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Laufberichte

Nichts ist unmöglich

26.02.12

Nichts ist unmöglich: Laufen durch Straßen, die keine Nummern und keine Namen tragen

 

Zweisprachige Straßenschilder gab es nicht immer. Verlaufen unmöglich. Immer nur der Masse nach und tun, was vorgeschrieben ist. An den vielen, schon von weitem erkennbaren Dixi-Toiletten haben sich Schlangen gebildet und jeder, der mal raus muss, reiht sich ordentlich hinten ein. Kaum eine andere Zwölf-Millionen-Einwohner-Metropole der Welt sieht so sauber und aufgeräumt aus wie Tokyo. Nirgendwo gibt es einen Baum oder einen Strauch, hinter dem man sich diskret verstecken könnte. Ich hoffe darauf, durchlaufen zu können. Noch funktionieren meine Beine ganz locker wie von selbst.

Kein Wunder, es geht leicht abwärts seit fast 5 Kilometern. Unsagbar viele Kirschbäume säumen den Straßenrand und ich versuche mir vorzustellen, sie stünden in voller Blüte. Zu spät für ein Foto sehe ich den Hochgeschwindigkeitszug, der auf einer Brücke über die Köpfe der Läufer schwebt. Hier treffe ich auch zum ersten Mal auf Kay, der neben der Laufstrecke versucht, Bilder zu machen und am Rande, so gut es eben geht, mitzulaufen.

In der Nähe befindet sich der Bahnhof Iidabashi. Das große Kanto-Erdbeben zerstörte auch den 1894 eröffneten Bahnhof, welcher 1928 neu aufgebaut wurde. Ich laufe im Strom von Füßen, ein Heer von Köpfen, eine Armada rudernder Arme und komme zu einer riesigen Parkanlage und dem Zuhause des Tennō. Ein verheerendes Feuer zerstörte 1873 das Hauptgebäude des Palastes. 1888 wurde ein neuer Gebäudekomplex geschaffen, der jedoch während des Zweiten Weltkriegs vernichtet und erst nach dem Krieg neu aufgebaut wurde. Das ganze Areal des kaiserlichen Hofes erstreckt sich über etwa 7,5 Quadratkilometer. Joggen rund um den Kaiserpalast boomt. Auch heute sehe ich Jogger auf der 5-Kilometer-Runde laufen. An deren Streckenrand befinden sich Toiletten, Brunnen und eine elektronische Zeitnahme und sogar Umkleidekabinen für die Büroangestellten, falls sie vor oder nach der Arbeit joggen wollen.

Für Marathonsammler hier noch ein Tipp: Jeden 1. Sonntag im Monat wird auf dieser Runde ein Marathon ausgetragen unter dem Motto: „Es ist nicht ein Wettlauf mit der Zeit aber für eine gute Zeit“. Leider habe ich niemanden getroffen, der mir diese Information bestätigen konnte und leider darf man den Palast nur zweimal im Jahr besuchen.  Am 2. Januar und am Geburtstag des Kaisers. Aber wer weiß, vielleicht läuft ja auch ein Mitglied der kaiserlichen Familie hinter dem gewaltigen Burggraben oder trinkt gerade gemütlich einen Tee im angrenzenden Teehaus?

Vor dem japanischen Kaiser bewohnte die Residenz der Shogun, der jedoch die Burg von Edo, das heutige Tokyo zugunsten des Kaisers im 19. Jahrhundert verlassen musste. Die japanische Monarchie ist die älteste ununterbrochene Erbmonarchie der Welt. Der momentan regierende Tennō, Akihito, ist der 125. Monarch der offiziellen Chronologie! Japan hatte auch weibliche Tennō, regierende Kaiserinnen. Diese waren aber nur eine „Übergangslösung“. Sie alle mussten abdanken, sobald ein angemessener männlicher Nachfolger der männlichen Linie zur Verfügung stand. Und heute? Heute sind die Frauen Japans Fußballweltmeisterinnen.

