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Laufberichte

Unter Helden beim TransEuropalauf (20. Etappe)

07.09.12

Ein Held ist, laut Wikipedia, eine Person mit besonders herausragenden Fähigkeiten oder Eigenschaften, die sie zu besonders hervorragenden Leistungen, sog. Heldentaten, treiben. Die Taten des Helden können ihm entsprechenden Heldenruhm bescheren. Seine heldischen (auch heldenhaften oder heroischen) Fähigkeiten können von körperlicher Art (Kraft, Schnelligkeit, Ausdauer etc.) oder auch geistiger Natur sein (Mut, Aufopferungsbereitschaft, Einsatzbereitschaft für Ideale oder Mitmenschen).

Heute werden mein Mann Norbert und ich viele Helden treffen: Wir sind Gast beim legendären TransEurope-Footrace 2012.

Es ist halb sechs. Die Nacht ist klar und beschert uns neben einem unendlichen Sternenhimmel kalte Morgenluft. Unter 10 °C ist, in kurzer Laufhose und Shirt, grenzlagig.

In der Halle treffen wir Ria Buiten, meine Heldin Nr.1. Die sonst immer gut gelaunte Frau ist unzufrieden: angeblich sitzt ihre Frisur nicht richtig. Die krausen Haare umrahmen wie eine Löwenmähne ihr schlankes Gesicht. Immer eine Mütze auf dem Kopf ist Gift für eine stylische Frisur. Als gesamt führende Frau (es sind nur noch drei andere dabei), ist sie ein Exot in dieser Männerwelt. Sie hat damit kein Problem. Ihr einziges Problem ist,  den Weg durch die Städte und Ortschaften zu finden. Mit Startnummer 13 ist sie auf dem 12. Gesamtplatz und damit vorne dabei. Trotzdem ist sie unheimlich locker und sympathisch.

Am Start haben sich ca. 30 Läufer versammelt. Bereits zum 20. Mal dasselbe Ritual: aufstehen, frühstücken, Koffer packen, Gepäck in den LKW einladen, starten.

Für uns Etappenläufer ist alles fremd, aufregend – und ziemlich dunkel. Ein akustisches Signal lässt uns aufhorchen. Ingo Schulze (Held Nr. 2), omnipräsenter Organisator des Laufs, verschafft sich Gehör. An einem, nach eigenen Angaben, 25 Stundentag (die Pause wird durchgearbeitet) ist er überall. Diverse Katastrophen gibt es zuhauf. Zu viel Ernst schadet da nur, und so lässt sich Ingo ganz selten aus der Ruhe bringen.

Wie jeden Morgen verabschiedet er seine Läufer persönlich. Punkt 6 Uhr geht es los. Die Etappe von Malmsheim nach Nordstetten ist „nur“ 58 km lang. Mein Plan ist es, den Tag mit den „langsameren“ deutschen Läufern Heike Pawzik und Ewald Komar zu verbringen. Heike (Heldin Nr. 3) ist die einzige deutsche Läuferin. Sie kämpft jeden Tag, ohne eine Chance, je an die Spitze zu laufen. Dasselbe gilt für Ewald (Held Nr.4). Die Läufer hinten im Feld sind immer am längsten unterwegs und haben somit auch noch die kürzeste Pause. Wer es da nicht schafft zu regenerieren, ist ganz schnell draußen.

Nach dem Start geht es hinter den Malmsheimer Sportanlagen auf die Felder. Es ist stockfinster. Einige Läufer haben Licht dabei. Reflexartig versuche ich beim Licht zu bleiben. Auf einer abschüssigen Strecke merke ich, dass ich nicht wie geplant hinten bin. Da dürften nur so 10 Läufer vor mir sein. Hinter mir ist es dunkel. Ich hab nicht den Nerv stehen zu bleiben. Auf keinen Fall will ich das Licht vor mir verlieren.

Langsam gewöhnen sich die Augen an die Dunkelheit. Gott sei Dank laufen wir auf Asphalt, so ist die Sturzgefahr gering. Mit der Zeit wird es heller. Im Feld ist es still. Keine Unterhaltungen, wie es sonst bei Läufen üblich ist. Nur die Schritte der Läufer stören die himmlische Ruhe. Es geht wellig durch ein weites Wiesenland dem Würmtal entlang, nur ab und zu von Büschen und Bäumen begrenzt.

Von hinten kommt ein Läufer. Er ist schon mehrere Etappen mitgelaufen und erzählt, dass er sich gestern richtig verlaufen hat. Einmal nicht aufgepasst, schon war er falsch gewesen. Blöderweise war es die ganze Zeit bergab gegangen. Er musste also alles wieder zurück - bergauf.

