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Laufberichte

Marathon Brüssel: Ein Muss für Sammler

01.10.17 Special Event
 

Seit Jahren habe ich mir vorgenommen, einmal beim Marathon in der EU-Hauptstadt Brüssel  mitzulaufen, doch die in der Ausschreibung angekündigte Deadline von 5 Stunden auf einem hügeligen Kurs aktivierte eine Hemmschwelle in mir. Als Marathonsammler komme ich nicht mehr zum Trainieren, doch meine in diesem Herbst Woche für Woche erreichten Finisherzeiten knapp über und unter 5 Stunden machten mich zuversichtlich. Nur wer über seinen Schatten springt und sich was zutraut, der wird reüssieren.

Für einen Wiener führen alle Wege nach Bratislava, Budapest, Prag – wenn man ins benachbarte Ausland will. Brüssel ist immerhin 1100 km entfernt. Inzwischen findet man fast in jeder europäischen Stadt günstige Flugverbindungen dorthin vor.  Von Frankfurt oder Köln kommt man auch mit dem ICE oder Thalys in zwei, drei Stunden schnell und bequem in das Zentrum der mit ihren 18 Regionen insgesamt 1,1 Mio. Einwohner zählenden belgischen Hauptstadt.

Ich habe mich im Ibis Hotel am Gare de Midi (Südbahnhof) eingebucht – die fesche deutsche Zugbegleiterin, die im ICE mein Ticket kontrollierte, checkt mit ihrem Kollegen neben mir an der Rezeption ein.  Mit öffentlichen Verkehrsmitteln – Metro oder Tram – würde ich es jetzt um 17 Uhr 30 nicht mehr zur Expo am Jubelpark schaffen, da diese in einer halben Stunde schließt. Abholen kann man sein Startpaket auch morgen ab 7 Uhr früh.

Das Viertel  hier am Südbahnhof wirkt ziemlich heruntergekommen, es erinnert an Stadtteile in Marseille mit einem hohen Anteil an Menschen aus den sogenannten Maghreb-Ländern.  Da ich mich aber in Brüssel einigermaßen auskenne – beruflich und privat war ich ja schon öfters hier – ist ein Spaziergang in die  ca. 1.3 km entfernte Innenstadt am frühen Abend eigentlich kein Risiko, wenngleich rund um den Bahnhof schwerbewaffnete Polizeieinheiten auf Patrouille sind und die Sicherheitsvorkehrungen seit den Terroranschlägen am Flughafen und in der Brüsseler Innenstadt am 22. März 2016 erhöht wurden. Ich kaufe mir dennoch am Automaten um 7.50 Euro ein 24h-Metroticket, um mobil zu sein.

Wer in Brüssel weilt, kommt an Süßigkeiten und dem Biergenuss nicht vorbei: Im Delirium, eine nach Bier riechende Kneipe, die internationaler Anziehungspunkt für Touristen ist, gibt es angeblich 2000 Sorten zur Auswahl. Ich stehe auf dunkles Bier und bestelle ein Kwak. Ob eine österreichische Marke angeboten wird, hätte ich nachfragen sollen. Bier und Laufsport lässt sich gut vereinbaren. Und da ich auf Süßigkeiten immer positiv reagiere, kaufe ich mir in der Chocolaterie beim Manneken Pis eine Tafel Roi d’or premium, die ich als Ansporn für den morgigen Marathon auffuttere.

Ich fahre  am Renntag bereits knapp nach 7 Uhr zur Expo, die nur einige Hundert Meter neben der Station Merode in einem Zelt neben dem Parc du Cinquantenaire (als „Jubelpark“ im deutschen Reiseführer bezeichnet) untergebracht ist. Der Andrang 20 Minuten vor 8 Uhr ist gering, im Nu bekomme ich meine Startunterlagen, die neben der schönen Nummer 333 mit integriertem Chip auf der Rückseite ein grünes Kopftuch á la Buff, einen Tigerbalsam und ein separat auszufassendes Kurzarmfunktionsshirt in violett – nicht gerade meine Lieblingsfarbe – beinhalten. Zudem nehme ich ein Metroticket für die Rückfahrt nach dem Lauf entgegen, das ich wohl jemandem schenken werde.

