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Laufberichte

The Thames Path: 100 Meilen von London nach Oxford

01.05.16 Special Event
 

 

Dann wieder ein paar Meilen weiter der nächste Höhepunkt. So unscheinbar wie die Carta, so gewaltig jetzt: Windsor Castle. Schloss Windsor ist das größte und älteste durchgängig bewohnte Schloss der Welt. Die Ursprünge von Windsor Castle liegen in der Zeit Wilhelms des Eroberers. Das Schloss befindet sich mit dem gesamten Windsor-Anwesen im Besitz der Krone und wird durch den königlichen Haushalt verwaltet. Zusammen mit dem Buckingham Palace und dem Holyrood Palace in Edinburgh ist es eine der offiziellen Hauptresidenzen des britischen Monarchen. Die Burg liegt in der kleinen Stadt Windsor. Windsor Castle wird auch als „englisches Versailles“ bezeichnet. Es war stets die offizielle Wochenend-Residenz der Könige und wurde von Königin Elisabeth II. zudem jährlich für einen Monat zu Ostern genutzt. Anlässlich ihres 80. Geburtstags verlegte die Königin ihren ständigen Wohnsitz nach Windsor Castle und hält sich seither nur noch drei Tage pro Woche (gewöhnlich Dienstag bis Donnerstag) zu Arbeitszwecken im Londoner Buckingham Palace auf. Ihre Anwesenheit erkennt man an der königlichen Wappenstandarte auf dem Round Tower, während in ihrer Abwesenheit dort der Union Jack weht. Er weht auch heute, also war Queen Mum auch zu Hause. Ich schaute zum Turm hinauf und sah verschwommen jemanden winken. Vielleicht die Queen?

 

 

Weiter - schon wieder über Wiesen und durch Gras. Ab und zu gibt es geschotterte Wegabschnitte und schöne mittelalterliche Kirchen mit Friedhöfen zu sehen. Apropos Friedhöfe: Nachts sind wir mitten durch 2 solcher Friedhöfe gelaufen. Der Trail verläuft halt so. Die nächste Brücke, die nächste Schleuse. Zwischendurch kurze, heftige Regenschauer. Die Funktionsjacke tut Ihren Dienst. An einer Schleuse höre ich, wie der Schleusenwärter zum Bootsführer sagt: „This is the last operation of today. It is 5 pm.“  Ab jetzt sind die Bootsführer auf Selbstbedienung angewiesen. Alles muss halt seine Ordnung haben. Auch für uns.

VP 3 bei Dorney ist erreicht. 30,5 Meilen, also ca. 50 km sind geschafft. Hier wird auch die erste Zwischenzeit abgespeichert und online gestellt. Meine Frau Martina, die zu Hause ist, ist froh. So erhält sie immer mal wieder ein Lebenszeichen von mir und vergleicht dies mit meiner Marschtabelle. Ich bin voll im Plan, nur 5 Minuten drunter. VP 4 in Cookham und VP 5 in Hurley bei Meile 44 erreiche ich ohne Probleme und auch ohne nennenswerte Sehenswürdigkeiten.

Zwischendurch wieder ein heftiger Graupelschauer und erste Anzeichen einer kalten Nacht. Ansonsten Natur pur und Stille. Wenn man die vielen Graugänse und Schwäne, die viel „Lärm“ machen, nicht zählt. Dann geht die Sonne unter und ich erreiche eine kleine Fähranlegestelle, die sehr idyllisch im Nirgendwo liegt. Dann wird es dunkel und die Stirnlampe und wärmere Kleidung werden angelegt. Es geht Richtung Henley bei Meile 51 also Halbzeit. Henley ist ein Ruder-Zentrum, jeden Sommer findet die Henley Royal Regatta statt, eine der gesellschaftlichen Höhepunkte des Jahres für die englische Oberschicht. Auch die Ruder-Wettbewerbe der Olympischen Sommerspiele 1908 und 1948 wurden auf der traditionsreichen Strecke der Henley Royal Regatta auf der Themse ausgetragen.

Es ist zwar dunkel, aber in der 10tausend Einwohner Stadt tobt das Leben, es ist halt Samstagabend und die Pubs haben lange auf. Wir überqueren die Brücke und sind mal wieder auf der rechten Seite der Themse. Kurz hinter dem Ortsausgang befindet sich der VP. Zeit für mich, die Sachen aus meine Drop-Dose rauszunehmen. Leichte Handschuhe gegen dicke, leichte, nasse Mütze gegen eine trockene und dicke austauschen. Verpflegung einstecken, besonders den Trailmix (Cashewkerne, Schokoflocken und Trockenfrüchte). Dann noch schnell das Isopulver in die Trinkblase einfüllen und Wasser drauf. Immer randvoll, man weiß ja nie. Dann die Pasta Bolognese genießen. Rein damit und  Nachschlag obendrauf. Dann noch ein Kaffee to go  und weiter geht’s. 8 Minuten für alles. Nicht schlecht, aber auch diese Zeit muss man einplanen.

