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Laufberichte

Marathon Latina

04.12.11
Autor: Joe Kelbel

Jenseits von Afrika

 

„Rette eine Weihnachtsgans! Flieg nach Süden!“  Absolut geile Werbung einer Fluggesellschaft. Nun mein Marathonmotto! Samstag 5:30 mit dem Fahrrad Richtung Billigflug nach Hahn.

90 km südlich von Rom finden sich die bunten Vögel ein, die es geschafft haben. Hier haben die warmen Winde des Tyrrhenischen Meeres eine traumhafte Dünen-und Lagunenlandschaft geschaffen, die als besonderes Biosphärenreservat dem Schutz der UNESCO untersteht.

An den Küstenstreifen schließt sich ein Kalksteinmassiv an,  welches mit zahllosen natürlichen Grotten durchlöchert ist. 1939 wurde hier der Schädel eines Neandertalers gefunden. Rätselhafte Bauten aus vorchristlicher Zeit beherbergen Mythen und Geheimnisse von Göttern und Helden. Hydrische Systeme und Paläste aus der römischen Epoche zeigen uns, wie gerne sich bereits römische Kaiser hier aufzuhalten pflegten. Palmengesäumte Lust- oder Luftschlößer der Neuzeit gehören dem gerade abgedankten Imperator.

Die Stadt Sabaudia, eine Gründung von Mussolini, liegt umschlossen vom Nationalpark Circeo direkt am  Meer. Die Architektur der Stadt ist seit der Zeit Mussolinis unverändert geblieben, eine Mischung aus wuchtiger Klassizität und Moderne, italienischer Rationalismus. In Saubaudia herrscht bis heute ein Klima der Dankbarkeit gegenüber dem Duce, der die Pontinischen Sümpfe trockenlegen ließ und den Rest mit den vier Küstenlagunen 1934 zum Nationalpark erklärte. Der Lago di Sabaudia ist  zu dieser Jahreszeit Trainingsrevier vieler Kanusport-Nationalteams. Auch der Deutschland Achter ist schon eingetroffen.

Anreise: Billigflug nach Rom (ca. 80 €), das Fahrrad habe ich irgendwo stehengelassen und bin mit Bus nach Hahn. Mit dem Mietauto Richtung Neapel. Dann per Bahn ab Roma-Termini bis Latina (Bahnhof) , weiter mit dem Bus nach Latina (Stadt) und ab Busbahnhof bis  nach Sabaudia. Startgeld 5-25 Euro, je nach Anmeldedatum.

Eigentlich braucht man nur 1 bis 2 Stunden ab Rom, doch wir nicht. Wir, das sind Sabine, die in diesem Bericht nicht weiter erwähnt wird, und ich. Hauptgrund war eigentlich, dass wir keine Ahnung hatten, wohin. Wir sind einfach aus dem Flieger raus und dann  mit dem größten Schwarm bunter Vögel mitgedackelt. Wir hatten ja Zeit, obwohl die, die nicht erwähnt wird . zufällig unbedingt neue Schuhe braucht.  Kreuz und quer durch Italien, irgendwo in den Ruccolafeldern  rausgeworfen. „Angela Merkel pagare“ war nicht die optimale Ausrede für  den fehlenden Fahrschein.

Ein Bus illegaler Erntehelfer aus dem Punjab macht Vollbremsung, rutscht meterweit über die Kreuzung, stellt sich dann quer. Der moderne Pirat kennt keine Gefahr und so entern wir im strömenden Regen dieses rauchende Ungeheuer aus dem Film „Waterworld“. Als wären wir in einem Sketch von Kaya Yanar, so wackeln wir die nächsten 5 Stunden  über Feldwege Richtung Süden, begleitet von  Klingeltönen der Punjab-100 Charts.

Es war Zufall, dass wir genau vor dem blau erleuchteten Mussoliniturm auf der Piazza del Comune in Sabaudia aussteigen. Ungläubig glotzen wir mit offenem Mund, dann kringeln wir uns  auf Kommando vor Lachen: Da hüpft tatsächlich so ein Kanarienvogel in voller Laufausrüstung, Finishershirt mit Startnummer drauf, weißen Handschuhen, Stirnband und Wasserflasche auf dem Platz rum. Wir haben 17 Uhr. Start ist morgen um neun. Im Tränen-Tsunami  fokussiert die Kamera eine irrsinnige Szene von Frodo und Golom.

Prallgefüllter Startbeutel, Finishershirt und Funktionsshirt. Der Wein darf  im Handgepäck die Heimreise nicht antreten, der Arme. Bei der Pastaparty wähle ich die Bohnensuppe, weil da so herrliche große Steinpilzstückchen drin sind. Beim zweiten Teller registriere ich, dass die Stückchen aus fettem, gedörrtem Speck sind. Es gibt Rotwein, aber auch der Weißwein nimmt nicht die Illusion von Steinpilzen.