 

 

Hauptsponsor des Marathons ist Belfius, eine belgische Versicherungsgesellschaft. Nun bleibt mir eine ganze Stunde, das Geschehen vor dem Marathon zu beobachten – meine Tasche mit Kleidungsstücken werde ich erst knapp vor dem Start zu den dafür vorgesehenen LKWs bringen. Heute herrscht typisches Herbstwetter, am Morgen schon ziemlich frisch, um nicht zu sagen kalt und feucht, regnen wird es laut Vorhersage aber nicht. Ich habe unter dem Langarmshirt noch eine zweite Lage drunter, nämlich das Singlet vom letztjährigen Laibach Marathon. Ob ich meinen zu diesem Zeitpunkt vorgesehenen 42. Marathon in diesem Jahr auch in der slowenischen Hauptstadt laufen werde, ist noch völlig offen. Es gibt genügend Alternativen für jemand wie mich, der fast immer bis zum letzten Tag unentschlossen ist, wo er antreten soll.

Als ich mich umblicke, erkenne ich Harald Wurm, jugendlich aussehender Fünfziger, sub 4-Stunden Marathonfinisher und passionierter Ultraläufer, der heuer den schwierigen Mozart Scenic100 mit 4.600 Höhenmetern in 14:53 h finishte und bei der 10in10-Marathonserie in Bad Blumau mit 44:42 h den dritten Rang im Gesamtklassement belegte. Ein gemeinsames Einstandsfoto ist fast eine Verpflichtung für mich, zumal der Harald immer die sportliche Komponente vor Augen hat und wie man in Wien sagt „ein klasser Bursch“ ist.

Vorbei am Triumphbogen, der nicht wie geplant zum 50. Jahrestag der Unabhängigkeit Belgiens 1880 und für die Weltausstellung gebaut, sondern erst 25 Jahre später vollendet wurde und die Sehenswürdigkeit des „Parc du Cinquantenaire“ ist, begebe ich mich hinunter zur Startaufstellung in Richtung Schumann-Platz, wo sich das „Europaviertel“ mit dem EU-Parlament befindet.

Der Start erfolgt um 9 Uhr, ich stürme los, Scharen ziehen an mir vorbei, auch „betagte“ Typen, die es noch einmal wissen wollen. Die Pacer haben am Rücken eine Flächentrage mit bunt gedruckter Anzeige, auf der z.B. unter 3:30 auch das konstant einzuhaltende Tempo von 4:58 min/km für diese für mich unerreichbare Finisherzeit steht. Auf dem ersten Kilometer entlang der Rue Belliard in westliche Richtung kommt mir das Gefälle entgegen, abwärts zu laufen ist richtig cool. Doch schon bald darauf steigt die Strecke an, ich werde langsamer, weil ich mich nicht anstrengen will – das müsste man aber, will man bei einem langgezogenen Anstieg nicht an Boden verlieren. Der Marathonkurs dreht kurz nach Süden, führt dann in westlicher Richtung auf Kopfsteinpflaster am Palais de Bruxelles, dem Königlichen Palast, vorbei.

Nun geht es in südwestlicher Richtung vorbei am Justizpalast weiter – ich bin richtig beeindruckt, wie gut all jene in Form zu sein scheinen, die nun permanent an mir locker vorbeiziehen. Ich backe kleine Brötchen, eine Zeit um 4:45 wäre fast schon sensationell, sub 5 allerdings muss ich mir zum Ziel setzen, um ja kein Risiko einzugehen, womöglich nicht in die Wertung zu kommen. Für einen Marathonsammler zählt für seine Statistik jeder gefinishte Lauf. Dazu kommt die weite Anreise nach Brüssel, die ich nicht zum Sightseeing angetreten habe. Daher werde ich jetzt ein wenig mitfighten.

