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Laufberichte

Oulu Terwamaraton: Ren(n)tierjagd in Nordfinnland

24.05.14

Zweite Runde – Aber wo sind die Gäste hin?


Keine Halbzeiten. Kein Auswechseln. Keine Time-Outs. Laufen ist ein Sport und kein Spiel. Die Gäste sind deshalb auch nicht zum Spielen hier, sondern zum Laufen. Kurz vor KM 20 laufen wir geradewegs auf das Ziel im Raatin Stadion zu, um dann allerdings auf unsere zweite Runde abzubiegen. Die Halbmarathonläufer laufen hier direkt nach der Brücke in das Stadion ein und haben nach 400m das Zieltor erreicht. Waren wir bis hier in bunter Gesellschaft und umringt von Läufern, sind wir nun völlig allein. An der Verpflegungsstelle Raatin sari bei KM 20,7 direkt nach der Abbiegung ist man ganz erstaunt darüber, dass doch noch zwei Läufer auf die zweite Runde gehen und man überhäuft uns mit Rosinen und Squeezy Gels. Die Gruppe um den 5h-Hasen ist nach wie vor hinter uns, ihnen wird man wohl die übrigen Bananen hinterher werfen. Beide Runden (und damit auch die Verpflegungspunkte) sind identisch mit einer Ausnahme. Am Strand von Nallikari müssen wir nun eine extra Schleife und ein paar hundert Meter in Richtung eines Leuchtturms laufen, bei einer Pylone wenden und wieder zurücklaufen. Dann kommt bei KM 24,3 auch schon wieder ein Verpflegungspunkt.

Schon seit längerem werden wir stetig langsamer, bis Christian kurz nach KM 25 gar nicht mehr weiterlaufen will und kann. Er hat Schmerzen in Schultern und Füßen, außerdem ist ihm übel, weil es so warm ist und es trotz der vielen Bäume entlang der Strecke aufgrund des hohen Sonnenstandes keine Schattenabschnitte gibt. Dazu kommt, dass er nichts essen will, weil ihm so schlecht ist und er sich nicht übergeben will.

Ab KM 26 müssen wir gehen, wobei er immer wieder darum bittet, sich hinlegen zu dürfen. Ich habe Angst, dass wenn er erst einmal im warmen Gras liegt, er nicht mehr aufstehen kann, also rede ich weiter auf ihn ein und verspreche ihm eine Pause beim nächsten Verpflegungspunkt. Dieser kommt erst bei KM 31 und als wir den erreichen, lässt sich er sofort ins Gras fallen. Die Sanitäter kommen schon herbeigelaufen, aber als sie uns erreichen, beteuert Christian, dass es ihm gut geht und er weiterlaufen könne. Wir nehmen uns Wasser und gehen ein Stück weiter, wo er sich wieder ins Gras setzt. Nun holen uns der Garmin-5h-Hase und seine Entourage ein. Sie rufen uns noch etwas in Finnisch zu und schon sind auch sie an uns vorbeigezogen. Eigentlich lassen allein die langsamen Läufer die schnelleren Läufer erst so richtig gut aussehen. Gern geschehen.

Während Christian im Gras sitzt, nichts essen oder trinken will und nur darum bittet, aufhören zu können, denke ich darüber nach, was ich tun soll. Ich habe mir wochenlang genau diese Situation vorgestellt und meinen Kopf und meine Füße darauf vorbereitet, auch dann weiter zu gehen, wenn mir alles weh tut, wirklich niemand mehr an der Strecke steht, das Ziel geschlossen ist und ich für den Lauf keine Medaille mehr bekommen würde – iIch habe mir all diese Szenarien ausgemalt und überlegt, wie ich damit umgehen werde. Nur an eins habe ich nie gedacht: Dass Christian derjenige sein könnte, der auf dem Boden sitzt und nicht mehr weiterlaufen kann. Trotz des wenigen Trainings habe ich nicht daran gezweifelt, dass er es schaffen würde. Ich habe ihn immer vor mir ins Ziel laufen sehen.

Ich fange an zu weinen und frage ihn, was ich tun soll. Er weiß, dass ich die Strecke schaffen, ihn gleichzeitig aber nicht hier sitzen und mit den Sanitätern wegfahren lassen würde. Als er wieder aufsteht und wir langsam weitergehen, bin ich ihm dankbar, dass er und nicht ich die Entscheidung getroffen hat, ob wir jetzt hier aufhören oder weitergehen. Ich weiß, dass auch er es ins Ziel schaffen kann und dieses Bild versuche ich ihm jetzt für die nächsten Kilometer darzustellen. So marschieren wir bis zur nächsten Verpflegungsstation bei KM 35,1. Dort gibt immer noch das komplette Menü und ich stecke Bananen und Rosinen ein und versuche so viele Wasserbecher wie möglich zu tragen. Christian fühlt sich besser und wir können zwar noch nicht wieder laufen, aber wir bewegen uns mit 10 min/km langsam in Richtung Ziel.



