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Laufberichte

Nordischer Sommerregen

01.06.13

Km 1 - Pünktlich um 12 Uhr fällt der Startschuss. Die Startblöcke A, B, C und D gehen gleichzeitig auf die lange Fussreise. Wir stehen im D. Erst spazieren wir, fallen in lockeren Trab, nach zwei Minuten erreichen wir die Startlinie rennend, können unsere Stoppuhren starten und kommen im dichten Läuferstrom sofort erstaunlich gut voran. Das Publikum scheut keine Mühe, uns Glück zum Marathon-Vorhaben zu wünschen. „Lycka till“ und „heja, heja“ ruft man uns aus dichten Reihen am Strassenrand, und von einer Brücke herunter zu. Einige Zuschauer sind auf die Felsen am Strassenrand geklettert. Es ist unmöglich nicht von Laufeuphorie gepackt zu werden.

Wir laufen am festlich beflaggten Olympiastadion vorbei und werden nach links auf die Paradestrasse Valhallavägen geleitet. Sie entstand rechtzeitig vor der Stockholmer Ausstellung von 1897 nach Pariser Vorbild. Die erste Zwischenzeit ist 5:33 Min./km. Für einen 4 Stunden Marathon sind 5:40 Min./km nötig. Wir dürfen es etwas gemütlicher nehmen.

Km 2 - Der breite, durch eine Allee zweigeteilte Valhallavägen ist die längste Strasse in Stockholms Innenstadt. Die Läufermasse verteilt sich beidseits der Platanen gut. Wir laufen einen Kilometer lang schnurgerade sanft abwärts. Die Bauchschmerzen sind verschwunden. Der Puls klettert aber höher als mir lieb ist. Kein Lüftchen weht, der Himmel bezieht sich, es ist ungewohnt schwülwarm und der Schweiss tritt schon aus allen Poren.

Km 3 - Am Ende des Valhallavägen werfen wir einen Blick über Ladugårdsgärdet, eine von Stockholms riesigen Grünfächen. Am Scheitel der Rechtskurve steht ein Musik-LKW. Die Ladefläche ist einer Bühne gleich seitlich geöffnet. Beschwingt bewältigen wir beim Hauptsitz des Schwedischen Radios und Fernsehens die ersten Höhenmeter. Dort bläst uns eine Blasmusik den Marsch. Wir rollen hügelabwärts der Innenstadt und dem Wasser entgegen. In Stockholm ist man nie weit davon entfernt. Ein Drittel der Stadtfläche besteht aus Wasser. Das macht den besonderen Reiz dieser Stadt aus. Stockholm ist luftig, der Horizont ist weit.

Km 4 - Wir erreichen den Strandvägen. Der Prachtboulevard mit seinen palastartigen Häusern, der Lindenbaum-Allee und dem Kai am Ufer der Meeresbucht Nybroviken ist eine der feinsten und teuersten Adressen der Stadt. Bis kurz vor 1900 weideten hier die Kühe des Königshofes, Feuerholz wurde mit Segelschiffen angeliefert. Etliche dieser Holzschiffe dienen heute als Hausboote.

Wir wählen die linke Spur, hoffen am Wasser einen erfrischenden Luftzug zu erhaschen. Das Feld ist immer noch dicht. In einer solch eng gepackten Läufermasse sind wir noch nie gelaufen. Wir kommen aber gut voran, zu zweit nebeneinander zu rennen ist jedoch schwierig. Vor lauter Konzentration niemandem vor die Füsse zu treten, haben wir nicht viel Musse, die Aussicht übers Wasser zu geniessen. Die erste Verpflegungsstelle lassen wir aus, obwohl ich Lust hätte, mir einen Becher Wasser über den Kopf zu schütten. Das Gedränge ist zu gross.

Auf der anderen Strassenseite steht das eindrückliche Dramaten, Schwedens Nationaltheater mit der weissen Marmorfassade und den glänzenden, goldenen Verzierungen. Heute sind Stockholms Strassen die Bühne, und wir die Schauspieler, die ein anspruchsvolles Stück spielen. Die Zuschauer sparen nicht mit Applaus. Stehende Ovationen sind uns sicher!