Gelegenheit dazu bietet sich auf der Avenue Louise, auf der der Kurs nach einem 90° Dreh gegen den Uhrzeigersinn nun in südliche Richtung führt. Es folgen mehrere Tunnels, mit relativ starkem Gefälle – hinunter bolze ich, hinauf schleiche ich, wobei mich alle wieder einholen, an denen ich mit meinem Vorwärtsdrang abwärts vorbeikam. Von hinten kommt nun der Freund jenes deutschen Läufers nach, der wie sein Pendant in Breslau oder Prag immer mit einem längsgestreiften Ganzkörper-Anzug bei den Marathons unterwegs ist. Viele werden den beiden schon begegnet sein.  Auch Louis Alberto aus Mexiko lächelt mir zu, als er mich wieder erwischt – vor dem Start hat er mich um einen Schnappschuss mit dem Triumpfbogen im Hintergrund mit seinem iPhone gebeten. Und jetzt, wo die Bailli-Tunnels endlich vorbei sind, steigt er aufs Tempo. Aber was soll’s, erstmal sei mir ein Becher Wasser bei der Labe gegönnt.

 

 

Der Kurs führt nun hinein in den Bois de la Cambre, eine bewaldete Grünzone, die in einer Schleife zu bewältigen ist. Das erkennt man an der Absperrung und daran, dass auf der anderen Straßenseite Läufergruppen das Erholungsgebiet wieder verlassen. Nach einem kurzen Abschnitt in dem Wäldchen eilen von hinten die 4:15er heran, noch sind keine 7 km gelaufen. Eilig haben die es, sie laufen mit 6:02 min/km. Bin ich wegen der Anstiege, die auch hier im Bois de la Cambre sicht- und spürbar sind, heute doch langsamer als sonst unterwegs?

Die Schleife im Wäldchen dreht gegen den Uhrzeigersinn, es kommt zu einer kurzen Begegnungszone. Für einen Moment denke ich, dass die Entgegenkommenden, darunter auch der Kollege im Streifenanzug,  gar nicht so weit vorne sind. Doch der Rundkurs beträgt an die drei Kilometer mit zwei Laben dazwischen, die ab der 5 km-Marke nun alle 2,5 Kilometer eingerichtet sind. Zwar sind unzählige freiwillige jugendliche Helfer bei den Versorgungsstellen im Einsatz, doch außer Wasser in Bechern und einem Isogetränk wurde bisher nichts  angeboten.

Die Schleife endet am letzten Abschnitt der Avenue de Flore, gerade habe ich ein Dutzend Läufer/innen auf der Abwärtspassage überholt, nun muss ich kurz austreten – nicht jeder Mann nutzt dafür die am Übergang in die Avenue Loyd George bereitgestellten Dixie-Klos. Als der Kurs dann in die langgezogene wieder leicht ansteigende Avenue Franklin Roosevelt in einem noblen Diplomatenviertel und gehobenen Wohndistrikt einmündet und so nach Südosten dreht, kann ich wieder Boden gutmachen. Bei der 10 km-Tafel zeigt meine GPS-Uhr 63 Minuten an, ich liege passabel in der Zeit.

Wir erreichen von einer Band einbegleitet die 15 Km-Anzeige direkt bei der Metrostation Hermann Debroux. Die Herren Musiker spielen Dixiesound, ich stelle für 20 Meter meinen Laufschritt  darauf ein, der Trompeter zwinkert mit dem rechten Auge, die Zuschauer applaudieren.