Die Nijubashi-Brücke am Koyo-Gaien-Platz bildet den Eingang zu den inneren Palastanlagen und ist von der Strecke aus zu sehen. Ganz Tokyo scheint heute auf den Beinen zu sein und die 10 Kilometer Läufer sind nun am Ziel. Die „Running Doctors“ beginnen hier ihren Dienst. Jede Lücke, die sich mir bietet nutze ich aus.

Nach der Zerstörung durch Erdbeben wurde die Infrastruktur der Stadt den Autos und Straßenbahnen angepasst. Daher entschloss sich die Stadtverwaltung dazu, breitere Straßen zu bauen. Die Straßen gehören heute den Läufern. Hier erinnert mich die Laufstrecke an die Außenalster in Hamburg. Na so was, im Shiba Park unterhalten uns Bauchtänzerinnen. Das nächste Highlight ist nicht weit entfernt: an der Verpflegung gibt es isotonische Getränke, Wasser und Bananen. Das weiß ich besonders zu schätzen, da Obst hier ein Luxusartikel ist. Die Straße, auf der ich laufe ist sauber. Kein kleben der Turnschuhe auf dem Asphalt, keine ausgedrückten Gelbeutel, keine Papierschnipsel. Jeder trinkt und wirft seinen Abfall in die vorgesehenen großen Kartons.

Nach etwa 12 Kilometern sehen wir den 1393 erbauten Zojoji Tempel mit einem angrenzenden Friedhof und der 15 Tonnen schweren Bronzeglocke, die zu Silvester 108-mal geläutet wird. Ebenfalls ist dort das nachgebaute Haupttor von dem es heißt: Wenn ein Mann durch dieses Tor schreitet, soll er Erlösung von drei Leiden finden: Gier, Hass und Dummheit. Man kann nur ahnen, welche Macht auf jenem Areal konzentriert war, ehe ein Golfabschlagsplatz und der Tokyo Tower erbaut wurden.

Die führende Gruppe der Elite-Männer sehe ich in die entgegengesetzte Richtung laufen. Kurz darauf passiert man den Sengakuji Tempel. 47 Samurai werden zum Tode verurteilt und hier beerdigt. Herr und Gefolgsleute Seite an Seite. Zuvor 1701, wird deren Herr, der Fürst Asano, wegen eines Streites, vom Höfling Kira zum Tode verurteilt. Die 47 herrenlosen Samurai rächen ihn, indem sie Kira den Kopf abschlagen. Die Ehre ist wieder hergestellt. Auf dem Tempelgelände steht noch heute der Brunnen in dem das Haupt gewaschen wurde. Diese Geschichte ist in Japan jedem bekannt. Während Deutschland schläft, ist die Open-Air-Party in vollem Gange. Ich bilde mir ein Jodelmusik zu hören.

 

Nichts ist unmöglich: Und  dann ist da plötzlich der Eiffelturm

 

Wie das Pariser Vorbild schaut der stählerne Riese aus, allerdings überragt er diesen um ganze acht Meter. Und wie der Eiffelturm ist der 70 Jahre jüngere und mit seiner knalligen rot-weißen Hülle Tokyo-Tower eine Touristenattraktion.

Bei Kilometer 15 ist man im Stadtbezirk Shinagawa angelangt und kurz darauf erreiche auch ich den Turning Point. An dieser Stelle befand sich während der Edo-Zeit die erste Poststation der Tōkaidō und die Poststationsfunktion setzt sich bis heute fort. Einige Universitäten und zahlreiche japanische Unternehmen haben hier ihren Unternehmenssitz.

Über 5 Kilometer kann ich nun in die Gesichter der mir entgegenkommenden Läufer schauen. Helle blasse Haut gilt als Schönheitsideal, somit liege ich voll im Trend. Kurzstreckenläufer im Businessstil. Gestern sahen wir sie noch junge dynamische Frauen im Career-Woman-Outfit, auf hohen Schuhen, mit Stil getragen. Schick und elegant und ebenso jung und dynamisch wirken auch die schlanken Männer in ihren schwarzen Anzügen mit modischen Krawatten auf weißen Hemden und gepflegten Lederschuhen. Alle sind dunkel gekleidet, Ton in Ton. Angepasst, nicht auffallend. Ältere oder alte Menschen finde ich keine. Ich frage mich sogar, gibt es überhaupt Rentner in Toyko?

