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Laufberichte

Als Berlin-Warm-up die Nr. 1

24.09.11
Autor: Joe Kelbel

Berlin brodelt schon. Die Stadt fiebert dem Marathon am Sonntag entgegen. Am Freitag ist das Messegelände am Flughafen Tempelhof noch relativ ruhig. Ich hole die Startunterlagen für Sonntag  und mache mich vom Acker.

Es gibt eine Stadt, die heißt wie das Land: Brandenburg, Brandenburg an der Havel. Die östlichen Arbeitssuchenden in dem Hostel der Stadt (15-30 €) wissen nicht, wie weit Berlin weg ist, dabei kann man die 70 km entfernte Hauptstadt doch quasi riechen. Das Hostel, ein renovierter Plattenbau, ist sehr ruhig, die Zimmer erste Güte, ein Fuchs streift über das Gelände.

Die 70.000 Einwohner-Stadt  lebt von Berlin. Brandenburger arbeiten dort, die Berliner wohnen hier, wo in den alten, mehrgeschossigen Mühlen am Fluss sagenhafte, herrschaftliche Lofts entstehen, sehr beeindruckend. Ansonsten lebt Brandenburg vom Tourismus, denn Venedig ist kein Vergleich zu dieser Welt aus Wasser, Inseln, Jachten und romantischen Ausflugslokalen, die man wunderbar per Boot ansteuern kann. Sport steht ganz oben und wird freudig durch die Behörden gefördert, ob Laufen, Kanu, Segeln oder Eislaufen auf den zahlreichen Seen, die Stadt glänzt mit mehr als 10.000 Vereinssportlern.

Brandenburg a.d.H. ist dem Flächenbormbardement entgangen. Die mittelalterliche, 1000 Jahre alte Stadtbefestigung umgibt eine wunderschöne Altstadt, einen Dom, die Ritterakademie und ein wunderbares Museum im Kloster St Pauli mit prähistorischen Fundstücken wie: das älteste Tragenetz der Welt, das Königsgrab von Seddin, den Bronzehort vom Burgberg Lebus, Reste mehrerer Kultwagen, und Münzschätze aus allen Epochen. Im Dommuseum liegt die Gründungsurkunde von Berlin (1244).

Höchste Erhebung ist der 67 Meter hohe eiszeitliche Marienberg, der seit altersher zentrale Kultstätte verschiedener Religionen war. Die ehemalige Bismarkwarte wurde 1974 abgerissen und durch die moderne Friedenswarte ersetzt. Am Nordhang wächst wohl Deutschlands ältester Weinstock, schon 1173 wurde hier Wein angebaut.

Der Rest des Landes ist flach, sandig und sumpfig. Wald, Heide, karge Landwirtschaft, aber viel, viel Wasser mit zahllosen, schönen Jachten  und eine artenreichen Flora und Fauna  prägen das Landschaftsbild.

Der 1. Scholle Marathon in Brandenburg an der Havel klingt lecker, doch Fisch gibt es dort nicht, „Schorle-Marathon“ wäre mir auch lieber gewesen.

„Die eigene Scholle“ bezeichnet ein Gut-Bürgerliches Wohngebiet, dort, wo die Havel zahlreiche Seitenarme und  Seen bildet. Organisator des Marathons ist Detlef Voigt, zusammen mit der Laufgruppe „Gib alles“ und dem VfL Brandenburg.  Die Auflösung für „Gib Alles“ steht auf den T-shirts der rein männlichen Läufer, eine Aufnahmeprüfung findet wohl aber nicht statt.

Organisator Detlef, genannt „Guru“, erzählt, dass sie nicht geglaubt hatten, daß die Mauer gefallen sei. Seine Frau hat die Pässe genommen, und dann sind sie rüber. Das Begrüßungsgeld haben die beiden für den Start beim Berlin-Marathon eingesetzt. Tränen sind geflossen, als die beiden durchs Brandenburger Tor gelaufen sind. Er zeigt mir die Stadt Brandenburg, den wunderbaren nächtlichen Blick auf den Dom, die großartigen Wehrtürme an der Stadtmauer, die ehemaligen Kasernen der Russen, alle in der hiesigen Backsteinart.

Er habe zwar 8 Jahre russisch lernen müssen, doch niemand hatte Bock darauf, man wollte die englischen Lieder mitsingen, doch Englisch wurde ungern unterrrichtet.

Am nächsten Morgen erzählen mir Läufer, wie sie in den Tagen vor dem Mauerfall eine seltsame Betriebsamkeit gespürt hätten.  Die städtischen Busse seien rund um die Uhr gefahren, als müsste noch etwas erledigt werden, es lag irgendwas in der Luft, als hätten irgendwelche Menschen schon mehr gewusst.

Es hat sich viel getan in Brandenburg a.d.H., die Stadt kann sich mit Stralsund oder Rostock messen. Die roten, repräsentativen Backsteingebäude sind  dank Soli herrlich renoviert, gemütliche Restaurants und narbenlose Strassen, Blumen, Glas  und Licht in der Altstadt. Es gefällt mir hier sehr gut.Berühmtester Sohn der Stadt ist Loriot.

Start und Ziel ist bei der Turnhalle Wilhelmsdorf, Brandenburg. Anmeldung notfalls direkt vor Ort, Bezahlung sowieso. Die Turnhalle wird gerade außen renoviert. Doch warme Duschen funktionieren.

