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Laufberichte

Grand Union Canal Race von Birmingham nach London

23.05.09

Wo bitte geht’s nach London?

Bin ich überhaupt noch auf dem richtigen Weg? Seit dem Kontrollpunkt bei Kilometer 113 habe ich keine Menschenseele mehr gesehen. Meine Uhr zeigt 1 Uhr morgens. Es ist stockdunkel um mich herum. Nur meine Stirnlampe spendet mir wertvolles Licht. Der helle Mond und die funkelnden Sterne sorgen für eine gespenstische Atmosphäre. Der Wasserweg, dem ich nun schon seit Stunden gefolgt bin, gabelt sich. Dieser Wasserweg ist das dominierende Element bei einem Lauf der besonderen Art. Ich befinde mich beim Grand Union Canal Race, dem längsten jährlich stattfindenden Nonstop Lauf in Großbritannien.

Rückblende. Es ist der 23. Mai 2009, 5:30 Uhr. Ich stehe zusammen mit 86 anderen Läufern in der Gas Street in Birmingham und sehne den Startschuss des Grand Union Canal Race entgegen. 234 Kilometer (145,4 Meilen) liegen vor mir. Ich bin bis dato noch nie so weit am Stück gelaufen. Was wird mich erwarten? Wie lange werde ich unterwegs sein? Trotz dieser kommenden Neuerfahrung bin ich ruhig und freue mich auf die Herausforderung. Ein leichtes Kribbeln verspüre ich dennoch in der Magengegend. Die Sonne scheint schon sehr kräftig für diese Tageszeit und lässt warme Temperaturen für die kommenden Stunden erahnen. Um 6 Uhr erfolgt schließlich der Startschuss. Es geht endlich los!

Ich starte in einem sehr verhaltenen Tempo. Die ersten Kilometer führen auf einem asphaltierten Untergrund links des Grand Union Canals entlang. Auf diesem tauschten schon die aufstrebenden Industriestädte Englands im frühen 19. Jahrhundert ihre Waren aus. Der Fußweg ist nur schmal, es geht eng zu. Immer wieder durchlaufen wir kleine Brücken. Das Läuferfeld zieht sich schnell auseinander. Im Nu bin ich alleine unterwegs.

Vorbei an einsamen Wohnsiedlungen und Fabrikhallen verlassen wir schließlich Birmingham und passieren die ersten Wiesen- und Waldabschnitte. Typisch für diesen Lauf. Nach 30 Minuten Laufen folgen zehn Minuten Gehen. Diese Taktik will ich solange wie möglich beibehalten. Doch dieser vorsichtige, kräfteschonende Beginn hat auch zur Folge, dass ich mich nach gut zehn Kilometern auf dem letzten Platz befinde. Auch eine etwas kräftig gebaute Läuferin hat mich soeben überholt. „Lauf weiter Dein Tempo“, sage ich mir. Über 220 Kilometer kommen noch.

Nach 17 Kilometern folgt schon der erste von insgesamt zehn Checkpoints. Jeder „unsupported runner“ hat bei diesen Punkten die Möglichkeit, seine zwei Gepäckstücke (bis zu 25 Kilogramm) mit Wechselklamotten und persönlicher Verpflegung zu bekommen, die er zuvor beim Start in Birmingham aufgegeben hat. Ich halte mich nur kurz auf, fülle meine Wasserblase und ziehe weiter. Es ist angenehm zu laufen. Schattenspendende Bäume und singende Vögel erzeugen in mir ein Wohlgefühl. Ich komme gut voran. Die Wege wechseln von breiten Wanderwegen über schmale Schotterpisten bis hin zu matschigen Trampelpfaden. Doch eines bleibt immer gleich. Es geht immer dem Kanal entlang.

Ich treffe Christian und Christine, zwei Läufer aus Hamburg. Christine hat erst im vergangenen Jahr mit dem Ultralaufen begonnen und wagt sich gleich an einen solch anspruchsvollen Lauf. Mein Respekt! Christian verfügt bereits über mehr als 20 Jahre Erfahrung im Ultralaufbereich und hat diesen Lauf schon dreimal gefinisht. Mit ihm zusammen laufe ich viele Kilometer.

Hatton, Warwick, Stockton und Braunston, so lauten die nächsten Streckenabschnitte. Die ersten 70 Kilometer vergehen fast wie im Flug. Immer wieder passieren wir imposante und komfortabel eingerichtete Boote, die meist still am Rande des Kanals auf ihre Besitzer warten. Mittlerweile habe ich Platz für Platz gut gemacht. Immer wieder überhole ich Läufer, die sich am Wegesrand ausruhen oder komplett marschieren. Nicht wenige sind schon ganz aus dem Rennen ausgestiegen. Der Samstag neigt sich langsam aber sicher dem Ende entgegen. Es ist kurz nach 21 Uhr, als ich die ersten 100 Kilometer absolviert habe.

Zusammen mit Christian laufe ich dem nächsten Checkpoint entgegen. Dieser ist für mich psychologisch unglaublich wichtig. Über 113 Kilometer habe ich schon zurückgelegt. Bald erreiche ich die Hälfte der Strecke. Zudem ist an diesem Kontrollpunkt ein Zeitlimit zu berücksichtigen, das 19 Stunden beträgt. Meine Uhr zeigt 23:35 Uhr. Ich liege gut in der Zeit. Insgesamt hat man für die gesamte Strecke 45 Stunden Zeit zur Verfügung. Wer länger als 40 Minuten an einem Verpflegungspunkt pausiert, wird aus dem Rennen genommen, so lautet eine weitere Regel. Doch so strikt das Regelwerk auch erscheinen mag, die Helfer und der Organisator bringen einem eine beispiellose Freundlichkeit entgegen. Jeder einzelne Läufer wird liebevoll umsorgt und verköstigt. Die gefüllten Kartoffeln und die gebackenen Bohnen genieße ich in vollen Zügen. Das tut gut! Ich lerne den Wert einer warmen Mahlzeit wieder richtig zu schätzen. Laut Computer habe ich in den vergangenen 17 Stunden fast 7.000 Kalorien verbraucht. Diese gilt es, zumindest ansatzweise, wieder aufzufüllen.

Ich laufe alleine wieder los. Ich brauche nun immer länger, bis ich wieder in meinen Laufschritt komme. Die erste Streckenhälfte hinterlässt ihre Spuren. Eine gespenstische Stille umgibt mich. Keine Stimmen weit und breit. Das dunkle Wasser des Grand Union Canals lässt diese Nacht noch unheimlicher erscheinen. Dann gabelt sich plötzlich der Weg. Wo bitte geht’s weiter nach London? Etwas orientierungslos trete ich auf der Stelle. Auch mein Blick auf die Karte bringt keine Klärung. Mir bleibt nichts anderes übrig als zu warten.

Wie weit bin ich seit dem letzten Checkpoint schon wieder gelaufen? Zwei Kilometer? Drei Kilometer? Glücklicherweise vernehme ich nach ein paar Minuten Stimmen. Gott sei Dank. Zwei Engländer, Christian und Christine erkenne ich. Ich bin dankbar, zu diesem Zeitpunkt des Rennens nicht alleine laufen zu müssen. Die kurzen Dialoge mit Christian und Christine sorgen gerade in dieser Phase des Laufes für eine gelungene Abwechslung.

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