Wir erreichen Weil der Stadt. Vor mir läuft schon eine ganze Weile Satoshi Sonoyama, ein japanischer Läufer (Held Nr.5). Er bleibt alle paar hundert Meter stehen und macht Fotos. Ich laufe zu ihm auf und frage, ob die bei dem schlechten Licht überhaupt etwas werden. Er zeigt mir die Ausbeute der letzten Kilometer. Tatsächlich sind seine Bilder richtig gut. Weil ich sein Interesse spüre, mach ich den Reiseleiter. So ein bisschen kenne ich Weil der Stadt und kann dabei gleich mein Englisch üben.

An der Ampel warten wir gehorsam mit einem anderen Läufer auf grün.

Punkt 7 Uhr sind wir in Schafhausen. In diesem Moment ist in Malmsheim der Start für die schnelleren Läufer. Das sind die, die den Lauf gewinnen wollen und auch können. Norbert erzählt mir später, dass Trond Sjavik aus Norwegen (Held Nr. 6), Stéphane Pelissier (Held Nr. 7) aus Frankreich, Robert Wimmer (Held Nr. 8) aus Deutschland und Henry Wehder (Held Nr. 9) Deutscher, der aber in Norwegen wohnt, im 4:00er Schnitt losgebrettert sind. 4:00er Schnitt heißt 4 Minuten für den Kilometer!!!

Stéphane ist der Gesamtführende. Er scheint dieses Jahr in einer phantastischen Verfassung zu sein. Bis gestern hatte er schon 6 Stunden Vorsprung auf Robert, den Zweitplatzierten, herausgelaufen. Robert hat den Transeuropalauf 2003 gewonnen und ist zusammen mit einem Japaner zum dritten Mal dabei. Er sagt selbst, dass er aus eigener Kraft dieses Mal nicht gewinnen wird. Trotzdem kämpft er Tag für Tag um jede Minute. Gestern hatte er einen rabenschwarzen Tag erwischt  und so konnte Trond bis auf knapp 20 Minuten in der Gesamtwertung an ihn heran laufen. Der Norweger kommt nach zähem Anfang immer besser in Fahrt. Am Ende des heutigen Tages wird er mit knapp 2 Minuten an Robert vorbei auf dem 2. Gesamtplatz liegen.

Henry ist bereits seit dem 24. Juli auf Achse. Er startete am Nordkap und will die Strecke vom Nordkap nach Gibraltar in 90 Tagen schaffen. Das sind nach seiner Schätzung 6.466 km. Trotz des erweiterten Pensums liegt Henry auf einem komfortablen 4. Platz, Tendenz steigend. Während also die Führenden im 4:00er Schnitt unterwegs sind, erreichen wir die erste VP bei km 9,2 an der Grafenauer Sporthalle.

Hier steht Held Nr. 10 stellvertretend für das Heer der namenlosen Helfer, ohne die so eine Veranstaltung gar nicht möglich wäre. Bei Eiseskälte und sengender Sonne, bei Regen und Sturm tun sie alles, damit es den Läufern an nichts fehlt. Jetzt z. B. unterhält er mich mit launigen Sprüchen, während er einem japanischen Läufer aus der Jacke hilft. So namenlos sind die meisten der Helfenden aber gar nicht. Oft sind es erfahrene Ultraläufer, die hier professionellen Dienst tun.

An der Sporthalle in Grafenau findet alljährlich im Januar der Dreikönigslauf statt. Nur schwer erkenne ich das beschauliche Tal wieder, in dem jetzt der Nebel hängt. Die Morgenstimmung ist phantastisch.

Ich laufe mit Yasuhiro Asai (Jahrgang 46) und Yoshiaki Ishihara (Jahrgang 45), meine Helden Nr. 11 und 12. Zusammen erreichen wir die 2. VP hinter Aidlingen bei km 23. Marianne Albert und Veronika Möller verwöhnen uns hier mit allem, was irgendwie für Ultraläufer essbar ist. Marianne ist mein Heldin Nr. 13. Als „Mädchen für alles“ muss sie mit sehr wenig Schlaf auskommen, denn ihre Schäfchen brauchen ständig Betreuung. Marianne ist eine Institution - eben unersetzlich.

Wir laufen weiter Richtung Gärtringen. Ich traue meinen Augen nicht: um 8:34 Uhr kommt Trond mit seinen wehenden weißen Haaren von hinten angeflogen. Ich kann gerade noch die Kamera hoch reißen, schon ist er vorbei. Der ist jetzt in eineinhalb Stunden so weit, wie ich in zweieinhalb.

Jetzt heißt es aufgepasst. Eine knappe Viertelstunde später sehe ich Stéphane locker heran traben. Wie immer grüßt er freundlich. Ich bleib gleich stehen, denn da ist schon Robert zu sehen. Das sieht nach hartem Kampf aus, trotzdem lacht er.