17 km sind erreicht, die  erst um 10 Uhr 30 startenden Halbmarathonläufer werden später an dieser Stelle nach links abbiegen. Für uns Marathonis geht es nach rechts in östliche Richtung weiter. Ich hoffe, dass ich vielleicht vor der 4:30er-Gruppe die Halbdistanz schaffe. Doch als ich mich umdrehe, ist diese nur mehr 300 Meter hinter mir. Nach der Abbiegung beim Parc de Woluwe beginnt der Marathonkurs anzusteigen, dank der Fernsicht erkennbar über mehrere Kilometer. Jetzt kommt uns die kenianische Spitzengruppe auf der anderen Straßenseite inmitten einer motorisierten Polizeivorhut entgegen. Die drei Läufer steuern auf die gegenüberliegende 35 km-Anzeige zu, wir hingehen haben noch an die 2 km bis zur Halbdistanz vor uns. Sie liegen 15 Km vor uns und werden wohl mit einer Zeit um 2:10 oder knapp darüber finishen. Für mich zählt die Realität: Nach wenigen Minuten hat mich die kleine Gruppe mit den 4:30er-Pacern, die konstant schneller als ich läuft, eingeholt. Ich lege es aber nicht darauf an, mitzuhalten, ich will meine Kraft für die zweite Hälfte aufsparen. Wir befinden uns längst nicht mehr im französisch sprechenden Kerngebiet von Brüssel, sondern in Tervuren, eine belgische Gemeinde in der Provinz Flämisch-Brabant in Flandern.

Während ich mit 2:16 knapp über den angepeilten 2:15 h nach 21,1 km bleibe, kommen uns nun auf der anderen Seite ständig Läufer aus der Spitzengruppe entgegen, die Finisherzeiten deutlich unter 3 h erreichen werden. Irgendwann ist dann der Anstieg zu Ende, ich kann wieder zulegen, denn es geht nun gut 3 Kilometern ständig abwärts.  Ich überhole ein Dutzend mir inzwischen enteilter Kollegen. Auch Ioan aus Rumänien, gut erkennbar an seinem in den Landesfarben gehaltenen Trikot, überhole ich, ebenso wie die beiden Französinnen – der Wasserspender bei Sandrine ist noch immer prallvoll. Ioan ist inzwischen ein alter Bekannter von diversen Marathons, er ist 65 und die Ruhe in Person. Ich sage scherzhaft „Dracula“ zu ihm, als ich vorbeiziehe – was eigentlich unpassend ist, denn er ist ein Gelehrter mit einem Karl Marx-Bart. Ioan hat keinen Tropfen Schweiß verloren, er wird auch die 5 Stunden-Vorgabe einhalten.

Ich lausche dem Sound einer Dreiermusikgruppe. Lauter Typen in meinem Alter, um die 60 – wie überhaupt bei den zahlreichen Bands kaum Junge mitspielten. Die 3er-Gang gibt Rocco Granatas (einem Belgier mit süditalienischen Wurzeln) Hit „Marina“ aus dem Jahre 1959 zum Besten – den Refrain kann ich auswendig und in Gedanken mitsummen: „O mia bella mora, no non mi lasciare, non mi devi rovinare, oh, no, no, no, no, no.“ Später kamen etliche Coverversionen heraus, u.a. hat auch Caterina Valente diesen Song aufgenommen.  Rocco hat seinen Welthit auch auf Deutsch gesungen.

 

 

Nach Kilometer 23 folgt wieder ein Anstieg, auf der Gegenseite kommt uns die 3:45er-Gruppe  entgegen. Der Marathonkurs auf den folgenden 7 Km führt laut Plan in einer Schleife durch den Park van Tervuren und verspricht eine wellige Topografie. Knapp vor Ende des Anstiegs steht die Gruppe Musicdream und spielt die bekannte Schiwago-Melodie. Aufgrund der Instrumente vielleicht nicht im Klischee des Films im kalten Russland, aber es geht unter die Haut. Gleich danach bleibe ich bei der Labe stehen und nehme endlich auch ein Bananenstück – Rosinen hätte es bei einer Versorgungsstelle davor gegeben. Oben angekommen, biegen wir nach rechts ab, auf einer Begegnungszone geht es für uns nun steil abwärts, während die Läufer/innen auf der Gegenseite sich den Anstieg hinauf quälen. Tervuren ist auch mit der Tram erreichbar, daher haben sich hier auch vereinzelt Zuschauer und Angehörige eingefunden, die verhalten applaudieren.