Km 5 - Der Marathon wird gerne als Gelegenheit für ein Strassenfest genommen. Die Zuschauerreihen sind dicht, wir ernten unglaublich engagierten Zuspruch. Wir laufen über den Platz Norrmalmstorg, sehen Stockholms City vor uns liegen. Die grüne Leuchtreklame des bekannten Warenhauses NK dreht sich auf dessen Dach. Unser Kurs führt aber nach links. Ein dichtes Zuschauerspalier und Feststimmung erwartet uns beim Park Kungsträdgården. Der ehemalige Schloss-Gemüsegarten ist heute ein beliebter Treffpunkt mit Terrassen-Restaurants, Springbrunnen, Bänken und Treppen zum Sitzen. Im Sommer werden Konzerte gegeben, und im Winter läuft man auf der beleuchteten Eisbahn Schlittschuh.

Stockholm dehnt sich über 14 hügelige Inseln aus, welche mit 57 Brücken verbunden sind. 12 Mal werden wir von einer Insel zur anderen übersetzen. Die Brücke Strömbron führt uns über das wirbelnde Wasser von Strömmen, die kurze Verbindung zwischen Mälarsee und Ostsee, welche die Schweden Saltsjö (Salzsee) nennen. Fischer angeln hier im sauberen Wasser oft nach Meeresforellen oder fetten Lachsen. Endlich umfächelt uns ein kühlendes Lüftchen. Wir erreichen Stadtsholmen. Hier begann vor einem Viertel Jahrtausend die Geschichte dieser kontrastreichen Stadt.

Keine Minute haben wir Zeit, das Königliche Schloss zu bestaunen. Mit 608 Zimmern ist es das Grösste Nordeuropas. Ein schneller Blick hoch zur Storkyrkan. In der Staatskirche wurden früher die Könige gekrönt. 2010 fand hier die Märchenhochzeit von Kronprinzessin Viktoria und Prinz Daniel statt. Die Tanzgruppe Chilla Pernilla versetzt uns einen Energieschub, wir überlaufen die erste Zeitmessmatte. Alle 5 Kilometer werden weitere folgen.

Km 6 - Auf der Uferstrasse Skeppsbrokajen, bewegt sich der Läuferstrom entlang der pastell- und terracottafarbenen Häuserfront von Gamla Stan, der Altstadt mit ihren gewundenen Gassen. Drüben vor der Insel Skeppsholmen liegt der Dreimaster Chapman fest vor Anker. Das ehemalige Schulschiff ist eine fantasievolle Jugendherberge. Es geht einfach zu schnell! Wir haben nicht genug Zeit, alles zu sehen, geschweige denn zum Verweilen oder den tuckernden Fähren zuzuschauen! Zum Glück werden wir hier noch einmal vorbeikommen! Auf der Nachbarinsel entdecken wir den markanten Freiluft-Aufzug Katarinahissen und die wunderschöne, gelbe Kirche Katarina kyrka.

Leicht ansteigend geht’s auf Slussen zu. Die Schleuse zwischen Mälarsee und Ostsee gab dem Verkehrsknotenpunkt den Namen. Der dichte Verkehr wird über drei Etagen in alle Richtungen geschleust. Sanft aufwärts laufen wir dem Tunnel-Schlund entgegen. Die Stelle ist ein Publikumsmagnet. Von allen Seiten tost uns enthusiastischer Applaus entgegen, während wir ins Verkehrs-Karussel eintauchen. Es wird eng. Der Läufer-Tausendfüssler stockt. In der hallenden Unterführung wird trotzdem übermütig gejohlt. 

Km 7 – Der Tunnel spuckt uns auf die Insel Södermalm aus. Sie ist die Insel der Schauspieler, Musiker und Künstler. Stieg Larssons Romanfiguren Lisbeth Salander und Mikael Blomkvist sind hier zuhause (Krimi-Trilogie Verblendung, Verdammnis, Vergebung). Wir bleiben am Wasser. Karnevals-Tänzerinnen schicken uns auf die lange, flache Gerade Söder Mälarstrand, welche uns Riddarfjärden, der letzten Bucht des Mälaren entlang führt. Ein ganzes Drittel der Marathonstrecke verläuft am Wasser. Wir kommen häufig in den Genuss von zauberhaften Ausblicken.

Vom anderen Ufer grüsst Stockholms mächtiges Rathaus und Wahrzeichen, das Stadshuset. Auf der Spitze des 106 Meter hohen, wuchtigen Turms glänzen drei Kronen, das schwedische Wappensymbol. Schräge Wohnboote und schwimmende Restaurants liegen diesseits des Ufers vor Anker. Über uns thront die ehemalige Münchenbrauerei. Die Luft ist immer noch schwülheiss. Ich frage mich, wie ich diesen Marathon durchstehen soll. Doch nun fallen erste kühlende Regentropfen.

