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Laufberichte

GP BERN: Bern schlägt Berlin

13.05.12

Unten in der Kurve ist auf der anderen Straßenseite der Bärengraben, dessen ehemaligen Bewohner seit einiger Zeit in der Bärenanlage am Aareufer ein artgerechteres Zuhause bekommen haben.  Das Wappentier von Kanton und Stadt Bern unterscheidet sich vom aufrechten Berliner Bären dadurch, dass er zwar nicht so ordentlich maniküriert ist und auf allen Vieren geht. Aber  er geht auf goldener Straße aufwärts. So wie wir. Nach dem Überqueren der Aare auf der Nydeggbrücke  geht es die Gerechtigkeitsgasse hoch, ein im übertragenen Sinne goldenes Pflaster. Die Lauben geben den Zuschauern etwas Schutz vor dem Regen. Immer wieder halte ich, um Fotos zu machen und ziehe dann wieder an den anderen Teilnehmern vorbei. Stop n’go.

Den nächsten Stopp widme ich in der weiterführenden Kramgassee dem entgegenkommenden Spitzenläufer, Daniel Chebii. Er führt mit großem Vorsprung und findet noch Zeit mit erhobener Hand auf die Anfeuerungsrufe zu reagieren.

Beim „Zytglogge“, wo von links die schnellsten Läufer auf die zwei letzten Kilometer einbiegen, biegen wir rechts ab. Der „Zytglogge“, eines der Wahrzeichen der Stadt, wurde ursprünglich als Stadttor errichtet und nach der Erweiterung der Stadt als Gefängnis benutzt. Nach einer verheerenden Feuersbrunst wurde er als eines der ersten Gebäude der Stadt und mit der Funktion als Uhrturm wieder aufgebaut. Die Abfolge, mit welcher die Figuren jeweils ankünden, dass eine weitere Lebensstunde um ist und eine neue bevorsteht, ist so ausgeklügelt und umfangreich, dass sie nicht im Vorbeigehen bewundert werden kann. Schon gar nicht wenn man sich in einem Läuferpulk befindet. Uhrturm und Gefängnis haben für mich zudem heute keine zusammenhängende Bedeutung im übertragenen Sinn. Ich bin kein Gefangener der Zeit. 1:30 hielt ich bei der Anmeldung für machbar, entsprechend wurde ich in den Startblock 18 eingeteilt und bin trotz meines Touristenprogramms immer noch bei den gleichen Leuten. Vermutlich bin ich mit der Kamera noch mehr Exot als bei einem Marathon, aber ich will genießen und kann das bis jetzt auch.

Über die ebenfalls wie aus einem Guss wirkende Rathausgasse geht es mit Gefälle in die Postgasse und zurück zum stadtseitigen Brückenkopf der Nydeggbrücke und dann hinunter in die Mattenenge. Es ist ein Wechsel in ein neues Sprachgebiet, allerdings nur noch für Liebhaber, die das "Matteänglisch" pflegen, fast eine Art Geheimsprache, basierend auf dem dem Quartier früher eigenen Dialekt. Es ist gewissermaßen ein historischer Vorläufer des vor gut zehn Jahren bei Französisch sprechenden Jugendlichen besonders gepflegten „Verlan“ (von l’envers= umgekehrt). Silben eines Wortes werden in der Reihenfolge vertauscht, ein „i“ vorangestellt und der letzte Vokal in „e“ geändert. Websites zur Übersetzungshilfe und für die Pflege des „Matteänglisch“ gibt es bereits und bevor ich auch diese Sprachvarietät der Schweiz beherrsche, wird es dazu sicher auch ein App geben.

Ich habe vergessen zu zählen, um die wie vielte Musikformation es sich bei der Combo kurz vor dem dritten Kilometerschild handelt. Auch wenn schönes Wetter in anderen Jahren ganz andere Massen von Zuschauern an die Strecke bringt, finde ich den Zuspruch ganz beachtlich. Ich bin mir einsamere Kilometer gewohnt.

Unter der Eisenkonstruktion der Kirchenfeldbrücke ringen ich mit der Kamera und sie mit der Feuchtigkeit. Stecke ich sie in den Regenschutz, beschlägt der Wasserdampf durch die Wärme meiner Hand das Objektiv, lasse ich sie draußen, besteht die Gefahr, dass sie absäuft.  Auch das Bad in den Schuhen ist dem Regen geschuldet, obwohl die Aare in Extremsituationen in der Matte auch schon für mehr als nur nasse Füße gesorgt hat.

Kaum ist der vierte Kilometer richtig angebrochen, steht schon ein Verpflegungsposten mit Wasser und Iso. Auch das, die Dichte der Getränkestellen, ist für einen, der sich Ultras mit Halbautonomie gewohnt ist, reinster Luxus. Klar, würde das Thermometer gleich viel anzeigen wie gestern, wäre es nicht falsch und sehr willkommen. Besonders für die am Limit Laufenden.

