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Laufberichte

Eine Frage des Willens

31.08.08

Wer ist stärker? Kopf oder Körper? Willenskraft oder Muskelkraft? Kann der Körper den Geist bezwingen oder umgekehrt? Ist für diesen Lauf eher die physische oder doch die mentale Komponente Erfolgs entscheidend?

Wer schon einmal am UTMB teilgenommen hat, der weiß, dass einem bei diesem Lauf sowohl mental als auch körperlich alles abverlangt wird. Und jedes Jahr wird das Streckenprofil geschärft; es kommen ein paar Kilometer und Höhenmeter hinzu. Allein die Fakten in diesem Jahr riefen wieder eine große Portion Respekt in mir hervor: 166 Kilometer mit 9.400 Höhenmeter über zehn Bergpässe galt es innerhalb von 46 Stunden zu bewältigen.

Nach monatelanger Vorbereitung körperlicher, mentaler wie auch organisatorischer Art war endlich der 29. August 2008 da. Es konnte losgehen. Wie im vergangenen Jahr bescherte uns der Wettergott sommerlichen Temperaturen, die über das gesamte Wochenende anhalten sollten. Schon um 17 Uhr, 90 Minuten vor dem Start, herrschte Volksfeststimmung am Triangle de l’Amitie.. Läufer aus 51 Nationen waren gekommen, um sich dieser gewaltigen Herausforderung zu stellen. Der Platz füllte sich. Das Gedränge nahm zu. Auf eine Ansprache folgte die nächste. Die Zeit verging nur unendlich langsam. Dann endlich erklang Conquest of Paradise, die Hymne des Laufes. Mein Herz schlug schneller! Die Luft war zum Zerreißen gespannt! Um 18:30 Uhr fiel dann endlich der Startschuss zur 6. Ausgabe des Ultra-Trail du Mont-Blanc.

Die ersten Meter liefen, wegen dem dicht gedrängten Läuferfeld, etwas holprig. Bis Les Houches, bei Kilometer 8, verlief die Strecke relativ eben und diente als Warm-Up für spätere Herausforderungen. Auch die ersten 800 Höhenmeter bis zum La Charme waren gut zu bewältigen. Kaum oben auf dem Berg angekommen, brach schon die Dunkelheit herein. Der nun folgende Abstieg von gut 1.800 auf 800 Meter nach Saint-Gervais war eine erste Kostprobe, wie steil es beim UTMB zugeht. Über Wiesen-, Wald- und Forstwege ging es hinunter in die französische Gemeinde der Savoier Alpen. Am Verpflegungspunkt füllte ich zunächst meine Trinkblase auf, trank einen Becher Tee, schnappte mir ein paar Riegel und lief gleich weiter. Meine Taktik aus dem vergangenen Jahr, an den meisten Verpflegungsstationen nur kurze Pausen einzulegen, wollte ich auch in diesem Jahr durchziehen.

Das nächste Teilziel hieß Les Contamines bei Kilometer 31. Die Strecke dorthin führte überwiegend durch den Wald und hatte keine nennenswerte An- und Abstiege. Nach 5:15 Stunden erreichte ich, 1 Stunde vor dem Zeitlimit, die Kontroll- und Verpflegungsstation Les Contamines. Ich genoss bei diesem Lauf auch diesem Mal die Ruhe und Natur entlang der Strecke. Doch genauso bereichernd und als gelungene Abwechslung empfinde ich die tolle Atmosphäre an den Verpflegungspunkten. Nicht nur die Läufer, auch die Menschen hier in der Region haben sich voll und ganz mit dem UTMB identifiziert. Das merkt man an der bombastischen Stimmung und fürsorglichen Unterstützung, die einem als Läufer auf der gesamten Strecke entgegengebracht wird.

Die nächsten knapp 8 Kilometer ging es bis zur Station La Balme, die man schon von weitem wegen dem großen Feuer erkennen konnte. Auch hier folgte nur ein „kurzer Boxenstopp“. Gut gestärkt nahm ich den steilen Anstieg zum Col du Bonhomme in Angriff. Mich faszinierten die vielen Lichter der Läufer am Berg. Wie Glühwürmchen, die sich den Berg hoch schlängeln. Einerseits ist es faszinierend, andererseits auch erschauernd, weil man sieht, welche Strecke man noch vor sich hat. Manchmal weiß man nicht, ob die Lichter dort die Läufer am Berg sind oder doch schon die Sterne am Himmel, so steil geht es hoch.