Für uns beginnt auf diesem Abschnitt die Umrundung einer Seenlandschaft,  wo wir zur 25 km-Marke kommen. Die Marathonstrecke verläuft über aufgebrochenen und teilweise zerbröselnden Asphalt, doch eingebettet in eine Baumallee und inmitten einer schönen Naturlandschaft. Knapp vor der Wende steht eine britische Abordnung von gut einem Dutzend Personen  – der Union  Jack ist aufgespannt, es wird ausgiebig applaudiert.  Ich schreie rüber: „After 2019 you may need a visa for Belgium..:” – Und siehe da: Ein Mann hat eine Tafel dabei, auf der steht: “Exit from Brexit!” Ich bin geläutert, man soll nie vorschnelle Schlüsse ziehen. The British School of Brussels ist in der Nähe, vielleicht sind einige der Fans dort beschäftigt.

Nun überholt mich ein Brite mit einem ManU-Shirt, auf dem Rooney steht. Nur wahre Fans nehmen ihre Lieblinge im Geiste überall hin mit. Wayne Rooney wird so zum Marathonfinisher, eine symbolische Geste, die der Stürmerstar mit vielen Eskapaden außerhalb des Fußballfeldes gewiss nicht ablehnt.

Der Streckenabschnitt entlang dem Keizerinnedreef ist flach, aber ich tu mich schwer, bei Kilometer 27 das Tempo zu erhöhen. So nutze ich die Gelegenheit für einen Stopp und fotografiere auf einer Brücke stehend zu meiner Rechten das Museum für Moderne Kunst mit einer Afrikaabteilung. Am Ende des Seerundwegs geht es für uns nun in nördliche Richtung auf der steilen Passage, die wir vor ca. 30 Minuten abwärts laufend passiert haben, weiter. Ich marschiere die 200 Meter, überhole dabei beim schnellen Gehen gleich drei langsamere Mitstreiter. Auf der linken Seite kommt uns, gefolgt vom Besenwagen, ein Läufer um die 30 entgegen, der so langsam dahinschleicht, dass es sich für ihn nicht mehr ausgehen wird – außer die Veranstalter halten sich nicht an die zeitliche Vorgabe.

Ich habe inzwischen durch eine gewisse Trödelei den Anschluss an das Feld verloren. Aber nun bietet sich auf einer ca. 1 km langen Abwärtspassage wieder Gelegenheit, aufzuholen. Bereits bei Kilometer 29 trennen mich nur mehr 50 m von mehreren Dutzend Läufern im Pulk. Die Band, die vorher „Marina“ spielte, ist dabei, ihren Standplatz langsam. Ich winke ihnen zu und versuche so nahe wie möglich an die Vorhut ranzukommen. Kilometer 30 wird erreicht, die GPS-Uhr zeigt 3:20 an, mein Plansoll bei den meisten Marathons, um unter 5 h zu finishen.

Der Abschnitt auf der Tervurenlaan nun, auf dem ich vor gut 40 Minuten in meinem Element abwärts laufend ein Stimmungshoch empfand, wird jetzt zur Bewährungsprobe. Die dauert drei Minuten, dann kommt die kleine 4:45er-Eskorte unaufhaltsam näher und zieht an uns vorbei. Ich frage mich, wieviel Zeit ich auf den verbliebenen 12 km verlieren werde und darf, um mein Plansoll zu erreichen.

Der Anstieg auf den folgenden Kilometern kostet Zeit, das Guthaben beginnt zu schrumpfen.  So hänge ich mich an eine Dreiergruppe an, hinten kommt ein Läufer nach, der ein Shirt in den bunten fröhlichen Farben Südafrikas trägt. Wir laufen bis zur 35 km-Marke im Pulk. Die restlichen 7 km sollten sich trotz erkennbaren Anstiegs in 59 Minuten gut ausgehen.