 

 

Jetzt geht es auf die zweite Hälfte und das eigentliche Rennen beginnt. Ich liege genau in meinem Zeitplan und gut 2 Stunden unter der Cutoff Zeit für Henley. Ja, man kann an jeder VP aus dem Rennen genommen werden, wenn man zu langsam ist. Regeln sind Regeln. Also weiter in die Nacht hinein. 16 Teilnehmer haben bereits bei 31 Meilen aufgegeben, weitere 21 schmeißen in Henley das Handtuch. Gründe gibt es viele. Blasen gehören oft dazu, doch der echt harte Trailteil kommt erst noch. Da ich in letzter Zeit vermehrt Probleme mit Blasen hatte, waren meine Füße gut mit Leukoplast versorgt.

Auch in der Dunkelheit laufen, sollte man trainiert haben. Der Tunnelblick durch die Stirnlampe, die Müdigkeit und oft die Bezugspunktlosigkeit auf weiten Wiesen sorgen  dafür, dass man ungleichmäßig läuft oder walkt. Jeder Ast kommt einem vor, wie ein sich bewegendes Tier. Manchmal sind es auch tatsächlich Tiere (z. B.  Ratten) und keine Äste, doch die haben mehr Angst vor uns als wir vor ihnen. Die Kälte nimmt deutlich zu. Mittlerweile sind es Minus 3 Grad und der Boden ist rutschig und mit Raureif bedeckt. Brücken und Schleusentore sind nur sehr vorsichtig zu passieren. Hier zeigt sich, ob man die richtige Schuhwahl getroffen hat. Ich bin mit meinen leicht modifizierten Straßenschuhen recht zufrieden. Spezielle Trail Schuhe nehme ich nur im Gebirge. Meine sind auf langen Strecken viel flexibler.

Wir passieren Reading und Whitchurch ohne viel davon zu merken. Die VPs sind hier in Gebäuden von Ruderclubs untergebracht. Leider immer im ersten Stock. Also rauf und runter. Aber immer gibt es reichlich zu essen und warmen Tee oder Kaffee. Von hier geht es in die Berge. Jedenfalls kamen mir nachts die Hügel wie Berge vor und die Trails waren doch recht glitschig von den Regenschauern. Ab und zu trat man auch in eine Pfütze. Eine Abkühlung, auf die ich gerne verzichtet hätte.

Mittlerweile trage ich drei Langarmshirt und eine Jacke übereinander. Auch eine lange Hose habe ich über meine Radler angezogen. Ich fühle mich wie das Michelin-Männchen. Ich weiß aber auch aus bitterer Erfahrung und aus meiner medizinischen Vorbildung heraus, dass Unterkühlung eines der häufigsten Aussteigskriterien in dieser Phase des Rennens ist. Der Körper ist erschöpft und kann nicht mehr viel Wärme produzieren. Er läuft auf Sparflamme. Das Bufftuch über Mund und Nase sorgt für etwas erwärmte Atemluft. Das hilft ebenfalls.

 

 

Ich erreiche wieder das Themseufer und dann kommen wieder endlose Wiesen. Alles mit Raureif. Jetzt wird es ernst, denn es kommt das beim Traillaufen am meisten gefürchtete Wetter: Nebel. Man sieht echt nicht mehr als 1 bis 2 Meter und es gibt keinen Pfad, nur Wiese. Der Raureif zieht so schnell an, dass man auch keine Spur des voranlaufenden mehr sieht. Läufer habe ich ohnehin schon seit 2 Stunden keinen mehr gesehen. Ab und zu hängt ein rot/weises Band an einem Weidezaun und ich weiß, dass ich noch richtig bin. Ab und zu verfehlt man das Weidegitter und muss sich dann am Zaun Richtung Themse entlangarbeiten. Da ist dann auch irgendwo das Gatter. Endlos erscheint einem die Nacht. Manchmal schwankt man ein wenig, aufgrund der Monotonie die hier einsetzt, aber mir geht es recht gut. Also langsam weiter.