Am Croix du Bonhomme, auf 2.479 Meter, folgte für mich der schwierigste Teil der gesamten ersten Streckenhälfte: der Abstieg nach Les Chapieux. Knapp 1.000 Meter auf nur 5,9 Kilometer bergab! Rutschige Felsen, schlammige Pfade, feuchte Wiesen und immer wieder überraschende Furchen ließen den Abstieg zu einem echten Abenteuer werden. Ich war froh, gesund und munter den Verpflegungspunkt Les Chapieux bei Kilometer 50 zu erreichen. Die Uhr zeigte 4:45 Uhr; ich hatte 90 Minuten auf das Zeitlimit.

Dort füllte ich nur wieder meine Trinkblase auf, nahm ein paar Becher Tee und ein bisschen Salami und Käse zu mir und verließ gleich wieder den Verpflegungspunkt. Ich fühlte mich gut. Der nun folgende Aufstieg zum Col de la Seigne, mit 2.516 Meter der zweithöchste Berg des Laufes, begann ganz moderat auf einer breiten Teerstraße. Erst nach gut vier Kilometern liefen wir auf einen Wanderweg, der immer steiler wurde. Psychologisch wichtig für mich war die Tatsache, dass es ganz langsam wieder hell wurde. Ich fühlte mich prächtig. In einem flüssigen Gehtempo machte ich Meter für Meter gut. Doch ich wusste aus dem Vorjahr, dass die Schwierigkeit dieses Bergs nicht so sehr der steile Anstieg ist, sondern vielmehr die Länge des Bergauflaufens. Der Anstieg wollte einfach kein Ende nehmen. Erst als ich das gelbe Expetitionszelt von The North Face sah, wusste ich, dass der Gipfel bald erreicht war.

Der folgende Streckenabschnitt bis Lac Combal (Kilometer 65) war relativ angenehm zu laufen. Danach ging es auf einem breiten, ebenen Weg weiter, bis der Anstieg zum Arete Mont Favre auf uns Läufer wartete. Knapp 500 Höhenmeter auf 2,5 Kilometer. Einer der leichteren Berge des UTMB. Das folgende Bergablaufen nach Courmayeur empfand ich als Gift für meine Oberschenkel! Der Abstieg war zwar technisch gut zu laufen, aber steil, sehr steil ging es die Skipiste herunter. Um 11 Uhr erreichte ich, nach 78 Kilometern, Courmayeur. Ich hatte ganze zwei Stunden Polster auf das Zeitlimit. Trotzdem sah mein Plan nur 30 Minuten Pause vor.

Courmayeur, die Stadt im Aosta Tal, war die erste von zwei Stationen, an denen man Kleiderbeutel deponieren konnte. Außerdem wurden Schlaf- und Massagemöglichkeiten für die Läufer angeboten. Nicht unerwähnt darf das sensationelle Läufer-Buffet bleiben, das an Vielfalt nur schwer zu übertreffen ist. Bouillon, Nudeln, Wurst, Käse, Obst, Schokolade, Bier… - für jeden Geschmack war etwas dabei.

Nachdem ich mich umgezogen und reichlich gestärkt hatte, begab ich mich um 11:30 Uhr wieder auf die Strecke. Überraschend traf ich vor der Halle meinen Lauffreund Bernie, der sich leider den Fuß verdreht hatte und aufgeben musste. Doch anstatt sich hängen zu lassen, sprach er mir ein paar motivierende Worte für die zweite Streckenhälfte zu. Was für ein Sportsgeist! Wie schon im Vorjahr wurde es immer wärmer. Die Sonne stand fast im Zenit. Dies bekam ich beim Anstieg zum Refuge Bertone zu spüren. Mein Wasservorrat neigte sich schneller als gedacht dem Ende entgegen. Ich war erleichtert, als ich den 4,6 Kilometer langen Anstieg mit seinen 800 Höhenmetern bewältigte und die Verpflegungsstation erreichte. Wie selbstverständlich fragte mich ein Betreuer, ob er meine Trinkblase auffüllen könne. Diese Hilfsbereitschaft war typisch für das gesamte Rennen. Der unermüdliche Einsatz und das außergewöhnliche Engagement der Helfer rund um die Uhr über zwei Tage und zwei Nächte konnte man gar nicht genug würdigen!

