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Laufberichte

Laufreise über das Wolkenmeer

 

Fuorcla da Tschitta und Pass digls Orgels

 

…. so lauten die himmelnahen „Höhepunkte“ des bevorstehenden Abschnitts. Ich habe mich innerlich schon damit abgefunden, dass ich das mit der eindrucksvollen Hochgebirgskulisse heute wohl abhaken kann. Aber Petrus hat offensichtlich ein Einsehen. Just dort, wo die Almwiesen allmählich dem blanken Fels weichen, treibt der Wind die Wolken fort und im gleichen Moment gewinnen die Berge ihre scharfen Konturen und damit ihre Strahlkraft zurück. Da zugleich die Wege nicht mehr ganz so steil sind, wird das Laufen zum wahren Genuss, auch wenn natürlich höhenbedingt das Schnaufen schwerer fällt. Riesige Disteln und gelbe Blüten eines Bodengewächses setzen Farbtupfer in der Felsenwüste.  

Immer mehr mutiert die Umgebung zur Mondlandschaft. Aus riesigen Geröllhalden ragen die steilen, abweisenden Felskämme zu beiden Seiten des Hochtales in bis über 3000 Meter Höhe hinauf. Unaufhaltsam nähern wir uns dieser magischen Grenze. Unser Pfad durchmisst in langen Passagen den bröckeligen Schieferschutt. Bis weit in der Ferne sind die Läufer als winzige bunte Punkte in der schier endlosen Weite und Einsamkeit des Hochtales auszumachen. Weiße Wolkenfetzen umjagen die Gipfel und lassen die Felsentürme noch wilder und unnahbarer erscheinen. Ja, hier wird der Traum vom Berglauf wahr.

Und auf einmal ist sie da. Ein kleines Schild nur weist nach 11 km darauf hin: Fuorcla da Tschitta, die mit 2.831 m üNN höchste Passhöhe unseres Kurses ist erreicht. Direkt vor mir überragt der Piz Ela mit 3.339 m alles. Es ist ein erhebendes Gefühl, auf der windumtosten Passhöhe zu stehen und dieses einmalige und gewaltige Rundumpanorama zu genießen. Wie weggeblasen ist das Gefühl der Anstrengung, stattdessen beherrscht einen nur eines: Gipfelglück.    

Jenseits der Passhöhe setzt sich der Weg in gleicher Weise fort, nur führt der schotterige Pfad nun bis zum Horizont hinab, hin zu einem einsamen Bergsee: dem Lai Grond. Nichts hat dieser mit der Vorstellung von einer Seeidylle gemein, kalt und abweisend wirkt er. Die Schutthalden reichen bis fast an seine Ufer, nur wenig karges Grün gedeiht. Am See vorbei geht es im stetigen Auf und Ab weiter durch den felsigen Talboden, ehe sich hinter einem weiteren kleinen See eine grüne Wand aufbaut. Wie soll es da weitergehen? Bei genauerem Studium der Wand weiß ich es dann. Kleine Punkte bewegen sich darauf langsam empor. Und das sind keine Gämsen.

Supersteil ist der Pfad und stoisch wie ein Muli stapfe ich langsam Schritt für Schritt die Vertikale hinauf. Schon nach kurzer Zeit erscheint der kleine See fast nur noch als Pfütze, dafür reicht der Blick wieder weit in und über die Bergwelt. Der Anstieg endet bei km 14 am Pass d´Ela (2.724 m üNN).

Über einen langen, ockerbraunen Bergkamm geht es auf dem erreichten Höhenniveau weiter. Im eindrucksvollen Kontrast steht dieser Farbton zum Grau der Bergspitzen und der Schutthalden. Wie von Malerhand ergänzen zur Belebung einzelne grün eingefärbte Flächen das Bild. Kein Baum, kein Strauch „stört“ das Berggemälde.

Der langgezogene Kammweg endet vor einem wilden Felshaufen. Und wieder frage ich mich: Wie soll es da weitergehen? Kurze Antwort: Mittendurch. Es folgt der wohl läuferisch spannendste und  anspruchsvollste Part unseres Laufabenteuers. Spaß am Kraxeln und ein gutes Gleichgewichtsgefühl sind gefragt. Der Weg ist gut markiert, dennoch muss letztlich jeder sich selbst überlegen, wie er am besten durch und über die Felsen von Markierung zu Markierung kommt. Jenseits eines kleinen Schneefelds eröffnen sich neue Horizonte. Vor uns türmt sich ein langgezogener Bergkamm mit dem 3.137 m hohen Corn da Tinizong, zu deutsch Tinzenhorn, als markantestem Gipfel. Und auf diesen Berg steuern wir durch das Felslabyrinth geradewegs zu. Vorsichtig und langsam hangele ich mich von Fels zu Fels, andere sind da sehr viel wagemutiger und bewegen sich mehr hüpfend als gehend voran.