Zurück auf die Laufstrecke: Heute kann ich mich gar nicht satt sehen an den Farben und Verkleidungen der Läufer. Seltsam, zwei Stunden unterwegs und der Schädel brummt noch nicht von all dem Treiben – ganz im Gegenteil. Ich bin gefangen von dem Gefühl, noch weitere 20 Kilometer laufen zu können.

 

Nichts ist unmöglich: Und dann ist da plötzlich die Fifth Avenue in New York

 

Gnädig zeigt sich die Sonne dann für einen kurzen Moment, gerade als wollte sie mir zeigen, welchen Unterschied ihr Licht auf den Fotos ausmacht. Kurz nach Erreichen der Halbmarathondistanz laufen ich in den eleganten Stadtteil Ginza, der Ende des 19. Jahrhunderts von zwei britischen Architekten nach Pariser Vorbild errichtet wurde. Tausende Turnschuhe überqueren diagonale Zebrastreifen, damit sich während der Rush-Hour die Menschenmassen nicht stauen. Ich bezweifele, dass irgendjemand dies unter seinen Füssen gerade wahrnimmt.

Auf der großen Einkaufsstraße entdeckt man fast nur teure und vor allem westliche Markengeschäfte. Das Kaufhaus Matsuzakaya war das Erste, das Kunden betreten durften, ohne vorher ihre Schuhe auszuziehen. Man kann alles finden, was es auch sonst wo auf der Welt zu kaufen und zu sehen gibt. Und, die Zukunft ist weiblich. Noch sind Frauen selten in Managerjobs, aber das wird sich bestimmt bald ändern. Auf einem Gebiet sind wir Frauen aber schon heute unbesiegbar: als Konsumentinnen! Und in Tokyo ist nichts leichter, als dem Kaufrausch zu verfallen.

Obwohl japanische Modeschöpfer wie Yamamoto und Issey Miyake internationalen Erfolg haben, zeigt sich an den Einkaufspalästen der Einfluss der westlichen Mode. Links Gucci, rechts Armani und fast jede modische Japanerin besitzt ein Teil von Louis Vuitton. Leider ist die Stadt nichts für Schnäppchenjägerinnen. Aie  gilt als eine der bedeutendsten in der Metropole Asiens und auch als teuerste. Nirgendwo sind die Immobilienpreise so hoch wie hier. Aber auch in einer anderen Wohngegend zahlt man für ein 20 qm-Apartment deutlich über 800 EURO. Abends verändert sich das Viertel mit den Millionen von Illuminationen der Leuchtschriften und Neonreklamen zur Fifth Avenue in New York.

Ich muss jetzt aber doch mal raus. Erschrocken stelle ich fest, dass ich mir das WC der Metrostation ausgesucht habe. Jeder Schritt auf den vielen Stufen nach unten schmerzt. Für gewisse Bedürfnisse braucht es  kein Englisch oder Japanisch, hier sind alle Zeichen gleich und so drückt eine Dame schon von weitem auf einen Knopf und die elektrische Tür öffnet sich.  Glück für mich, denn ich hätte den Sesam-öffne-dich Knopf nicht so schnell gefunden. Kurz genieße ich den Moment der Ruhe, dieses äußerst flüchtige Glück in der überfüllten Stadt. Die Stille wird durch blecherne, plätschernde laute Geräusche aus dem Toilettensitz jäh unterbrochen. Ich habe keine Toilette, sondern ein für Tokyo typisches Washlet erwischt. Auf diesem beheizten Thron ist jeder sein eigener Herrscher. Knöpfe wie ein Schaltbrett an der Toilettenbrille. Spüle hier und spüle da, anschließend noch trocken fönen, gleich hebt der Sitz ab. Mich erinnert dieser Ort mit seinem Sitzplatz eher an ein Krankenhaus und ich halte das warmfeuchte Ding für nicht sonderlich dekorativ in unserem Zuhause. Wieder am Tageslicht, weisen mir Helfer, nachdem sie kontrolliert haben, ob ich Besitzer einer Startnummer bin, den Weg zurück in die Läuferflut.

 
 

 
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