Den nun folgenden Höhenweg bis Arnuva legte ich abwechselnd im Lauf- und Gehtempo zurück. Doch als ich endlich um 16:15 Uhr Arnuva erreichte, verspürte ich einen starken Schmerz am rechten Fuß. Meine Sehnenentzündung, die mich beim Swiss Jura zum Aufgaben zwang, kam wieder zum Vorschein. Und ich hatte noch 72 Kilometer bis Chamonix zu laufen. Ich redete mir positiv zu und versuchte mich durch die landschaftlich reizvolle Umgebung abzulenken. Ich musste weiter. Als nächstes wartete der Grand Col Ferret auf mich. Dieser Berg ist, aufgrund der positiven Erfahrungen der letzten zwei Jahre, einer meiner Lieblingsberge des UTMB. Man konnte ihn in einem gleichmäßigen Tempo laufen bzw. gehen. Dabei waren immerhin 4 Kilometer und 800 Höhenmeter bis zum höchsten Punkt des gesamten Laufs zu überwinden.

Ohne zu rasten und den traumhaft schönen Ausblick zu genießen, ging ich gleich den Abstieg an. Die ersten Meter waren noch gut zu laufen. Aber was kam denn nach der Station La Peule? Meine Erwartung, länger auf einer asphaltierten Strasse und am Flussbett entlang zu laufen wie im Vorjahr, wurde enttäuscht. Der Veranstalter hatte die Streckenführung etwas abgeändert. Nun durfte man die Meter bergab auf einem technisch sehr viel anspruchsvolleren Trailpfad zurücklegen.

Ich war froh, als ich den Verpflegungsposten La Fouly bei Kilometer 108 erreichte. Den Fehler aus dem vergangenen Jahr, als ich hier zu wenig Verpflegung mit auf die Strecke nahm, wiederholte ich nicht. Ich packte meinen Rucksack voll mit Riegel, Keksen und dergleichen. Nach und nach dämmerte es. Die zweite Nacht brach herein. Doch außer meinem „kleinen Wehwehchen“ am rechten Fuß fühlte ich mich gut. Die Vorfreude auf das nächste Teilziel Champex-lac ließen die folgenden Stunden relativ schnell vorübergehen. Um Mitternacht erreichte ich die idyllische Stadt im Schweizer Wallis. Jetzt war ich schon fast 30 Stunden nonstop unterwegs.

Wie vorher geplant, legte ich im Zelt eine Schlafpause von 30 Minuten ein. Diese Ruhephase war goldwert. Ich hatte im weiteren Rennverlauf kein einziges Mal mit meiner Müdigkeit zu kämpfen. Bevor ich Champex wieder verließ, genehmigte ich mir noch zwei Teller von den leckeren Nudeln. Auch von den feinen Wurst- und Käsehäppchen bediente ich mich noch reichhaltig. Ich wusste ja, was gleich auf mich zukommen würde.

Doch bis ich mich mit dem berühmt-berüchtigten Bovine messen durfte, mussten wir erstmal ein paar Kilometer durch den Wald laufen. Und diese zogen sich gewaltig. Mir kam es vor, als ob auch hier der Streckenverlauf ein wenig verändert wurde. Ich schloss mich einer vierköpfigen französischen Gruppe an. Dann endlich ging es links ab zum Bovine. Wenn man weiß, was einen erwartet und sich entsprechend darauf einstellen kann, empfindet man selbst solch einen Mörderberg wie den Bovine gar nicht so schlimm. Meter für Meter bzw. Fels für Fels bewältigte ich diesen steilen Anstieg. Der Aufstieg bereitete mir teilweise sogar regelrechte Freude, da ich dabei meine Stärken ausspielen konnte. Außerdem machte mir beim Bergauflaufen meine Sehnenentzündung nicht zu schaffen.