Nufringen ist unsere nächste Station. Gedankenverloren laufen wir auf einem kleinen Radweg an der Bahn entlang. Ich merke zu spät, dass Henry eben vorbei gelaufen ist und ich jetzt nur ein Foto von hinten machen kann. Sorry, ich weiß, dass das kein Grund ist einen Läufer anzumeckern. Ist mir halt so rausgerutscht.

Auf dem Radweg an der B14 Richtung Horb überholt mich Peter Bartel mit seinem Roller. Der Held Nr. 14 ist der einzige mir bekannte Ultra-Kickbiker. Er war schon 2009 dabei, wird aber gesondert gewertet. Als ich an der VP 3 ankomme, ist er schon wieder weg. Dafür treffe ich meinen Mann Norbert (Held Nr. 15). Er läuft nämlich den ganzen weiteren Weg mit mir. Und das sind noch 34 Kilometer.

In Herrenberg geht es mitten durch die Stadt, einschließlich Unterführung. Die Streckenmarkierungen sind vorbildlich. Die orange-farbigen Pfeile sind so dicht gesetzt, dass es kein Verlaufen gibt. Hier ein dickes Lob an Held Nr.16, Joachim Barthelmann, den Verantwortlichen für die Strecke. Er fährt morgens vor den Läufern die Strecke ab. Es gibt Pfeile mit Kreide auf Asphalt, Pfeile mit roter Farbe auf Waldboden, und an jeder unklaren Stelle zusätzlich kleine orange-farbige Pfeile in Augenhöhe. Wenn man eine Weile keinen Pfeil gesehen hat, ist man mit ziemlicher Sicherheit falsch gelaufen.

Das passiert uns nämlich hinter Herrenberg. Gänse rechts, Puten links, dann noch Hühner. Ich bin entzückt. Etwa einen Kilometer im nächsten Ort fällt uns das Fehlen der orange-farbigen Pfeile auf. Wir müssen zurück zum letzten Pfeil.

Die japanischen Läufer, die wir vorher überholt hatten, sind sehr verwundert, dass wir Sie eine Stunde später zum zweiten Mal überholen. Mittlerweile ist es recht warm geworden und Schatten ist Mangelware. Außerdem habe ich Hunger. An der VP 4 (km 31,2) gibt es Suppe. Heute steht Reissuppe auf dem Speiseplan. Sie wird von einer japanischen Helferin frisch zubereitet. Der deutsche Helfer preist seine Bratkartoffeln an, die es nach dem Lauf für kleines Geld zu kaufen gibt. Ich freue mich schon darauf.

Wir laufen nach Öschelbronn und dann nach Bondorf. Es ist schon ganz schön heiß und wir sind allein auf der Strecke. Es geht wellig über weite Felder. Schneller als erwartet kommt die nächste VP. Gerade noch laufen wir durch den Ort, dann um eine Kurve und da ist sie (VP 5, km 38,6).

Hier sind wir Gast bei französischen Helfern. Interessiert erkundigen sie sich, wie es uns geht. Norbert ist ein dankbarer Abnehmer der unterschiedlichsten Köstlichkeiten. Ich versuche ausreichend zu trinken.

Beim Verlassen der VP lese ich, dass die nächste VP über 10 Kilometer entfernt ist. Gott sei Dank habe ich meine Trinkflasche dabei, die ich bisher umsonst mitgeschleppt habe. Zuerst laufen wir wieder über ruhige Feldwege an großen Aussiedlerhöfen vorbei. Nach endlosen Kilometern wird der Weg plötzlich steinig. Ich muss gehen, obwohl der Weg eben ist, sonst wäre die Gefahr zu groß, dass ich umknicke. Das ist aber auch das schlimmste Stück der gesamten Strecke.

Punkt 12 Uhr sind wir in Ergenzingen. Der Ort liegt in der Mittagshitze wie ausgestorben da. Auf den Feldern geht es weiter. Wieder folgt ein steiniges Stück. Etwas entfernt auf der linken Seite verläuft die Autobahn und genauso weit entfernt rechts laufen Bahngleise. Ein ICE kommt uns gerade entgegen. Ansonsten ist die Landschaft wie ausgestorben.

Wir laufen ca. 1 km auf der der Straße nach Eutingen. Die ganze Zeit kommen vielleicht 10 Fahrzeuge. Da sehen wir im Straßengraben ein kleines Feld mit Herbstzeitlosen. Kurios, wie diese kleinen Krokusgewächse hier direkt neben der Straße wachsen.