Auch auf der kleinen südlichen Schlaufe fällt das Grün auf, in welches die Häuser eingebettet sind. Am „Marzili“, dem sommerlichen Bade-Treffpunkt der Berner, vorbei geht es mit Blick aufs Bundeshaus zurück zur Dalmazibrücke. Über die Herkunft der Namen Marzili und Dalmazi wird immer noch gestritten wird, etwas weniger über Letzteren. Es gibt verständliche Erklärungen, dass er aus Dalmatien entstanden ist, für das linksufrige Pendant ist die Ableitung aus Marseille die plausibelste.

Auf der anderen Seite der Brücke geht es auf dem Dalmaziquai wieder in südliche Richtung, am sechsten Kilometerschild vorbei und unter der Monbijoubrücke hindurch. Vier Kilometer später werden wir über sie wieder zum Stadtzentrum laufen. Ja, Bern ist wirklich ein Bijou, ein Schmuckstück selbst bei solch traurigem Wetter und der Lauf durch diese Perle eine Pracht. Wir laufen quasi mitten in der Stadt und gleichzeitig der Aare entlang im Grünen. Die Steigerung dessen kommt noch beim Dählhölzli. In diesem Stadtwald ist auch der Tierpark mit mehr Platz für weniger Tiere. Solche Beschränkungen braucht es auf der Laufstrecke trotz neuem Teilnehmerrekord nicht. Spätestens an der Steigung dämmert es in der dem Wetter geschuldeten Abenddämmerungsstimmung im Wald dem einen oder anderen, dass er mit seinen Körnern zuvor zu leichtsinnig umgegangen ist. Zudem haben die Tausende von Füßen der Startblöcke vor uns den Naturbelag schon so gepflügt, dass die Traktion auf der Strecke bleibt. Wie ausgebüxte Wildschweine kommen wir  beim Thunplatz aus der städtischen Wildnis. Wer sich bei einem Stadtlauf einmal so richtig vollsauen will, der muss den GP unbedingt im Regen laufen.

Als Kontrast bieten sich die gepflegten Anwesen an, von denen viele der Sitz von Botschaften sind. Es geht nun nicht geradeaus auf die Monbijoubrücke zu, sondern auf einen Schwenk in eine weitere Wohngegend mit höchster Wohnqualität. Kurz vor der Brücke und der 10km-Marke steht wieder ein Verpflegungsposten.

Am linken Aareufer warten die Höhenmeter hinauf zur Altstadt auf die Läuferschar. Der Anstrengung wird mit einer Aufmunterung in Form einer weiteren Steelband und einem erneuten Verpflegungsposten Rechnung getragen. Danach folgen zwei Kilometer zum Kräftesammeln für  das Schlussbouquet. Ein Erholungsfaktor ist die Parkanlage der Kleinen Schanze, mit dem Weltpostdenkmal. Von unserer Strecke nicht einsehbar ist das dem Schweizer Flugpionier Oscar Bider gewidmete Denkmal. Die Figur scheint, die Arme weit ausgestreckt, in die Welt hinaus zu fliegen. Ich würde übertreiben, wenn ich behaupten würde, dass ich von gleicher Kraft und Energie strotze, aber in meiner Rekonvaleszenz geht es nach Wunsch. Noch.

Es geht  auf ebener Straße direkt zum Bundeshaus, diagonal über den Bundesplatz. Statt des roten Teppichs für Volksvertreter oder Regierung ist heute ein blauer für die Bewegten des Landes ausgerollt, die ihren aktiven Beitrag zur Volksgesundheit leisten.

Wenn ihm nicht Tausende von Läufern die Show stehlen, ist das Wasserspiel mit seinen 26 Fontänen als Symbol für die 26 Kantone und Halbkantone der Schweiz das auffallende Gestaltungsmerkmal des Bundesplatzes. Es ist kein künstlerischer Seitenhieb gegen den Regierungs- und Parlamentsbetrieb im Sinne von Augias und Ausmisten (und wenn, dann hätte ich das nun aufgedeckt). Der Grund für seine Erstellung hat nichts damit zu tun. Im Gegensatz zum Land muss der Platz vor dem Bundeshaus eben bleiben. Feste Bauten dürfen darauf keine errichtet werden. Nicht dass der parlamentarische Horizont gleich vor der Haustüre zu Ende ist. Um die weite Fläche auch in der dritten Dimension zu gestalten, wurde vor ein paar Jahren zu diesem Gestaltungsmittel gegriffen. Und wie sich das für die saubere, sparsame  Schweiz gehört, wird das Wasser in einem Kreislauf geführt, wobei vollautomatisch Badewasserqualität sichergestellt wird. Zur Abkühlung braucht sich heute niemand darunter zu stellen. Gestern wäre das anders gewesen.

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