 

 

Bei Meile 71 ist Streatley erreicht und damit die zweite Dropbox. Wieder alles auffüllen und das Reserve Akku für das Handy mitnehmen. Gegen 5 Uhr morgens wird es dann hell. Ein traumhafter Sonnenaufgang. Phantastische Bilder, denn der Nebel hat sich verzogen. Kurze Zeit später treffe ich einen anderen Läufer, Kash Haq, und wir laufen ein paar Kilometer gemeinsam. Die Wiesen werden jetzt sumpfiger und beschwerlicher, die Schuhe wegen des Modders schwerer. Ab und zu geht es über tosende kleine Wasserfälle auf schmalen Metallstegen hinweg. Einige dieser Stege sind über 200 Meter lang. Alles recht abenteuerlich. Über Clifton Hampdon geht es nach Abingdon, VP 12 bei Meile 91. Die freundlichen Helfer begrüßen mich mit den Worten: „From here on is single digit“, also ab hier ist es einstellig, zumindest im Meilenabstand. Ich bin super in meinem Plan. Habe gut 20 Minuten rausgeholt, ohne das eigentlich zu wollen. Das Ziel und die Sollzeit scheinen greifbar nahe.

Übrigens, mein Zeitziel ist 27.50 std. bei 28 Stunden Sollzeit und 28.19 std. persönlicher Bestzeit. Also wie der Engländer sagen würde: High Spirits. An diesem VP gibt es selbstgebackene Muffins, eine Spende der Ehefrau eines teilnehmenden Läufers. Und natürlich Kaffee. Der nächste VP in Lower Radley ist bald erreicht, natürlich mal wieder in einem Ruderclub. Nur von Lower Radley war nichts zu sehen. Mittlerweile bin ich 40 Minuten unter Plan. „Spirits are even higher“. Jetzt nur keinen Fehler mehr machen. Nicht zu schnell, wegen eventueller Krämpfe, achten wohin man tritt und trotzdem den Final Stretch genießen.

Immer noch Landschaft pur. Von Oxford weit und breit nichts zu sehen. Dann endlich ein Schild vom Thames Path: Oxford 2 miles. Das baut auf. Noch ein paar Brücken und immer noch nichts zu sehen.

 

 

Dann endlich: Links von mir sehe ich das Ziel und dann taucht auch schon das Schild auf „Turn left“ und es geht ins Ziel. Nach 26 Stunden und 41 Minuten erreiche ich als 171ster überglücklich das Ziel. Ich erhalte meinen Beltbuckle, also die Finisher-Gürtelschnalle, das ultimative Markenzeichen eines erfolgreichen 100 Milers. Ich bin einfach nur HAPPY. Ich gehe zum Clubhaus, hole mein Dropbag und gehe direkt in die Dusche. Das Ausziehen, besonders der Kompressionsstrümpfe, fällt schwer. Dann endlich die warme Dusche, warme Klamotten und das große „Chilli“ Essen, Erfahrungsaustausch. Gemeinsam erwarten wir den Zieleinlauf des letzten Finishers mit 27.55 std. wird er 207ter. 86 haben es nicht geschafft.

 

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Ein Kamerad nimmt mich mit zum Bahnhof, von dort (Ticketpreis 27 Pfund) geht es mit dem 14.50 nach Paddington. Kein Witz, das war mein Zug! Das verstehen nur Agatha Christie Fans. In Reading umsteigen (zur Erinnerung, das war unsere Meile 58), dann vom Schnellzugbahnhof zum Lokalbahnhof gehen und dann weiter nach London Waterloo fahren. Halbe Stunde Wartezeit. 10 Stationen bis Richmond, wo mein Auto steht. Ich bin doch tatsächlich eingenickt und gerade noch bei Nennung des Namens Richmond wachgeworden. Raus und zum Parkplatz.

Schei…., den Parkplatz kenne ich gar nicht. Hier ist mein Auto nicht. Bin ich richtig ausgestiegen? Jemand gefragt, ob es noch ein Parkhaus geben würde. Nein sagt der. Also wieder in den Bahnhof und den Infomenschen befragt. Der sagt zu meiner Erleichterung ja, aber ich müsste draußen komplett um den Bahnhof rum laufen. Ich also mit meinen Bags drumrum und und hab tatsächlich mein Auto gefunden. Leider zugeparkt. Also Gymnastik und über den Beifahrersitz rein. Dann bezahlen und zu meiner Frühstückspension, die ich im Zug über HRS gebucht hatte.

Auf der Fahrt halte ich bei einem Mac Donalds Drive in an und genehmige mir ein BigMac Menü.  Einfach göttlich nach all den nächtlichen Sandwiches, Powergels und Isogetränken. 1 Stunde später komme ich dann an. Mein Zimmer ist natürlich im ersten Stock. Ich falle einfach nur noch ins Bett und schlafe bis zum Frühstück. Dann geht es weiter zur Fähre und nach Hause. Meine Frau ist glücklich, mich unbeschadet und „siegreich“ wieder in die Arme nehmen zu können. Am nächsten Tag gibt’s dann im Büro für die Arbeitskollegen meinen 100 Meilen Kuchen.

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