieder die erhabene Ruhe der Berge einkehren – bis zum nächsten Jungfrau-Marathon.

 

Äthiopische Favoritensiege

 

Bei guten äusseren Bedingungen und traditionell grossem Publikumsaufmarsch setzten sich Tesfaye Eticha bei den Männern und Emebet Abosa bei den Frauen souverän durch. Beste Schweizer waren Marco Kaminski (8. Rang) und Carolina Reiber (4. Rang).

 

An der Spitze entwickelte sich ein schnelles Rennen, indem sich der Russe Serguej Kaledin, Sieger im Jahr 2000, auf der ersten Streckenhälfte mehrmals von der Spitzengruppe zu lösen versuchte. Kurz vor Lauterbrunnen konterten die beiden Äthiopier Tesfaye Eticha, Sieger 2002, und sein Trainingskollege Dissassa Dabessa die Attacken des Russen und passierten die Halbmarathonmarke mit 10 Sekunden Vorsprung. Mit 1:10 Minuten Rückstand folgte ein Trio mit dem Tschechen Jan Blaha, dem Äthiopier Fekadu Bekele und dem Engländer Billy Burns. Die besten Schweizer Bruno Heuberger und Marco Kaminski, fünfmaliger Sieger in den Neunzigerjahren, passierten Lauterbrunnen mit bereits 3:30 Minuten Rückstand.

 

Bei den Damen setzte sich von Beginn an die Äthiopierin Emebet Abosa, die letztjährige Siegerin, an die Spitze. Die zwischenzeitlich an zweiter Stelle laufende Schweizerin Chantal Dällenbach, Siegerin 2002, musste leider nach 15 Kilometern wegen Wadenproblemen aufgeben. Tsige Worku übernahm damit die Verfolgung von Emebet Abosa, mutete sich dabei aber ein bisschen zu viel zu und verlor im steilen Berggelände noch ein paar Ränge. Die Kräfte besser eingeteilt hatten sich die beiden Russinnen Svetlana Netchaeva, Siegerin 1999 und 2000, und Elena Kaledina, die im Ziel auf Rang zwei und drei einliefen. Carolina Reiber, die in zehn Teilnahmen zehnmal in die Top Ten lief, konnte sich auf der zweiten Streckenhälfte noch auf den vierten Rang verbessern. Bei den Herren spielte der sechsfache Sieger des Lausanne Marathon Tesfaye Eticha seine große Routine aus und blieb als einziger unter drei Stunden. Ihm am nächsten kam der mehrfache tschechische Marathonmeister Jan Blaha. Das Tempo nicht ganz durchstehen konnten Serguej Kaledin und Billy Burns, die an 5. resp. 7. Stelle im Ziel auf der Kleinen Scheidegg eintrafen.

 

Aus lokaler Sicht glänzte der Därliger Thomas Hürzeler mit dem 18. Schlussrang, bei den Damen liess sich seine Lebenspartnerin Karin Jaun als beste Oberländerin auf dem 19. Rang feiern.

 

Auch die 12. Austragung des Jungfrau-Marathons verlief einwandfrei, die Begeisterung bei Läufern, Publikum und Sponsoren war entsprechend gross. Zu verdanken haben wir das den 1200 Helferinnen und Helfern, deren wertvolle Dienste von einem 30-köpfigen OK hervorragend koordiniert werden. Ein herzliches Dankeschön allen Beteiligten und auf ein Neues am 9./10. September 2005!

 

Ergebnisse

 

Männer

1. Eticha Tesfaye 2:59.30,9
2. Blâha Jan 3:01.52,3
3. Bekele Fekadu 3:01.54,0

 

Frauen

1. Abosa Emebet 3:23.11,4
2. Netchaeva Svetlana 3:28.55,6
3. Kaledina Elena 3:30.54,9

 

3811 Finisher insgesamt

 

Informationen: Jungfrau-Marathon
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