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Laufberichte

Zurück in die Zukunft

12.10.08

Im Jahr 1968 wurde im Großen wie im Kleinen Geschichte geschrieben. Hüben und drüben wurde die Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttert. Dass dabei ein Meilenstein im Leben des kleinen Daniel übersehen werden kann, ist durchaus verständlich, obwohl er bei seiner Mutter ein Schaudern ausgelöst hat.

Es war im Frühjahr. Die Zeichnung des Schulreifetests hatte dem schlecht unterrichteten Psychologen zwar ein verzerrtes Bild des Wesens dieses kleinen Rackers gegeben. Trotzdem wurde ich eingeschult. (Die in gestreiften Einheitspullovern an einem Seil angebundenen Leute waren nicht Verbrecher, deren Darstellung ein trübes Licht auf den kleinen Probanden hätten werfen können, sondern Mitglieder eines Vereins in ihrer Vereinskleidung auf Bergtour. Damit es nicht mehr zu solchen Fehleinschätzungen meines Wesens kommen konnte, entschied ich mich später, mich nicht an Seilschaften zu hängen, sondern mich als Einzelläufer an Bergläufen zu versuchen.)

Abgesehen von ein paar Kleinigkeiten kam das auch ganz gut. Eine davon war der für Lehrpersonen und mich traumatische mathematische Entwicklungsweg, der mich aber nicht hindert, die Zwischenzeiten bei meinen Läufen im Überblick zu halten. Und falls ich es mal nicht schaffen sollte, hätte ich ein schlagendes Argument für die Erfüllung eines Geburtstagswunsches. Die Supercomputer fürs Handgelenk liefern mittlerweile alle notwendigen und unnötigen Daten -auf Durchschnitt gerechnet, extrapoliert, zusammengezählt, umgerechnet und was die Tabellen sonst noch hergeben - die ein Marathoni zum erfolgreichen Beenden eines Laufes braucht. Nur Laufen muss man noch  selbst.

Die andere Kleinigkeit, jene die meine Mutter schaudern ließ, war die, dass ich in all den Jahren meines schulischen Daseins nie eine mir bequeme Sitzposition fand. So lümmelte ich also am ersten Schultag wie beim Chillout in der Lounge auf meinem Stuhl; ein großer Kontrast zu der adretten, dem Gewicht des Anlasses angemessenen Kleidung. Während ich es mir so gut wie möglich wohl sein ließ, war meine Mutter wie auf Nadeln und in steter Furcht, dass es mich in dieser Schieflage vom Stuhl hauen könnte.

Ein halbes Jahr später saß ich immer noch in unveränderter Position – aus mir nicht mehr bekannten Gründen nicht mehr am selben Ort – auf meinem Stuhl. Vom Stuhl gehauen hat es anderenorts andere: Da haben doch tatsächlich ein paar Leute einen Marathon nicht nur für Spitzenläufer organisiert, sondern gleich als Volksmarathon angeboten. In Anbetracht der Studentenrevolten war diese Revolution noch halbwegs verständlich. Viel revolutionärer war das Ansinnen der Veranstalter, diesen Marathon gleich auch für Frauen freizugeben.

Ort des Geschehens war nicht etwa eine Metropole, nein, es passierte in einem beschaulichen Nest in der Provinz. Dort, wo selbst die Kuckucksuhren gemächlicher ticken. Dass viele kamen und wieder gingen, trifft auch auf Laufveranstaltungen zu. In Bräunlingen konnten seither aber jedes Jahr die Namen der Siegerinnen und Sieger in die Marathon-Stele gemeißelt  werden, die im Start- und Zielbereich neben der Stadthalle von diesem Pioniergeist zeugt.
Vierzig Jahre nach der ersten Austragung findet der 41. Schwarzwald-Marathon statt, zu welchem ich erstmals gemeldet bin. Ich mache mich also auf den Weg dorthin, wo 1968 gewissermaßen die Zukunft stattfand.