Es werden 4 Runden a 10,54875 km mit  2 Verpflegungsstellen gelaufen, über sandigen Waldboden. Das Startgeld von 10 Euro, incl. Gulaschsuppe, Bier, Laufverpflegung mit Kuchen, Trockenfrüchten, Iso, Wasser u.a, Urkunde und Medaille gibt eine echte Alternative zum Berlin Marathon. Wer weniger laufen will, zahlt 2,50 pro Runde.

Beim ersten Scholle Marathon der Geschichte treten  73 Läufer an, darunter etwa 40 Marathonläufer,die schon oft genug in Berlin gelaufen sind, das hohe Startgeld der Hauptstadt meiden wollen,  lieber in freier, ruhiger Natur laufen oder, die so wie ich, einfach nicht genug bekommen können.

Mit meinem 149ten Marathon und mehr bin ich nicht der Verrückteste, denn Lothar läuft heute Nr 320. Ich hatte die weiteste Anreise, doch mein Ruf eilte mir voraus und so bekomme ich die Nr 1.

Punkt neun Uhr gebe ich den Startschuss, befinde mich augenblicklich im Schlußfeld der Läufer, ich kann ja schließlich die Pistole nicht einfach in den Wald werfen.

Die Ausschreibung sagt ausdrücklich, daß der Text der brandenburgischen Hymne (“märkische Heide, märkischer Sand“) wörtlich zu nehmen ist, doch der Sand ist fest, der Weg ist schattig und flach. Ein reiner Landschaftsmarathon, wunderbar für Anfänger geeignet.

Am idyllischen Sandfurthgraben geht es durch lichtdurchfluteten Wald. Der Graben wurde im 18. Jh. angelegt, so konnte man Holz zum Flüßchen Plane flößen. Es ist sehr ruhig, die Sonne, die langssam durch das Blätterdach dringt, wärmt ein wenig. Es ist ein wahrhaftiger Genusslauf. Pilzsammler haben die Hände voll mit Maronen und Steinpilzen, der Neustädter Forst ist voller Reichtümer.

Der Autobahnsee hat einen unpassenden Namen, hat aber glasklares Wasser und ist bei Tauchern unnd Anglern sehr beliebt. Es gibt Hechte, Barsche, Plötzen, Muscheln und Kaulquappen. Auf dem See ein Fischer, der Reusen auslegt. Bei jeder Runde frage ich die Angler, ob sie Sport machen würden. Ich glaube die machen Diät, denn heute wird nichts beißen.

Hier wurde eine Wasserstation für uns angelegt, wird aber kaum benötigt, denn es ist nicht weit bis zum ersten Verpflegungspunkt an der Neuen Mühle. Dicke schwarze Raupen wandern über die Laufstrecke, Blindschleichen huschen durch das trockene Laub, manchmal kann man sie blinzeln sehen.

Die „Neue Mühle“ ist heute ein Ausflugslokal, liegt an der kleinen Buckau, die in den Breitlingsee, einem der größeren Havelseen mündet. Das Wehr, das die Buckau an der „Neuen Mühle“ anstaut, wurde für den Antrieb eines Mühlrades errichtet, welches sich am alte Mühlenturm  befand. Heute reguliert das Wehr den Wasserstand der Fischteiche. Ein lohneswerter romantischer Anblick, am besten mit Boot und Angel auf dem Breitlingsee bis Malge, Boot festmachen und über Diebesgrund hierher wandern. Auf der dritten Runde laufe ich den kleinen Abstecher dorthin. Sehr romantisch.

DJ Schocker bekommt ein bisschen Ärger mit dem Mühlenbesitzer, der will nämlich seine Mittagsruhe, dabei sind die neuvertonten 70er Jahre Hits nicht schlecht für die Laufstrecke in den lichten, grünen Wald, über grasigen Weg. Das macht richtig Gaudi.

Die zweite Verpflegungsstation ist im Start/Zielbereich, auch hier mit Musik und Moderation. Es ist ein Lauf von Läufern, für Läufer, einfach klasse. Normalerweise esse ich keinen Kuchen, aber der hier ist frisch und lecker. Das Bier wird mir förmlich hinterhergetragen. Ha! So muss das sein!

Mehr als 100 Jahre waren sie verschwunden, die Wölfe, nun sind sie wieder hier. Ich habe genug Zeit um mit dem Förster zu quatschen, während der kleine Rauhaardackel meine Füße beschnuppert. Ja meine Nike-Free haben schon viele Geruchs-Geschichten zu erzählen.

Und wieder eilt mir mein Ruf vorraus, denn in der dritten Rund will die Oberbürgermeisterin unbedingt ein Foto mit mir zusammen machen. Das ist mir in Frankfurt noch nie passiert, unterstreicht aber, wie hochgeschätzt der Sport hier in Brandenburg a.d.H. ist.

Die Medaille ist witzig, weil sie teilweise durchlöchert ist. Dieselben Jungs veranstalten auch den Brandenburger Teammarathon, da muss man sich die Medaille  mit seinen zwei Mitläufern teilen.

Der Schollemarathon wird auf jeden Fall nächstes Jahr wiederholt, denn er ist einfach zu gut.

Das sind die Läufe, die ich liebe: unkomplizierte Orga, liebe Laufkollegen, die mir die An-und Abfahrt und die Zeit hier hilfreich erleichtern, wunderbare Natur, einfach ein glückliches Laufen und neue Freunde kennengelernt.

In den frühen Morgenstunden werde ich sie wiedertreffen, wenn wir Richtung Berlin, zum brodelnden Marathon fahren werden. Danke! Bis morgen.

 

 

Informationen: Scholle-Marathon
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