Früher hat man mich manchmal gefragt, warum ich bei Marathons mitlaufe und was mir das bringt. Damals als Fünfzigjähriger antwortete ich aus Überzeugung, so eine großartige sportliche Leistung (auf das Alter bezogen) zu vollbringen. Heute fragt keiner mehr nach meinem Befinden – wenn das passiert, würde ich antworten, dass das Dabeisein zu einem Lebensinhalt geworden ist. Es gibt Momente, da spüre ich noch immer das Glücksgefühl. Wie heute, als die Band „Marina“ intonierte oder in Breslau unlängst, als die polnische Hymne gespielt wurde. Bei großen Events mit Tausenden Läufern spürt man den Gemeinschaftsgeist, der animiert und verbindet. Musik dazu berührt die Seele, jeder Mensch hat ein Innenleben, dessen er sich in solchen Momenten bewusst wird.

Jetzt laufen wir stadteinwärts. Ich klatsche mit zwei farbigen Kleinkindern ab, die Mama ist stolz – und beeile mich zu sagen: „Quand ils sont plus âgés, ils vont courir aussi le marathon“. Nahe der Metrostation Montgomery ist dann endlich der Anstieg zu Ende – der freie Blick auf den Triumphbogen in gut einem Kilometer Entfernung lässt erkennen, dass der Kurs von nun an kontinuierlich an Höhenmeter verliert. Ein Schnappschuss einer in schottischer Traditionskleidung mit Kilt aufspielenden Dudelsackgruppe geht sich aus. Dann beginne ich zuzulegen und überhole nun das Trio, das auf dem Anstieg das Tempo vorgab: mein schneller Schritt reichte aus, um ihnen folgen zu können.

Kilometer 38 wird 200 m vor dem Durchlauf durch den Triumphbogen erreicht – ich laufe neben einer Britin. Das kurze Stück auf Kopfsteinpflaster stört mich nicht, denn bald darauf ist der Untergrund wieder Asphalt und die Unebenheiten sind weg. Mit hektischer Stimme verkündet ein  Platzsprecher, der von uns noch einen Kilometer entfernt ist, aber dessen Mikro in voller Laufstärke aufgedreht für einen Höllenlärm sorgt, dass eben Mario Ferri aus Italien mit ihm abgeklatscht habe –„ciao Mario, benvenutto“.  Als wir dann beim Sprecher direkt am Startareal des 5 km-Laufes  und Halbmarathons  vorbeikommen, begrüßt er meine Nebenläuferin mit „Helen – how are you?“  – während ich im toten Winkel bleibe und so die Willkommensmeldung ausbleibt. Sie ist deshalb entbehrlich, weil es noch 2 Kilometer bis ins Ziel am Großen Markt sind und ich dafür mindestens 15 Minuten benötigen werde.  

 

 

Ich überhole Helen alsbald und auf dem Zickzackkurs im letzten Abschnitt noch einige Geher mit der  Coolness, gelassen das allerletzte Stück z.T. auf Kopfsteinpflaster in der Innenstadt von Brüssel anzugehen. Auf beiden Seiten der Absperrung am Grand Place, der mit dem gotischen Rathaus und seiner geschlossenen barocken Fassadenfront als Wahrzeichen der belgischen Hauptstadt Brüssel gilt und in die Liste des Weltkulturerbes der UNESCO aufgenommen wurde, stehen applaudierende Zuschauer. Auch Österreicher sind darunter, die mich aufgrund des kleinen Flaggenaufklebers auf der Startnummer als ihren Landsmann ausmachen. Mit 4:56:00 laufe ich durchs Ziel, die Nettozeit beträgt dann 4:55:24.

Ich bin zufrieden, denn der Marathon durch die EU-Hauptstadt ist aufgrund der vielen Anstiege eine Herausforderung. Als ich dann zwei Honigwaffeln verspeise, kommen nach und nach jene Helden ins Ziel, die ich im Verlaufe Rennens gesichtet und mit ihnen auch gesprochen habe. Die beiden flotten Französinnen sind nicht darunter, wohl aber Helen, der rumänische Schriftgelehrte Ioan und der lächelnde Mexikaner Louis Alberto, der gar nicht gerne vernimmt, dass ich sub 5 geblieben bin.