Erst unmittelbar unter der senkrechten Felswand des Tinzenhorn endet die Kletterpartie und neben zahlreichen Wegweisern kündet ein Schild: Pass digls Orgels 2.699 m. Warum dieser Pass so heißt, wird schnell klar, wenn man sich die Umgebung anschaut. Denn die zahlreichen Felsnadeln, die sich über uns aneinander reihen, lassen durchaus eine Assoziation zu Orgelpfeifen zu.

 

Sturzflug nach Savognin

 

16 km sind geschafft und fast vier Stunden sind bereits ins Land gegangen. Einfach fantastisch war die Passage über die drei Pässe und dass das Wetter gehalten hat, ein wahres Glück. Umso mehr, als sich just hier wieder die Wolken über mich stürzen und die Berggipfel hinter einem weißen Vorhang verschwinden lassen. Vorstellung beendet. Immer wieder faszinierend ist es zu beobachten, wie rasant sich das Wetter in den Bergen ändert, zum Guten wie zum Schlechten.   

1.500 Höhenmeter stehen auf den folgenden 10 km an, nur dieses Mal downhill. Eigentlich will ich ein wenig Gas geben, will ich doch so viel wie möglich bei Tageslicht zurück legen. Aber daraus wird erst einmal nichts. Der Pfad vom Orgelpass hinunter ist so steil und geröllig, dass ich mich nur vorsichtig vorwärts wage. Und danach ….. ja, da lädt eine kleine rote Insel inmitten eines endlos grünen Meeres zum Verweilen ein, umso mehr, als die Himmelsdusche voll geöffnet ist. Die kleine Insel ist ein rotes Zelt inmitten der Almen, unter dem freundliche junge Helfer ausharren und Wasser und Isotonisches aus großen Kunststofftonnen für uns bereit halten. Wie sie das alles hierher transportiert haben, ist mir ein Rätsel.

Durch die Almen geht es zwar recht flach weiter, aber nun zeigt sich als Tempo-Handicap, dass die schmalen, bisweilen tief in den Boden eingekerbten Pfade im Schlamm versinken und es oft besser ist, direkt durch die triefenden Wiesen zu laufen. So richtig Freude kommt dabei nicht auf und ständig muss ich achten, nicht in einem Schlamm- oder sonstigen Bodenloch hängen zu bleiben.  

Allmählich kommt wieder mehr Leben auf den Almen. Ich meine damit aber keineswegs andere Läufer, denn die haben sich auf dem Kurs schon weit verteilt. Vielmehr grasen zahllose Kühe im satten Gras und beäugen neugierig das, was ihre Ruhe stört. Schon am Start gewarnt wurden wir vor Muttertieren, aber zum Glück bleibt mir die Konfrontation mit einer besorgten Kuh-Mama erspart. Allmählich lichten sich die Wolken und geben den Blick ins noch ferne Surses-Tal frei. Ja, selbst die Sonne schafft es an einigen Stellen, sich gegen die dicken Wolken durchzusetzen. Das Ergebnis ist ein ständig wechselndes, überaus faszinierendes Licht-Schatten-Spiel in den Bergen auf der anderen Talseite.

Als der Pfad schließlich in einen breiten Wirtschaftsweg mündet, kann ich endlich das tun, was ich schon längst vorhatte: Wieder einmal Gas zu geben. Sehr angenehm lässt es sich auf den folgenden Kilometern durch Wiesen und Wälder traben, zumal sich der Weg nicht direkt, sondern in zahllosen Serpentinen gen Tal neigt. Immer mehr gewinnt die Sonne die Oberhand und lässt schließlich auch um mich herum die Natur erleuchten. Einzelne Wolkenkissen harren standhaft über dem Tal, was der Landschaft aber einen zusätzlichen optischen Reiz verleiht.  

Kurz vor 19 Uhr erreiche ich nach 26 km Savognin, auf 1.173 m üNN beiderseits des Flusses Julia gelegen. Gleich drei alte Kirchen bezeugen, dass das alte Dorf aus mehreren Kernen entstanden ist. Gesprochen wird hier noch das rätoromanische Idiom Surmiran. Spannend zu lesen, aber kaum zu verstehen sind für mich die Straßennamen und Gebäudeaufschriften. Im Durchlaufen erhasche ich letztlich nur ein paar flüchtige Eindrücke von dem Dorf.

Über die Julia werden wir zu einer großen Veranstaltungshalle am Ortsrand gelotst. Hier ist einer der Hauptverpflegungsposten entlang der Strecke eingerichtet, unter anderem mit Feldbetten, vor allem für matte T201-Läufer. Diese laufen Savognin gleichfalls an und teilen die verbleibende Strecke mit uns. Auch die Zwischenzeit wird erfasst. In der großen, gut gefüllten Halle genehmige ich mir die erste längere Auszeit. Ein Teller Pasta mit Soße kommt als Abendessen gerade zur rechten Zeit. Ein alkoholfreies Bierchen passt gut dazu. Über einen Beamer riesengroß an die Wand projeziert wird ein Streckenplan, auf dem man genau sehen kann, wo sich jeder einzelne T201-Läufer gerade befindet. Faszinierend. Wer die offizielle Route, aus welchen Gründen auch immer, verlässt, fällt also gleich auf.

 
 

Informationen: Swiss Irontrail
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