Km 8 - Keinen Meter müssen wir ohne Unterstützung auskommen. Einige Zuschauer haben es sich mit Picknickstühlen bequem gemacht. Gymnasiasten haben ihr Studenten (Abschluss-Fest) an die Strecke verlegt und prosten uns nun fröhlich zu. Viele stehen samt Kind und Kegel trommelnd, rasselnd oder mit Vuvuzela-Tröten tutend am Strassenrand. Ein begeisterteres Publikum haben wir noch nie erlebt! Wir sehen das Ende der langen Gerade und die Ameisenstrasse auf der Brücke Västerbron. Mit einer Linkskurve beginnt der berüchtigte Anstieg zur Westbrücke. Noch intensiverer Zuspruch lässt uns die Rampe erstaunlich leicht bewältigen.

Km 9 - Mit zwei luftigen Bögen verbindet die Västerbron die Inseln Södermalm und Kungsholmen. Hat man den Brückenkopf erst erklettert, sind die meisten Höhenmeter schon geschafft. Die Aussicht ist hervorragend, der Seitenwind erfrischend. Unter uns liegt die grüne Insel Långholmen. Das berüchtigte Gefängnis wurde 1975 geschlossen und ist heute ein Hotel. Wir erreichen die Brückenkrone und geniessen den atemberaubenden Ausblick übers Wasser zum Stadtshuset und nach Gamla Stan. Links erstreckt sich der Mälarsee, einer von Schwedens grössten. Mein Herz hämmert. Ist die Wärme oder die Bauchgeschichte der Grund? Den Beinen geht es zum Glück sehr gut. Wir fliegen mit Sonntagslauf-Geschwindigkeit über die Strecke. Daran kann der Brücken-Buckel nichts ändern.

Km 10 -Mit einer herrlichen Abwärts-Passage erreichen wir die Insel Kungsholmen und tauchen ins Grün des Rålambshovsparken ein. Es ist Zeit Zwischenbilanz zu ziehen. Nach 55:48 Minuten überlaufen wir die 10 Kilometer Marke. Wir sind gut auf Kurs!

Km 11 bis 12 - Bis zum Stadshuset erwartet uns auf Norr Mälarstrand eine zweite lange Gerade. Am Strassenrand und auf jeder Brücke hat es unglaublich viele Zuschauer. Sie geben ihr Bestes und wir sind dankbar, denn wir müssen uns jetzt gegen den Wind stemmen. Der erfrischende Luftstrom ist aber willkommen. Ich lasse keine Dusche aus. In regelmässigen Abständen stehen Ångtvättbilar (Strassenreinigungsfahrzeuge), welche uns mit wohltuendem Sprühnebel erfrischen.

Es zieht sich bis zum roten Backsteinbau des Stadshuset. Weltberühmt ist das Stockholmer Rathaus durch die Nobelfestlichkeiten. Für unser Wohl ist auch gut gesorgt. Zusätzlich zu den 16 Verpflegungsposten, an denen Wasser und Sportgetränke angeboten werden, gibt es Energie-Stationen mit wechselndem Angebot. Vor dem Stadshuset wird Kaffee ausgeschenkt. Über die Stadshusbron verlassen wir Kungsholmen. Die Unterführung zur Insel Norrmalm ist der tiefste Punkt der Strecke.

Km 13 bis 14 - Beim Bahnhof wirkt die Stadt von der Architektur her kühler und nüchterner als auf der übrigen Strecke. Die Zuschauer sorgen für Aufmunterung. „Heja på, bra jobbat, kom igen, jättestarkt” (Hopp, gut gemacht, gib nochmals Gas, riesigstark) tönt es von allen Seiten!

Auf der Torsgatan erklimmen wir den langgezogenen Hügel nach Vasastan. Wien und Paris dienten als Vorbilder für das rechtwinklige Strassennetz und die fünf- bis sechsstöckigen Mehrfamilienhäuser dieses Stadtteils. Beim Vasapark kann man seine Batterien mit Traubenzucker aufladen. Viele greifen daneben, die Strasse ist weiss getupft. Im Park haben sich die begeisterten Fans besonders zahlreich stationiert. Der Marathon ist ein gewaltiges Volksfest. Und die Schweden geniessen ein solches gerne beim Picknick im Park.

 
 

 
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