Das  Hotel La Palma liegt direkt am Startplatz, aber wir haben was Besseres im Blick. Es gibt hier keine Taxies. Die, die nicht erwähnt werden will, quatscht mit weiblichem Charme die Einheimischen an. Die Weiterfahrt ist organisiert, dann tauche ich aus dem dunklen Hintergrund auf.

Direkt an der Lagune, im Parco Nazionale del Circeo  liegt das Hotel Il San Francesco (50-60 €), ein weißes, traumhaftes Gebäude. Es sieht aus wie ein in See stechendes Segelschiff, dessen Segeln sich im Wind blähen. Zahlreiche leuchtend weiße Vorhänge bewegen sich angestrahlt leicht im 20 Grad warmen Wind. Am Kamin sitzt eine Gruppe junger Sportreporterinnen. Der Chef  in gläzender Trainingshose zeigt Filme der Kanuteams und wie man die per Teleobjektiv auf der Lagune erkennen kann.

Die noch weissen Vorhänge vor meinem Hotelzimmer verquirlen dann spät nachts die frische  Lagunenluft  mit der Bohnensuppe und den Steinpilzstückchen, von ferne leichte Musik, von unten das Gelächter der Reporterinnen. So döse ich glücklich hinweg.

Die Sonne und die bunten Vögel wecken mich. Jenseits von Afrika. Blick über die Lagune, ich atme die pralle Luft ein. Ein Blick für Götter auf die Lagune, der pure Luxus.

Traumhaftes Frühstück im schneeweisen Ambiente, es fehlt nur Tania Blixen. An der Lagune:  Fata Morgana von einem schönen, imperialistischen Leben.  In der Ferne  durchschneiden scharfe, blitzartige Kanus das spiegelglatte Wasser in einer  spurlos Narbe.

Die, die nicht erwähnt werden will, organisiert die Fahrt zum Start. Italienische Zuverlässigkeit. Man braucht viel Geduld: „ Wenn nicht heute, dann morgen!“ Panik. Der dritte oder vierte  Kanarienvogel wird  unbarmherzig gekrallt und macht dann den Fahrdienst. 

Der Marathon Latina provincia Trofeo Cittá di Sabaudia, so der offizielle Name, startet und endet  auf der Piazza del Commune Sabaudia. Der Marathonkurs ist theoretisch absolut flach, theoretisch. Es werden  drei Rechtecke gelaufen, ein kleineres durch die Stadt, zwei  größere über die Küstendüne (lithoranische Düne) in den nördlichen Nationalpark. Parallel zur Düne liegen die traumhaften Lagunen.

Wer schon einmal in Italien mit den Gockeln und Paradiesvögeln gelaufen ist, versteht, warum wir, also die, die nicht erwähnt wird und ich, Tränen lachen, die Hände auf die Startnummern gepresst, in leicht gekrümmter Haltung, heimlich wiehernd. Am Start  bremst nur die latente Bohnensuppe die unkontrollierten Lachanfälle.

Nirgendwo ist man sicher, die Welt ist ein Dorf  bunter Vögel, und Wally zum 14ten Mal hier.  Der orangene Vogel, das bin ich, zum ersten Mal. Wir haben uns lange nicht  gesehen. In Italien ist er Deutscher, in Deutschland Österreicher und in Österreich korrekterweise Südtiroler. Und so liegen wir uns wiehernd in den Armen, während ich die Auferstehung der  „Steinpilze“ in einem akuten Lachanfall unterdrücke. Der Start ist italienisch pünktlich „wegen der Fernsehübertragung“, wie Wally ironisch übersetzt.

Wir starten mit den Stracittadinaläufern  (2km) und den Competitivaläufern  (11km, rote Startnummern) gemeinsam. Es geht  durch das „Altstadtzentrum“ mit seiner typischen Architektur des  „Rationalismus“ auf dem 2 km Kurs, dann auf dem 11km Kurs  in einer zweiten, größeren  und  dann dritten, noch größeren  Runde entlang der Küste, des Lago die Paolo und des Lago die Caprolace und  wieder in das Stadtzentrum. Die ersten Kilometer sind von „Mama-Schau-Mal-Rufen“ und kolossaler Aufgeregtheit gekennzeichnet. Weisse Handschuhe winken in die nicht vorhandene Zuschauermenge und kündigen vom Heldentum glitzernder Paradisos. Im Nu bin ich Letzter, der Besenwagen direkt hinter mir. Ich werde ihn und zahlreiche andere Läufer noch oft wiedersehen.

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