Erstmals in diesem Jahr ist auch sonst noch jemand aus unserem Lauftreff an einem meiner Marathon-Starts. In der Hoffnung, dass Christian nicht mit der Absicht startet, seine PB unbedingt zu verbessern, beabsichtige ich, die 42 Kilometer mit ihm zusammen zurückzulegen.  Obwohl als Informatiker weit über die mathematische Grundanforderungen hinaus ausgestattet, ist er stolzer Besitzer eines solchen Superdings am Handgelenk, die eine saubere Arbeitsteilung zwischen Denken und Laufen ermöglichen. Ein Grund mehr, mich an ihn zu halten, zumal bei mir noch das Fotografieren dazukommt.

Wollen ist das eine, Können das andere. Mit meinem Felgenschaden, der mir schon in Berlin das Laufen erschwert hat, würde ein nicht vom Marathonvirus infizierter Läufer schon gar nicht an den Start gehen. Ich sehe das etwas anders und entscheide mich, es trotzdem zu versuchen, es dabei  aber ganz gemächlich anzugehen. Womit die bösen Zungen widerlegt sind, die behaupten, ein Marathoni  laufe dauernd zwei Dingen hinterher: der Vernunft und einer neuen Bestzeit. „ Mit der Sollzeit von sechs Stunden wird’s schon klappen“, denke ich mir und reihe mich nicht in Christians Startblock ein, sondern ziemlich weit hinten.

Die Startblöcke platzen aus allen Nähten. Vielleicht hätte man sie etwas weiter nach hinten verschieben sollen, denn die Masse von Läuferinnen und Läufern, die sich da einfinden, haben zwischen den Absperrungen keinen Platz. Das für diesen Sonntag angekündigte schöne Wetter hat zahlreiche Nachmelder hierher gelockt. In dem Gedränge ist aber weder Ungeduld noch Hektik zu spüren. Auch als wir auf die Strecke gelassen werden, warten alle ganz gesittet, bis die Bewegung im Feld bei  ihnen ankommt. So dauert es nach dem Startschuss über zwei Minuten, bis ich die Zeitmessmatten überquere, dafür kann ich von dem Augenblick an mein gewünschtes Tempo laufen.

Es geht zuerst um ein paar Ecken durch das Stadtzentrum, wo wir von zahlreichen Zuschauern angefeuert werden. Auch der Pfarrer und die Messdiener stehen am Straßenrand vor der Kirche und feuern uns an. Den Marathonis, die auch an diesem Sonntagmorgen wieder dem Gottesdienst fernbleiben, gibt dies ein Gefühl von „run thru“-Gottesdienst und ein etwas besseres Gewissen. Wer auf die Aufmunterung von Zuschauern angewiesen ist, der muss sich auf dem ersten Kilometer eine gehörige Dosis reinziehen, denn über den weiteren Verlauf zeigen sich nicht einmal Fuchs und Hase an der Strecke.

Kaum sind wir aus der Stadt draußen, zieht sich die schier endlose Schlange der Marathon- und Halbmarathon-Teilnehmer über das weite Feld hin. Der Schwarzwald zeigt sich hier von seiner unbewaldeten und höchstens leicht welligen Seite. Bernhard Sesterheim - auch er wieder am Start – meint: „Da müssen bei einem Holländer richtige Heimatgefühle aufkommen“. Wie es bei Holländern ist, weiß ich nicht. Dass der Läufer aus Eckernförde an der Ostsee die 1000 Kilometer Anreise in den Schwarzwald wieder auf sich genommen hat, zeigt auf jeden Fall, dass dieser Marathon eine besondere Anziehungskraft hat.

Mit der ersten sanften Steigung nähern wir uns nach fünf Kilometern dem Wald, an dessen Rand wir uns die nächsten zehn Minuten bewegen, bevor wir in ihm verschwinden. Die nächsten über dreißig Kilometer ist er – von wenigen Unterbrechungen abgesehen – die Kulisse dieses Laufs. Immer wieder dringen die Sonnenstrahlen in den lichten Tannenwald und lassen das satte Grün des bemoosten Bodens frisch leuchten. Farn und Laubbäume zeigen in ihren verschiedensten Farbtönen, dass es wohl nicht mehr viele solche, milde Herbsttage geben wird.