Die Busse, wo man seinen Kleidersack zurückbekommt, sind 500 m weiter abgestellt. Ioan gratuliert mir, auch seine 5:01 sind eine gute Zeit. Als ich mich dann aufmache, um zu den Duschen am Palais de Midi zu kommen, spießt es sich. Stadtplan habe ich keinen mit, ebenso kein Smartphone mit GPS. Keiner der Helfer kann mir sagen, wie ich da hinkomme. Einen Wegweiser dafür gibt es nicht. Ich gebe auf, spaziere stattdessen zum Großen Markt, vorbei am Manneken Pis, der in einer Konditorei daneben aus Schoko nachgebildet wurde und in der Auslage zu bewundern ist – auf den Wasserstrahl hat man verzichtet. Die Dusche hole ich im Ibis gegen Aufzahlung nach.

 

 

Mein Fazit:

Wer als passionierter Marathonsammler die 28 EU-Hauptstädte (bis zum Ausstieg des Vereinigten Königreiches wird es ja noch etwas dauern) auf seinem Programm hat, kann auf Brüssel nicht verzichten. Ein Ländersammler schon, denn gelaufen wird auch in Antwerpen oder Kasterlee. Ich war einmal beim Louis Memorial Gedenkrennen mitten im Winter, was sich als schwierige Trailstrecke erwies. Der Marathon in Brüssel ist professionell organisiert, mit den Zugaben (Shirt, Buff-Kopftuch und einen Tigerbalsam) ist die gestaffelte Startgebühr bis zu 80 Euro zwar nicht günstig, aber vertretbar. Hätte man statt der entbehrlichen Labestellen nach der 5 km-Versorgung alle 2,5 km verzichtet und stattdessen Cola ausgegeben, wären viele zufriedener gewesen als mit dem Übervorrat an Wasser und Iso in gleichen Bechern, die man nach der Hälfte des Rennens nicht mehr wahrnehmen wollte – so ging es mir.

 

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Die Medaille ist zwar nicht gediegen, aber auch nicht ein Billigprodukt. Die Honigwaffeln im Ziel erfreuten mein Gemüt ebenso wie beim Marathon die zahlreichen Musikgruppen, die Songs aus vergangenen Zeiten zum Besten gaben und wohl bei vielen die Sentimentalität wach riefen. So wellig oder besser, so schwierig die Strecke auf den 42,195 km durch Brüssel ins Umland hinaus und wieder in die Innenstadt zurück auch sein mag, ein Erlebnis ist sie allemal – weil man als Städtetourist in der Regel im Zentrum verbleibt. Beim Marathon bekommt man eine guten Einblick zumindest mit Tervuren in eine Region um Brüssel. Ob ich nochmals in der belgischen Hauptstadt bei einem Marathon antreten werde, ist ungewiss – empfehlen kann ich es aber schon. Am geringen Zuschaueraufkommen dort würde es nicht scheitern, eher an meinen zumeist kurzfristigen Dispositionen zu anderen Orten.

 

Siegerliste bei den Männern:

1. Stephen KIPLAGAT (KEN) – 2:11:44  
2. Kering ERIC (KEN)– 2:14:10  
3. Julius Kiprono TARUS (KEN) –2:17:04  

Ranking bei den Frauen:

1. Christelle LEMAIRE(BEL) – 3:10:42  
2. Annelore SALENS (BEL) – 3:13:07  
3. Pilar MAHAMUD ISIDRO (ESP) – 3:21:04  

1437 Finisher (1231 Herren, 206 Frauen) –  die zeitliche Überschreitungen der vor dem Rennen proklamierten 5h-Dealine wurde großzügig toleriert: Chris Anga Bongo (BEL) wurde mit 05:23:22 Letzter bei den Herren, Abi Dana Lusenge (COG) belegte mit 05:22:02  den letzten Platz bei den Frauen.

 


 
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