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Laufberichte

Nichts ist unmöglich

26.02.12

Fotos: Kay Spamer

 

Marathon in der größten Stadt der Welt

 

„Die Segel hängen in Fetzen, als das fremde Schiff steuerlos in den Hafen hineintreibt. Kaum wurde das ausgebleichte Holzschiff gesichtet, wird auch schon Alarm gegeben. Die letzten Überlebenden liegen hilflos und apathisch im eigenen Dreck. Skorbut und Tropenkrankheiten haben mehr als 70 Besatzungsmitglieder dahingerafft.

Sie hatten den Atlantischen und den Pazifischen Ozean überquert, antarktische und tropische Wirbelwinde überlebt. Wiliam Adams hatte es bis nach Japan geschafft und wir auch. Unmittelbar bevor das Flugzeug aufsetzt, weckt mich die Stimme der Stewardess die den Landeanflug auf  den Internationalen Flughafen Narita ankündigt. In meinen Händen halte ich Giles Miltons Roman „Samurai Wiliam“, der im Jahr 1600  in Japan gestrandet ist. Welches Abenteuer wird uns in Japan erwarten?

Es ist Tag. In meinem Körper ist es Nacht. Ich habe vergessen, wie viele Stunden mich von Zuhause trennen. Knapp 11 Stunden waren wir im Bauch des A380. Nun spuckt der Riese die über 500 Passagiere mit ihrem Gepäck wieder aus. Neun von zehn Koffern und Taschen, die auf Reisen gehen, sind schwarz – unsere natürlich auch. Wenn diese nun am Gepäckband ankommen, stehen die Leute unruhig herum, als warteten sie auf den Bus und bei jedem Koffer, der an ihnen vorbeifährt zucken sie zusammen. Freundlich lächelnde Zöllner überprüfen die Gültigkeit unseres Reisepasses, ein Visum benötigen wir nicht. Willkommen in Tokyo, der Multimillionenstadt.

 

Nichts ist unmöglich: Sightseeing als Abenteuer

 

Natürlich kennen wir Japan – wenn auch nur aus dem Schulatlas. Längengrad, Breitengrad, Meeresspiegelhöhe, Flüsse und Städte. Noch keine Stunde auf japanischen Boden, möchten wir nicht gleich am eigenen Leib erfahren müssen, was es heißt, während der Rushhour mit S-/ oder U-Bahn zu fahren. Orientierungslos im Großstadtdschungel. Der Metro-Plan gleicht einem Schnittmuster. Aber was tun, wenn man noch nicht einmal dieses lesen kann? Ein Taxi kommt für uns nicht in Frage, denn eine Fahrt kostet etwa 250 EURO. Wir haben uns in Deutschland einen Japan Rail Pass besorgt. Dies ist die beste und günstigste Art, um Japan zu bereisen, zumindest auf Langstrecken. Aber Achtung: der Pass kann nicht in Japan erworben werden und er ist auch nur für Personen erhältlich, die Japan als Tourist bereisen.

60 Kilometer trennen uns nur noch von der Zehn-Millionen-Metropole mit über 800.000 dort ansässigen Unternehmen. Es ist 8:30 Uhr, wir sind mitten im Berufsverkehr. Tausende von Menschen auf dem Weg zur Arbeit. Die Bahnen sind so voll, dass ein Mann in Uniform und mit weißen Handschuhen die Menschen hineinquetscht. Wenn es partout nicht mehr geht, zieht er sie wieder heraus. Die Fahrgäste sind still. Niemand spricht. Niemand telefoniert. Niemand nervt seinen Sitznachbarn mit lauter Musik – geht auch gar nicht. Schieben, schubsen, wir können kaum atmen. In Shinjuku, dem größten Bahnhof der Welt, können wir endlich aussteigen. Er gleicht eher einem Kaufhaus mit Gleisanschluss und ist nahezu blitzblank.