Immer wieder schaue ich auf die Uhr und versuche auszurechnen, ob wir es bis 6 Uhr schaffen werden. Doch unsere Geschwindigkeit schwankt zu sehr und meine praktisch nicht vorhanden Mathekünste helfen mir jetzt auch nicht weiter. Trotz schmerzender Beine funktioniert Christians’ Doktorantengehirn noch einwandfrei. Er rechnet aus, dass wir – wenn wir so weiterlaufen – 6:15 Uhr ins Ziel kommen würden. Das ist zu knapp, um den Zielschluss tatsächlich zu verpassen und er meint wir müssten die letzten 6 Kilometer mindesten 7 min/km schnell laufen, um es pünktlich zu schaffen.

Viele Menschen – und das ist nicht nur beim Laufen so – geben zu früh auf, weil ihnen ihr Fortschritt zu lange dauert. Ich bin wirklich kein geduldiger Mensch, aber was viele vergessen, ist, dass auch der langsamste Fortschritt sie weiter nach vorne bringt. Denn Fortschritt hat tatsächlich nichts mit Geschwindigkeit zu tun, sondern vielmehr mit der Richtung, in die er geht.

Wir fangen wieder an zu laufen. Schön kann das nicht ausgesehen haben, aber unsere 7min/km-Schritte bringen uns auf diese Weise immerhin weiter und bis zur letzten Verpflegungsstelle bei KM 38,9. Mittlerweile liegen hier keine Menschen mehr am Strand und die Eisstände bedienen die letzten Kunden, während schon Tische und Stühle zusammengestellt werden. Auf der restlichen Strecke begegnen uns außer den eisern ausharrenden Streckenposten kaum noch Menschen und absolut keine Läufer mehr. Die letzte und älteste Läuferin (AK 65-70) hatte uns bei KM 32 eingeholt und erreicht das Ziel nach 5:28 Stunden das Ziel.

Als wir etwa 5 Minuten vor 6 Uhr ins Raatin Stadion einlaufen, ist das Zieltor längst abgebaut und außer Mirja, zwei Mitarbeitern der Timing Firma und dem Moderator, keiner mehr da. Die Tribünen sind völlig verwaist. Sie steht ganz alleine in ihrem Finisher-Shirt an der Bahn und jubelt uns zu. Sie hatte mich bei Kilometer 40 angerufen und gefragt, wo wir sind. Als ich ihr schnaufend sagte, dass wir auf dem Weg und gleich da sein werden, hat sie auf den Moderator und das Team von der Timing-Firma eingeredet und versichert, dass noch zwei Läufer auf der Strecke sind, die es bis 6 Uhr schaffen werden. Man hatte unsere Split-Zeit bei KM 36 gesehen und nicht mehr geglaubt, dass wir noch laufen würden.

Wir biegen um die Ecke und Mirja freut sich bestimmt so sehr wie wir, dass wir es endlich geschafft haben. Wir laufen die letzten Meter auf der Stadionbahn und erreichen nach 5:54 Stunden das Ziel. Der Moderator ruft unsere Namen und gratuliert uns auf Finnisch. Keiner klatscht und es ist auch außer uns niemand mehr da, der ihm zuhört. Trotzdem könnte es kein besseres Ende für diese Party geben: Christian und ich feiern heute nicht nur unseren ersten gemeinsamen Marathon, sondern mit dieser Reise auch seinen 30. Geburtstag und natürlich Mirjas‘ ersten Halbmarathon.

Natürlich feiern wir uns dabei auch ein klein wenig selbst, denn wir sind zwar die Letzten geworden, aber wir haben es geschafft. Und was wir dabei gelernt haben, ist, dass es wirklich okay ist, wenn man aufgeben will – solange man es nicht tut!

 

Info:

 


Höhenmeter/Streckenprofil:

Zielschluss nach 6 Stunden. Insgesamt ~300 Höhenmeter (eigene GPS Messung, da keine Angaben vom Veranstalter) auf ausschließlich asphaltierten Straßen.

Veranstalter und Ausrichter:
Oulu YMCA Ry

Temperatur am Veranstaltungstag:
24°C (gefühlt 30°C und kein Schatten)

Verpflegung:
Kleine Marathonmesse mit Ständen lokaler Sportgeschäfte in der Turnhalle des Raatin-Stadions. Insgesamt 11 Verpflegungsstellen mit Wasser und Iso sowie Bananen, Rosinen, sauren Gurken und bei KM 21 auch Squeezy Gel. Es besteht außerdem die Möglichkeit seine eigenen Getränke abzugeben, die dann an die angegebene Verpflegungsstellen gebracht werden.  

Kosten:
Die Meldegebühr beträgt für den Marathon zwischen 40-55 Euro je nach Meldestufe und 35-50 Euro für den Halbmarathon.

Marathonsieger:
Männer:

1 Ronkainen, Teppo (FIN) 02:37:31
2 Holappa, Jouni (FIN) 02:39:43
3 Ilvesluoto, Jyrki (FIN) 02:53:31

Frauen:
1 Hemminki, Anni (FIN) 02:56:00
2 Hemminki, Elli (FIN) 02:57:27
3 Ahola, Marika (FIN) 02:57:41

Teilnehmer:
332 Finisher (Marathon)/ 32 DNF
1619 Finisher (HM)/ 16 DNF
749 Finisher (10KM)/ 4 DNF

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