In diesem herrlichen Ambiente fliegen die Kilometer einfach vorbei, zumal ich mit Susanne ins Gespräch komme, die den Halben läuft, sich aber gelegentlich die volle Strecke zum Geburtstag schenken will. Bei Kilometer 12 wird unserem Quasseln ein Ende bereitet, da sich hier die Strecken trennen. Im ausgedünnten Feld – den gut 1200 Halbmarathonis standen rund 550 Marathonis gegenüber – komme ich aber bald wieder mit anderen ins Gespräch. Dies tut gut, denn es lenkt mich davon ab, dass nicht nur meine Plantar Faszie schmerzt (allerdings nicht mehr als vor dem Start), sondern durch die Schonhaltung die Außenkante des Fußes ungewohnt stark belastet wird und sich entsprechend bemerkbar macht. Passend zu den Gedanken, die mir im Zusammenhang mit den Beschwerden durch den Kopf gehen, ist auch die Antwort eines jüngeren Läufers auf meine Frage, was ihn dazu bewogen habe Marathon zu laufen: „Dummheit“, so die kurze Analyse. Im Verlauf der weiteren Kilometer präzisiert er aber, dass seine griechische Herkunft gewissermaßen Verpflichtung sei, die Tradition des Marathons fortzusetzen.

Ohne die Kilometerzeiten gestoppt zu haben weiß ich,  in welchem Zeitrahmen ich unterwegs bin, denn ich treffe auf Patric Marquart, der als Zugläufer für 4:30 unterwegs ist. Seine Dienste scheinen heute aber nicht sonderlich gefragt zu sein, die sonst übliche Traube hinter dem Zugläufer bleibt aus. Die Ruhe ist eben eine Charakteristik dieser schönen Strecke.  An der einen oder anderen Weggabelung sind ein paar vereinzelte Zuschauer, ansonsten ist die Stille des Waldes unser Begleiter.  Bei Oberbränd, beim dritten Verpflegungsposten nach 18 Kilometern, spüren wir für ein paar Augenblicke die volle Kraft der Herbstsonne, bevor es auf den guten Waldwegen weitergeht. Kurz nach der Halbmarathonmarke sehe ich ein bekanntes Gesicht. Der Trainer der Schweizer Tischtennis-Junioren und Trainer des Meisterclubs aus unserem Dorf ist mal wieder in einer anderen Sportart unterwegs. Er verlangt also nicht nur seinen Schützlingen etwas ab, sondern in vorbildlicher Weise auch sich selbst.

Irgendwo zwischen zwei Verpflegungsposten überkommt mich ein Hungergefühl sondergleichen. Spontan bietet eine der beiden Damen neben mir einen Teil ihres Notriegels an. Typisch Frau eben. Es ist noch kein halbes Jahrhundert her, da erachtete man Frauen als zu schwach, um einen Marathon durchstehen zu können. Dabei sind sie so stark, dass sie sogar auf ihre Verpflegung verzichten könnten und würden, um dem angeblich starken Geschlecht über die Runden zu helfen. Wer weiß, ob nicht ein solches Erlebnis eines Läufers auf einer Trainingsrunde mit einer Begleiterin in einem dieser Wälder dazu geführt hat, dass man hier vor vierzig Jahren einsichtig wurde und damit der Zeit voraus war, als man Frauen in Bräunlingen  an den Start ließ.