Ganz nebenbei haben wir die letzte VP bei km 49 Kaihata erreicht. Wir genießen die Leckereien in vollen Zügen. Toshiyuki Tsubouchi, erfahrener Japanischer Ultraläufer, ist auch schon da. In langer Hose und langärmligem Shirt trotzt er der Hitze (Held Nr.17). Ich hoffe, er weiß, dass wir nur Etappenläufer sind. Auf den nächsten Kilometern laufen wir mehrmals aneinander vorbei. Eigentlich sind wir Etappenläufer angehalten, mit den Stammläufern zusammen zu laufen, um diese nicht zu demotivieren. Ich will aber ans Ziel. Mir tun die Füße weh und es ist zu warm. Ich kann jetzt nur noch in meinem Tempo laufen.

Es geht durch einen Tunnel. Dahinter verbirgt sich der „Naturhistorische Wanderweg Eutinger Tal“. Plötzlich ist es angenehm kühl. Das enge Tal lässt eine üppige Vegetation gedeihen. Tafeln am Wegrand geben Aufschluss über Besonderheiten der heimischen Pflanzenwelt und der historischen Bedeutung des Tals.

Wir erholen uns von der Hitze, und genießen die feuchte Luft, die unsere trockenen Lungen erfrischt. Von hinten kommt in lockerem Joggingschritt die Japanische Läuferin Kazuko Kaihata (Held Nr. 18). Die gesamt zweite Frau läuft quasi seit 8 Stunden hinter mir und überholt auf den letzten Kilometern. Und man sieht ihr die 1400 gelaufenen Kilometer der letzten 20 Tage nicht an.

Das Tal verbreitert sich und öffnet sich für das kleine Örtchen Waagrain. Hier hat ein Privatmann im  Kofferraum seines Autos eine private Verpflegungsstelle eingerichtet. Ich hab ja meine Flasche und Norbert braucht auch nichts. Bei einem heißen City-Marathon wäre diese VP bestimmt heiß begehrt.

An gepflegten Häusern vorbei erreichen wir den Neckar. Es geht über die Brücke und dann die stark befahrene K4769 hinauf. Zuerst schützt uns noch ein kleiner Seitenstreifen. Als aber auch der endet, sind wir den stark motorisierten PS-Rittern hilflos ausgeliefert. Solange kein Fahrzeug entgegen kommt, weichen die meisten großzügig aus. Aber wehe es kommt auch noch einer von hinten. Das wird dann ganz schön eng. Wir halten uns in ständiger Sprungbereitschaft.
Irgendwann leiten uns die orange-farbigen Pfeile über die Straße auf einen Feldweg. Hier schmückt ein üppiger Bierkrug mit Kreide gemalt den Weg. Irgendjemand malt auf der gesamten Strecke kleine liebevolle Kunstwerke auf die Straße. Mit jedem werden die Läufer angefeuert. Und das hilft tatsächlich.  Man muss unwillkürlich lächeln und freut sich. Dies ist mein Held Nr. 19.

Wir sind in Nordstetten. Es geht nochmal hoch, um eine Kurve, nochmal rum und wir wären fast am Ziel vorbei gelaufen. Auf dem neu gestalteten Festplatz vor dem Nordstetter Schloss ist der Zielbogen aufgespannt. Es gibt sogar Publikum. Weil ja Ingo aus Nordstetten kommt, hatten sich Bekannte gefunden, die hier die Läufer und Gäste mit Bratwurst, Bier und Kuchen versorgen.
Der Erlös kommt einem karitativen Zweck zugute.

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Neben dem Zielbogen sitzt der Zeitnehmer Thierry Poupard. Nebenbei fährt er das Gepäckauto, stellt Zeiten und Bilder ins Netz und hängt Ergebnislisten aus (Held Nr. 20).

Ich freue mich, Robert zu sehen. Der ist natürlich schon geduscht und obwohl auf den dritten Platz gerutscht, gut drauf. Er wollte heute nochmal angreifen. Stéphane, Trond und Henry waren aber einfach zu stark.

Zitat Robert:  „Wer hat schon die Größe und den Mut zuzugeben, dass ein Plan im Moment nicht so aufgeht. Wer schon hat den Mut zu sagen, ja es geht mir nicht gut dabei und es strengt mich an. Immer zählen in unserer Gesellschaft vor allem die Ersten. Wer mich fragt: Jeder, der beim TEL mitläuft, ist einer der ERSTEN. Denn es ist nur wenigen Menschen vorbehalten, so etwas körperlich zu schaffen. Und wer zugeben kann, dass er etwas im Moment nicht schafft, aber weiter kämpft, der ist für mich ganz persönlich der ALLERERSTE. Und so schließe ich den Tag heute mit ‚Ich gebe mein Bestes, und das jeden TAG‘“.

 


 
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