Das änderte sich allerdings auf dem folgenden Teilstück, dem Abstieg nach Trient. Bergablaufen bei Nacht kann schon grausam sein. Wenn aber noch eine Verletzung dazukommt, wird das Laufen bzw. Gehen zur Qual. Meter um Meter bewegte ich mich durch den Wald, meistens humpelnd über Wurzeln und Geröll den Weg hinunter. Ich hoffte bei jeder Lichtung, dass die Lichter von Trient näher kamen. Minuten kamen mir wie Stunden vor. Jeder Schritt schmerzte. Dann die letzten steilen Serpentinen. Um 6 Uhr erreichte ich schließlich Trient.

Es wurde wieder hell. Zwei Nächte hatte ich heil überstanden. Auch die Gewissheit, schon acht Berge und 138 Kilometer bewältigt zu haben, beflügelte mich. Den Anstieg zum Catogne legte ich zügig zurück. Die verloren gegangenen Plätze vom Bergablaufen konnte ich zumindest teilweise wieder gut machen. Wenn ich eine Wahl gehabt hätte, wäre ich auch zum nächsten Verpflegungspunkt nach Vallorcine lieber bergauf- als bergab gelaufen. So humpelte ich mehr oder weniger die Serpentinen und den breiten Forstweg hinunter nach Vallorcine. Ab und zu versuchte ich ein paar Meter zu laufen, was ich nach kurzer Zeit wieder einstellte.

Vallorcine - 149 Kilometer waren geschafft. Jetzt folgten „nur“ noch 17 Kilometer bis zum Ziel nach Chamonix. Im vergangenen Jahr bedeuteten diese 17 Kilometer überwiegend angenehmes Laufen auf nahezu flachem Terrain. Doch der UTMB würde seinem Namen nicht gerecht werden, wenn er diese Strecke auch in diesem Jahr wieder anbieten würde. Also haben die Veranstalter, als letztes Bonbon für die Läufer, einen weiteren Berg in den Parcours aufgenommen. Und was für einen Berg!! Die ersten Meter konnte man gut bewältigen. Die Tatsache, dass es nun der allerletzte Berg des Rennens sein wird, ließ meine Motivation und mein Tempo nochmals steigern. Doch jedes Mal, wenn man sich dem vermeintlichen Gipfel näherte, wurde man enttäuscht. Es ging noch weiter. Weiter über Stock und Stein, im wahrsten Sinne des Wortes. Es wurde zwar flacher, aber dafür technisch anspruchsvoller, was die Wegebeschaffenheit anbelangte. Felsen und Geröll begleiteten einen auf den nächsten Kilometern. Die Zeit verging nur sehr, sehr langsam. La Flegere wollte einfach nicht kommen! Dann endlich sah ich den Verpflegungspunkt, der letzte vor dem Ziel.


Jetzt waren es nur noch gute acht Kilometer bis Chamonix. Diese lief ich fast wie in Trance. Und vor allem legte ich sie laufend zurück. Der Schmerz am rechten Fuß, der mich die vergangenen 70 Kilometer beeinträchtigte, schien wie weggeflogen. Ich überholte jetzt sogar beim Bergablaufen. Dann waren es nur noch zwei Kilometer! Ich ließ das Ortsschild von Chamonix hinter mir. Überall Menschen, die einen anfeuerten und Deinen Namen riefen. Allez! Allez! Glücksgefühle durchströmten meinen ganzen Körper. Jeder Meter war jetzt ein einziger Genuss zu laufen. Die letzten Meter. Dann das Ziel.

Nach 44 Stunden und 24 Minuten stoppte ich meine Uhr. Ich hatte es wieder geschafft! Mit Worten kann ich nicht beschreiben, was in mir vorging. Tränen liefen mir über die Wangen. Ich freute mich riesig, meine Freundin und meine Lauffreunde wieder zu sehen. Wenn ich könnte, würde ich einfach die Zeit anhalten. Ich setzte mich auf die Stufen am Triangle de l’Amitie und genoss dieses unbeschreibliche Glücksgefühl in vollen Zügen.

Wenn für mich noch ein letzter Beweis notwendig gewesen wäre, dass man mit einem unbändigen Willen beinahe jedes Ziel erreichen kann, dann war es dieser Lauf. Der Ultra-Trail du Mont-Blanc, eine Frage des Willens.

 

Informationen: Ultra Trail du Mont Blanc (UTMB)
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