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Laufberichte

Welt unter der Welt

04.12.10

Ich hörte Stimmen. Nicht solche, bei welchen der Besuch eines Facharztes angezeigt wäre. Aber die Stimmen, die ich hörte, meinten auch, bei mir stimme etwas nicht.

Als ich vor einem Jahrzehnt meine Absicht bekanntgab, einen Marathon laufen zu wollen, meinten diese Stimmen noch, dass beim Eintritt in die Lebensphase der potentiellen Midlife Crisis ein solches Vorhaben für einen Mann nicht ungewöhnlich sei. Als der nächste Marathon in die Berge führte, wurde das zwar mit Erstaunen quittiert aber als nicht abnorm taxiert. Auch als die Häufigkeit der Teilnahmen an solchen Laufveranstaltungen stieg, wurde diese Entwicklung mit Gelassenheit aufgenommen. Sogar die Steigerung auf Ultradistanzen und deren Verknüpfung mit Höhenmetern wurde weitgehend stoisch beobachtet. Mit der Ankündigung meines neusten Plans begab ich mich außerhalb der Norm.

„Spinnst du?“, fragten die Verfolger der Live-Berichterstattung über die Rettung der chilenischen Kumpels. Auf die Frage „Hast du sie noch alle?“ habe ich mit meinen bescheidenen mathematischen Fähigkeiten sicherheitshalber nochmals akribisch nachgezählt und fand keine Lücke in der Tassenreihe.

Was soll ich mich in der winterlichen marathonistischen Flautezeit mit unnötigem Entzug kasteien, wo es doch eine Möglichkeit gibt, mindestens zwei Fliegen auf einen Streich zu treffen? Die Bedingungen für die Antwort auf diese rhetorische Frage sind nicht ganze einfach, eröffnen dafür die Möglichkeit noch weitaus mehr Fliegen auf’s  Mal zu treffen als das tapfere Schneiderlein.

Erstes Hindernis ist die lange Anreise. Mit Daniel Sarvari  besprach ich mich deswegen schon am Gondo Event. Seine zweistündige Zugfahrt an die Nordgrenze plante er so, dass ich ihn gleich nach Arbeitsschluss  am Bahnhof abholen kann, von wo aus wir uns auf die Autobahn machen. 5 Stunden Fahrt stehen uns bevor. Zum Glück sind die Hauptverkehrsachsen im Gegensatz zum Eisenbahnnetz vom Schnee befreit. 

Das zweite Hindernis sind die ausgebuchten Unterkünfte. Dass in Sondershausen nichts mehr zu ergattern war, erstaunte mich nicht. Aber auch in Erfurt wären nur noch Nächtigungen zu Fantasiepreisen zu buchen gewesen. Deshalb führt uns die erste Etappe nach Weimar.

Nach einem Schlummertrunk, fünf Stunden Schlaf und einem reichhaltigen Frühstück stapfen wir in die Kälte hinaus und nehmen den letzten Teil der Anreise in Angriff. Ein schöner aber eisiger Tag kündigt sich an, doch ein Blick auf die Außentemperaturanzeige zeigt mir, dass ein Abstecher in die Erdwärme das richtige Vorhaben ist: Minus 19 Grad – bei solchen Temperaturen überlasse ich das Laufen in freier Natur arktischen Geschöpfen.

 

Ankunft und Einfahrt

 

 

Nach dem kurzen Fußmarsch vom Parkplatz auf dem Gelände des Erlebnisbergwerks zum Hauptgebäude frieren mir beinahe die Finger ab; ein Glück, darf ich mich in eine Höhle zurückziehen. Wie gemütlich es darin sein wird, wird sich noch weisen. Die klammen Finger bremsen mich bei der Startnummernausgabe nicht, denn der Transponder wird mir sogar über das Handgelenk gestreift.

In der außergewöhnlichsten Garderobe aller  Marathonveranstaltungen nehme ich die akribisch geplante Umziehaktion vor. Kurze Laufbekleidung, wie wenn ich im Sommer an den Start gehe, darüber schützende Schichten, die bis zum Erreichen der Strecke die Betriebstemperatur beibehalten helfen und beim Ausfahren einen erneuten Kälteschock abwehren. Dazu ein neues Laufaccessoire, ein Fahrradhelm. Dann gilt es ernst.

Dicken Raupen gleich streben die in Daunenjacken und sonstige gegen das Ungemach von tiefen Minustemperaturen schützende Hüllen gewandeten Teilnehmer an der Statue der Heiligen Barbara vorbei den Förderkörben zu. Wie bei einer Massenverpuppung steigen sie in die zweistöckigen Transportbehältnisse und verpuppen sich dort drin hinter dicken Plastikplanen. Aus Insekten werden Sardinen, mit dem Unterschied, dass die Fische in der Dose in der Regel kein Gepäck mitführen. Nach vier Minuten leisen Ratterns in dem von einem Deckenlicht  erleuchteten Kokon öffnen sich 700 Meter unter der Erde die Umhüllungen und geben die Entschlüpfenden frei. Ein buntes Völklein ergießt sich da in das unterirdische Gewölbe. Wie bei solchen Anlässen üblich, ist auch manch ein Paradiesvogel darunter. Der letzten warmen Haut entledigt sich niemand unmittelbar, denn der Thüringer Frost kriecht durch den Förderschacht bis in diese Tiefe.

 

In der Tiefe - Bis zum Start

 

 

Ein Stück vom Förderschacht entfernt ist es angenehme 24 Grad und trocken, sehr trocken sogar. Aber das Wetter ist schlecht: Im Vorfeld des Marathons hat der Veranstalter den Teilnehmern in einer Mail mitgeteilt, dass es Einschränkungen bei der Befahrung des Schachtes durch Besucher gibt. Aus Sicherheitsgründen ist ein Befahren des Westfeldes der Grube mit Besuchern untersagt. Grund ist die Vermutung über mögliche Gasbildungen. Die Durchführung des Marathons erfolgt aus diesem Grund auf einer etwas geänderten Strecke.  Wir belaufen nur den vorderen Teil des geplanten 10,5km Rundkurses. Die nunmehr zu laufende Runde misst exakt 5,27 km. Mal acht gibt das die Marathondistanz. Rein mathematisch (und mit der mir zugestandenen mathematischen Unschärfe von 35 Metern)gesehen. Q.e.d. – quod erat demonstrandum. Es wird sich zeigen, ob die Mathematik auch so tief unter und in der Erde ihre Gültigkeit bewahrt.

Juristisch gesehen stellt diese Entscheidung eine höhere Gewalt dar. Ich kann aber nicht glauben, dass jemand  wegen dieser Streckenänderung nicht antreten und das Startgeld zurückfordern will.  Am Erlebnis selbst, in einer Welt unter der Welt einen Marathon zu laufen, ändert sich nichts. Und über der Erde kann das Wetter die Charakteristik eines Laufes noch weitaus mehr beeinflussen.
Philosophisch gesehen stellt sich aber doch die Frage, ob es höhere Gewalt ist. Ist es nicht tiefere Gewalt?

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Informationen: Untertage-Marathon
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