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Laufberichte

Der bisher Härteste

26.07.14

Dass ich häufig stehen bleibe und die Umgebung in alle Richtungen nach der nächsten Markierung absuchen muss, hält noch mehr auf. Nirgends etwas zu erkennen! Mist! Muss ich nun geradeaus, rechts absteigen oder links hinauf kraxeln? Endlich erkenne ich 20 m vor mir einen grünen Punkt auf einem Stein. Ohne diese zusätzlichen Punkte der Streckenmarkierer wäre der Weg hier oben bei Nebel katastrophal, denn die rot-weißen Wanderwegmarkierungen verdienen höchstens das Prädikat „gefährlich mangelhaft“. Dank der zusätzlichen grünen Punkte und vereinzelt auch Stöcken mit Flatterband, braucht man zwar Geduld und gute Nerven, findet aber immer die richtige Route. 

Insgesamt nehmen die Blockfelder nur einen geringen Prozentsatz der Strecke ein, aber für mich prägen sie diesen Lauf.  Zu gerne würde ich sehen, wie hier die Profis laufen.

Einesteils ist dies ein spannendes Abenteuer, wie ich es so bei einem Wettkampf noch nie erlebt habe, andererseits ist mir dies im Moment völlig egal. Bei schönem Wetter wäre ich vermutlich begeistern, doch durchgefroren und mit klammen Fingern will ich nur noch möglichst schnell die warme Hütte erreichen.

Natürlich ist vieles rein subjektives Empfinden. Hätte ich meine wasserfesten SealSkinz Handschuhe mitgenommen, würden meine Fingerkuppen nicht sogar noch 9 Tage nach dem Lauf schmerzen. Aber die SealSkinz sind für die angekündigte Temperatur von 8 C zu warm, daher habe ich darauf verzichtet, ebenso auf eine zusätzliche warme Merino-Zwischenschicht. Mit idealer Bekleidung hätte mir das Ganze vermutlich sogar trotz Nebel und Regen Spaß gemacht. Objektiv ist aber meine Aussage, dass dies bei den aktuellen Verhältnissen die technisch mit Abstand anspruchsvollste Strecke ist, die ich bisher gelaufen bin. 

Meine Finger sind inzwischen so klamm, dass ich es nur noch mit viel Mühe schaffe, die Kamera aus der Seitentasche des Rucksacks zu holen. Den Reißverschluss der Kamerahülle zu öffnen, ist dann schwere Fummelei. Mit den schlammverschmierten Fingern verschmutze ich das Objektiv. Der kleine Druckschalter der Kamera und der Auslöser reagieren auf meine hartgefrorenen Finger kaum noch. 

Da ich die Finger auch nicht mehr richtig krümmen kann, muss ich die Stöcke nun nur mit der Handbeuge halten. Zum ersten Mal im Leben habe ich am nächsten Tag Muskelkater in den Händen. 

Damit die Spannung weiter steigt, liegen nun auch ein paar kleine Schneefelder auf der Strecke. Ab und zu stecke ich Finger in den Mund, um sie wenigstens auf diese Weise aufzuwärmen. Verrückt - da es regnet und nicht schneit, muss die Temperatur ja über dem Gefrierpunkt liegen. Wieso frieren dann bald die Finger ab? 

Immer, wenn ich einen kurzen Moment stehen bleibe, fange ich zu schlottern an. Gar nicht gut! Mehr als die Leistungen von jedem Läufer bewundere ich an solchen Tagen die Leute von der Bergwacht, die auch heute wieder an zahlreichen kritischen Punkten entlang der Strecke in Wind, Regen und Kälte ausharren und auf uns aufpassen. Wir sind wenigstens in Bewegung, aber bei dieser Witterung stundenlang auf einem Grat zu stehen und auf verrückte Läufer zu warten, verdient meine allergrößte Hochachtung.

Auf und ab, auf und ab…. ich komme mir vor wie in einer Zeitschleife  á la „Und täglich grüßt das Murmeltier“. Nur verdammt viel kälter. Jetzt müssten wir doch die Hütte erreichen!  Endlich sehe ich einen Wegweiser. Den Trail rechts hinab zur Cabane Vélan muss ich später absteigen, vorher geht es aber zuerst links hinauf zur Cabane Valsorey. Auf diesem kurzen Wendepunkt-Abschnitt kommen mir mehrere Läufer entgegen. Gleich geschafft! Endlich aufwärmen! 

Doch was ist das? Vor mir liegt ein sehr steiles Schneefeld, das man nur bewältigen kann, wenn man sich an dem angebrachten Seil hinauf hangelt. Der Untergrund bietet keinerlei Halt für die Füße, hier kommt man wirklich nur mit der Kraft der Hände und Arme voran. Endlich oben! Mit 3030 m habe ich bei der Cabane Valsorey den höchsten Punkt erreicht. Welch ein Glück, dass die Verpflegungsstelle drinnen im Warmen ist!

Ich weiß nicht mehr, ob es nur 15 oder sogar mehr als 20 Minuten sind, die ich hier sitze, Suppe trinke und versuche, mit dem Zittern aufzuhören. Allmählich kehrt Leben in meine Finger zurück und ich kann wieder aufbrechen. 

Rückblickend kann ich sagen, dass diese Pause goldrichtig war, denn ab diesem Moment habe wieder richtig Spaß.