Den Kopf gesenkt und keine Schwäche zeigen, so bahnen wir uns den Weg durch die japanischen Menschenmassen. Jetzt bloß nicht Kay im Gewimmel verlieren. Wir wissen nicht, in welche Richtung wir laufen müssen und somit stehen wir schon vor der nächsten Herausforderung. „Erwischt man den falschen Ausgang, muss man kilometerweite Umwege in Kauf nehmen“, lese ich im Reiseführer. Dabei sollten wir laut Beschreibung in einigen Minuten zu Fuß in unser Hotel kommen. Kalter Regen pfeift uns um die Ohren. Für ein erstes unkompliziertes Sightseeing-Programm entscheiden wir uns mit der JR Yamanote Ringbahn zu fahren. Am Knotenpunkt Shinjuku steigen wir ein. Eine Stunde dauert eine solche Entdeckungsfahrt mit 29 überirdischen Haltestellen.

 

Nichts ist unmöglich: TOKIO HOTEL

 

Neue Unterkünfte, so heißt der Ortsteil Shinjuku übersetzt. Beispielloser Service gehört zum guten Ton und daher erwarten die zwei Pagen, die uns auf unser Zimmer Nr. 1268 begleiten, kein Trinkgeld. Sie würden es auch gar nicht annehmen. Dafür hat Lächeln und Verbeugen einen hohen Stellenwert. Der Fahrstuhl setzt sich in Bewegung und öffnet sich für uns leider schon im 12. Stockwerk. Neu ist unser Hotel nicht, aber mit seinen 1.440 Zimmern gehört es zu einem der höchsten Hotels in Tokyo. Bei klarem Wetter, so sagte man uns, könnten wir den 120 Kilometer entfernten Vulkan Fuij-San sehen. Was wir auf jeden Fall haben, der einmalige Blick auf das schöne Rathaus. Mit seinen beiden Türmen erinnert es an die Kathedrale Notre Dame von Paris. Hier wird am Marathontag die Startlinie sein. Noch spät am Abend sehen wir Lichter in den Büros. Mit einem Yukata (Bademantel) stehen wir beeindruckt am Fenster und fühlen uns wie Bill Murray und Scarlett Johansson als verlorene Gäste in Tokyo in dem Film „Lost in Translation“.

 

Nichts ist unmöglich: Pachinko und traditionelles Essen inmitten illuminierter Business-Tempel

 

Die Neugierde und der Hunger treiben uns auf die Straße von Shibuya.  Blinkende Neonreklame und Videoclips auf riesigen Leinwänden, laute Spielhallen, Karaoke-Bars, riesige Bildschirme an den Hochhäusern. Ein Wirrwarr aus Zebrastreifen auf einer der quirligsten Kreuzung der Welt. Wellen von Menschen, die bei Grün auf die Kreuzung branden und sich daran halten bei Rot stehen zu bleiben. Es gibt annähernd so viele Restaurants wie „Pachinko-Tempel“. Mädchen, die unablässig durch Megaphone rufen, sollen Besucher anziehen, was ihnen auch gelingt. Die elektrische Glasscheibe einer Spielhölle lässt uns eintauchen in eine völlig fremde und für uns nicht zu begreifende Welt: Dort sitzen Hausfrauen, Angestellte, Studenten und Rentner Rücken an Rücken in langen Reihen und starren auf hochkant aufgestellte Automaten, durch die Tausende kleiner Metallkugeln schäppern. Durch einen Hebel kann die Geschwindigkeit, in der die Kugeln jetzt durch ein Nagellabyrinth fallen, bestimmt werden. Es ist wahnsinnig laut. Dazu kommt noch japanische Popmusik und Werbedurchsagen. Dichter Zigarettenqualm erschwert das Atmen. Eine skurrile Atmosphäre, vor der man nur fliehen möchte, viele Japaner dagegen unwiderstehlich anzieht. Laut inoffiziellen Schätzungen sollen es 30 Millionen Stammspieler und 20 Millionen Gelegenheitsspieler in Japan geben.

Wieder draußen bietet eine amerikanische Fast-Food-Kette ihre Burger statt mit Ketchup mit Teriyaki an, einer süßlichen Soße auf Sojabasis. Meinen Heißhunger auf Milchreis mit Zucker und Zimt werde ich wohl erst in Deutschland stillen können. Denn für die Japaner ist es eine Ungeheuerlichkeit, den kostbaren Reis mit Milch zu verschandeln.

 
 

 
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