Einen Kilometer vor Unterbränd geht es wieder aus dem Wald heraus auf den kleinen Flecken zu, wo wir wieder angefeuert, verpflegt und mit den urigen Klängen einer Kapelle auf das letzte Sechstel geschickt werden. Rechter Hand glitzert im Gegenlicht der kleine Kirnbergsee und schon sind wir wieder im Wald verschwunden. Knapp vier Kilometer vor dem Ziel gibt es dann wieder die Streckenbeschaffenheit wie am Anfang. Auf Asphalt geht es über das offene Feld zurück nach Bräunlingen. Während ich es bisher bei jedem Verpflegungsposten gemütlich nahm, dehne ich die Pause diesmal etwas aus und gehe auch nachher noch ein Stück. Im Knöchel machen sich die Bänder bemerkbar, denen die zusätzliche Belastung durch das Abkippen des Fußes nicht behagt, wogegen sich die ursprünglichen Beschwerden an der Fußsohle sich in keiner Weise verschlimmert haben.

Ich lasse den schönen Herbsttag nochmals richtig auf mich wirken und genieße das letzte Stück des Weges. Im Hinterkopf habe ich natürlich die Befürchtung, dass mir mein Hausarzt einen Strich durch meine Laufplanung machen wird und es länger als geplant dauern könnte, bis ich wieder am Start stehe.  Von daher ist es vielleicht gut, dass er im Urlaub war und ich ihn erst in der kommenden Woche aufsuchen kann – sonst könnte ich mich jetzt nicht auf einen weiteren Zieleinlauf freuen.

Nach dem Zieleinlauf bringe ich - mit einer schmucken Medaille um den Hals und einem Stück Schwarzwälder Speck unter dem Arm - meinen Flüssigkeitshaushalt wieder ins Lot und halte da und dort noch einen Schwatz mit Läuferinnen und Läufern, die mich auf weiten Teilen der Strecke mal vor, mal hinter, mal neben mir begleitet haben.

Obwohl nur unwesentlich eckiger auf den Beinen als vor dem Start, schätze ich die kurzen Wege zur Gepäckaufbewahrung, zur Ausgabe der Urkunde und zu der modernen Sporthalle, wo nicht nur die Garderoben und Duschen sind, sondern wo es Freitag und Samstag kostenlose Übernachtungsmöglichkeit gab. Obwohl ich davon keinen Gebrauch gemacht habe (für einmal hatte ich eine denkbar kurze Anfahrt), schätze ich dieses Angebot. Man spürt auch sonst, dass die Bedürfnisse der Läufer bekannt sind und darauf eingegangen wird. So ist auch der Aufbau der Verpflegungsposten wirklich durchdacht. Sogar ohne meine Brille zu tragen, kann ich jeweils schon von weitem lesen, was an welchem Tisch geboten wird. Und ein kleines aber wichtiges Detail: Wasser gibt es nach den Bananen und dem Brot, womit gewährleistet ist, dass man beides auch hinunterspülen kann und nicht die nächsten Kilometer mit verklebtem Mund durchstehen muss.

Mit vielen schönen und guten Eindrücken mache ich mich auf die kurze Heimreise und versuche auszublenden, dass es eigentlich nicht vernünftig war, an den Start zu gehen. Heute hätte mich die Vernunft aber eindeutig um ein tolles Marathonerlebnis gebracht.

Der Arzt meines Vertrauens wird in der kommenden Woche meinen Vernunftgrad beurteilen und darüber befinden, ob ich nach dem „Zurück in die Zukunft“  an diesem Wochenende in zwei Wochen in Lausanne das „Vorwärts in die Vergangenheit“ stattfinden lassen kann.

Marathonsieger

Männer

1 Häntzschel, Steffen (DEU)   02:32:23
2 Dörr, Hans-Jörg (DEU)  TV Hatzenbühl 02:38:14
3 Boelaert, Piet (BEL)   02:39:14

Frauen

1 Bartels, Birgit (DEU)   02:59:17 
2 Meiniger, Simone (DEU)  LTG Kaempfelbach 03:05:57
3 Matt, Brigitte (DEU) LG Hohenfels 03:18:54 

 

 

Informationen: Schwarzwald-Marathon
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