Abwärts gefällt mir das Hangeln am Seil noch weniger als bergauf. Statt in halbwegs normalem Stil abzuseilen, ziehe ich mit meinem Körper eine Furche durch den Schnee, was mich natürlich gleich wieder auskühlt. Gerade als ich das untere Ende des Seiles erreiche, kommt mir Hendrik entgegen. Ich sage ihm, dass er in drei Minuten die Hütte erreichen wird und laufe jetzt so schnell es geht bergab. 

Wunder geschehen! Schon nach wenigen Minuten friere ich nicht mehr und fange an, den Abstieg zu genießen. Schade, dass man die gegenüber liegenden Gletscher nicht sieht! Aber das steile Bergablaufen bzw. - schlittern weckt meine vorübergehend lahmgelegten Lebensgeister. Knapp 700 Höhenmeter Abstieg bringen mich hinab zu Grands Plans auf 2374 m.  

Unterwegs gibt der Nebel zumindest den Blick zu den Bächen unter mir frei. Der erste Bach, den ich überqueren muss, sieht zuerst schwer passierbar aus, aber mit einem großen Sprung komme ich problemlos ans andere Ufer. Der zweite Bach ist schmal und eigentlich harmlos, aber am schrägen Ufer rutsche ich ab und stehe plötzlich mit einem Bein 20 cm tief im Wasser. Egal, nasser als seit Stunden können die Füße ohnehin nicht werden. Über den dritten Bach führt eine Brücke. Für kurze Zeit gibt der Nebel nun auch die Sicht auf den unteren Teil des Valsorey-Gletscher frei, der bei Sonnenschein schon seit Stunden in voller Länge zu sehen gewesen wäre.

Nun folgt der Aufstieg über den faszinierendsten Moränenkamm, auf dem ich jemals gelaufen bin. Hier war ich schon zwei Mal, und jedes Mal begeistert mich die auf beiden Seiten äußerst steil in die Tiefe abfallende Moräne erneut. Technisch ist der Pfad nicht besonders anspruchsvoll, aber man sollte schwindelfrei sein.

Das letzte Stück hinauf zur 2642 m hohen Cabane Velan ist wieder eine Wendepunktstrecke, auf der ich nicht nur zahlreichen Wanderern sondern auch einigen Läufern begegne. Die Verpflegungsstelle steht an einer sehr windigen Stelle im Freien. Zu kalt! Ich trinke ganz schnell einen Becher Suppe und eile sofort wieder bergab, bevor ich wieder zu frieren beginne. Der Tseudel-Gletscher bleibt heute im Nebel verborgen.

 Auf den letzten Kilometern geht es technisch nicht mehr allzu anspruchsvoll meist auf Trails etwa 1000 Höhenmeter bergab, eine reine Genusslauf-Strecke. Die Wolkendecke gibt immer mehr Berge um mich herum frei. Endlich sehe ich wieder etwas von der Umgebung. An einer Stelle müssen wir einen Bach überqueren, bei dem nach den starken Regenfällen alle Trittsteine überflutet sind. Auch hier steht ein Helfer und passt auf die Läufer auf. Ein wenig Wassertreten kurz vor Schluss schadet mir nichts. So wird wenigstens die Schlammpackung von den Schuhen gewaschen.

Froh und unbeschwert laufe ich bergab. Ich kenne den Weg und weiß, dass jetzt nur noch Laufgenuss kommt. Die paar etwas rutschigeren Schlamm-Passagen machen nichts mehr aus. Und  exakt in dem Augenblick, als ich am Ortsrand von Bourg St-Pierre das Dorf fotografiere, treffen mich die ersten Sonnenstrahlen des Tages.

Im Ziel bin ich fix und fertig! Sogar die Hose ist bis über die Knie schlammverschmiert, auch dem Rucksack sieht man an, dass ich ihn als Gleitfläche bei Bergrutschen benutzt habe. Ich hätte nie erwartet, dass ich trotz der Höhenmeter 12:04 Stunden für 45 Kilometer brauchen würde, aber dennoch bin ich nach dem heutigen Tag mit diesem Ergebnis recht zufrieden. Bei besseren Bedingungen hätte ich auf jeden Fall 60-90 Minuten eingespart. Wie es der Sieger geschafft hat, diese Hammerstrecke in 5:57 zu bewältigen, ist mir unverständlich. Aber Platz 75 von 88 Finishern bei 24 DNF ist für einen Lauf, den ich eigentlich als entspanntes Training eingeplant hatte, wirklich ok.

Auf dem Rückweg zum Bed & Breakfast nutze ich wie einige andere Läufer den Dorfbrunnen, um die Schuhe von den dicksten Schlammschichten zu befreien. Am Abend gehe ich dann wieder mit den anderen deutschen Startern ins Restaurant. Dabei fällt es mir ausgesprochen schwer, wach zu bleiben, was wirklich nicht an meinen Begleitern liegt. Das Abenteuer fordert Tribut. Doch egal, wie sehr ich gefroren habe und wie erschöpft ich jetzt bin - ich bin dankbar, auch so ein Abenteuer erleben zu dürfen. Keinen der geliebten Alpentrails würde ich gegen einen Stadtmarathon eintauschen. Ja, ich bin ein Trailrunner!

Zum Schluss zeige ich euch noch ein paar Bilder, die ich vor einigen Jahren bei Wandern bei der Cabane Col de Mille, dem folgenden Trailabschnitt, bei der Cabane Valsorey und der Cabane du Vélan aufgenommen hatte. 

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Informationen: Trail du Velan
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